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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Codewort "Trachtenfest" Im Stasi-Bunker für eine Nacht
25 Jahre nach dem Mauerfall lebt die DDR im Thüringer Wald fort: Zumindest eine Nacht lang in einem ehemaligen Stasi-Bunker. Die Besucher schlüpfen in NVA-Uniformen, lassen sich herumkommandieren und proben Gas-Alarm. "Reality-Erlebnis" oder "Grusel-Entertainment"? Wie so ein Tag aussieht, präsentieren wir Ihnen auch in unserer .
Die Sirene ist unerbittlich. Ihr schrilles Heulen wälzt sich durch die engen Gänge des Bunkers, schiebt sich unter die klammen Bettdecken und unterbricht das beharrlichste Schnarchen. "Morgen, Genossen!", schallt es im zackigen Kommandoton durch den Raum. "In fünf Minuten antreten zum Frühsport!" Kein Sonnenstrahl oder Vogelzwitschern dringt aus dem Wald durch die dicken Betonmauern. Nur der Blick auf die Uhr verrät: Es ist 7.30 Uhr. Schlaftrunken rollen sich knapp 20 Männer und Frauen von ihren harten Pritschen. Mit strubbeligem Haar und kleinen Augen streifen sie die grüngrauen Uniformen der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR über: Mit Hammer, Zirkel, Ährenkranz auf Koppel und Schiffchen.
Einst ideales Versteck für den Geheimdienst
Gut 13 Stunden ist es her, dass sie ihre normale Kleidung gegen verwaschene Uniformen tauschten, bei herrlichem Sonnenschein angetreten sind und seither dem "Genossen Major" unterstehen. Sie seien einberufen worden, um diesen Bunker "wachtechnisch sicherzustellen", hatte ein Uniformierter erklärt, dessen rote Armbinde ihn als UvD - Unteroffizier vom Dienst - auswies. "Solche Objekte sind für den Gegner ein lohnendes Ziel." Solche Objekte - das ist in diesem Fall ein Bunker mit dem Tarnnamen "Trachtenfest", den das Ministerium für Staatssicherheit in den 70er Jahren versteckt im Thüringer Wald bauen ließ. Getarnt als Immobilie der Wasserwirtschaft sollte er im Krisenfall der Suhler Stasi-Bezirksverwaltung Unterschlupf bieten, damit der Geheimdienst ungestört weiterarbeiten kann. Auf rund 3600 Quadratmeter Fläche erstreckt sich die Anlage mit Lageraum, Küche, Arztstation, Fernschreiber-Stube samt Chiffrierapparaturen, EDV-Zentrale sowie Schlaf- und sonstigen Arbeitsräumen. Im Ernstfall sollte er mit separater Sauerstoffversorgung hermetisch abgeschlossen werden können.
25 Jahre nach dem Mauerfall ist alles so drapiert, als könnten jeden Moment der Bunkerkommandant oder ein sowjetischer Verbindungsoffizier um die Ecke biegen. Auf dem Tisch im Lageraum liegen vergilbte Ausgaben des "Neuen Deutschland" und das "Freie Wort", von den Wänden lächelt Erich Honecker und die Küche ist mit Vorräten "Made in GDR" bestückt. Gekocht wird hier freilich nicht, doch das benachbarte Waldhotel bietet eben nicht nur Führungen durch den Bunker. Für mehr als 100 Euro pro Person kann man in der Anlage übernachten. "Reality-Erlebnis" nennt das Geschäftsführerin Kathleen Höhn. Das Ganze solle "mit einem Augenzwinkern" gesehen werden.
An einem niedergerissenen Maschendrahtzaun unter hohen Fichten steht Lothar Schütze aus Weimar und raucht. Der 52-Jährige hat die Nacht im Bunker als Geschenkgutschein bekommen, wie viele an diesem Abend. Nun wurde er bis zum Abendessen zum Wachdienst eingeteilt. Die NVA kennt er aus eigenem Erleben, er hat als junger Mann 18 Monate gedient. "Mir hat das nicht geschadet." Deswegen hat er auch noch seine eigene Uniform. "Erst fand ich das alles gar nicht so lustig, aber es ist schon irgendwie skurril, so etwas zu machen", sinniert er. Als "Genosse Major" führt der 46-jährige Thomas Krüger das Regiment im Bunker. In Tarnflecken-Uniform und die Augen hinter einer Sonnenbrille versteckt, hat er die Besucher beim Appell empfangen. Krüger kennt den DDR-Geheimdienst von innen, hat er doch einst hauptamtlich für das Ministerium für Staatssicherheit gearbeitet. "Wenn die Wende nicht gekommen wäre, wäre ich noch immer dort und würde Jagd auf den Klassenfeind machen", räumt er ein. Skrupel, dass dabei DDR-Nostalgie geschürt werde, habe er nicht. Den Bunker sieht er als Mahnung, als Warnung vor dem Krieg.
In allen Stasi-Bezirksverwaltungen gab es solche Bunker
Alle Stasi-Bezirksverwaltungen hatten in den 70er Jahren solche Bunker, die im damaligen Jargon "Ausweichführungsstellen" hießen, erläutert Stephan Wolf von der Stasi-Unterlagenbehörde. Hinzu kamen weitere Bunker etwa für die DDR-Regierung. Die Anlagen seien aus Betonfertigteilen gebaut worden und hätten in Konkurrenz zum Wohnungsbauprogramm der DDR gestanden. Einige, sogar der sogenannte Mielke-Bunker, seien deshalb viel später fertig geworden als ursprünglich geplant. Nach der Wiedervereinigung gingen sie an den Bund über. "Ihre Nachnutzung ist schwierig, weil sie oft in dünn besiedelten Gebieten liegen." Teils dienten sie zeitweise für die Lagerung von Stasi-Akten. Einige sind heute ein Museumsdepot oder Archiv. Der Bunker der Stasi-Bezirksverwaltung Leipzig ist ein Museum, ebenso wie besagter Bunker im thüringischen Frauenwald.
Dort steht inzwischen die Einweisung in den Gebrauch der Gasmasken an. Dann schreit der UvD: "Gas!" Hektisch fingern die Uniformierten an ihren Taschen, schrauben die Filter auf ihre Masken, die sie sich überstülpen. Und los geht es im Laufschritt einige hundert Meter weit. Das Atmen fällt schwer. Später bei einer Führung werden die Bunkergäste an einen Tisch geführt, hinter dem Rolf Zein in Uniform wartet. Bei andächtiger Stille zieht er die Plane zur Seite und gibt den Blick auf ein kleines Waffenarsenal frei: eine Kalaschnikow gehört ebenso dazu wie Handgranaten, Panzerfäuste und ein Maschinengewehr - alles sauber nebeneinander aufgereiht. Es wird gefachsimpelt über die Reichweite einzelner Waffen und deren Treffgenauigkeit. "Diese Waffen sind unbrauchbar gemacht und gibt es frei zu kaufen", versichert Zein. Sein Anliegen sei es, alles neutral zu zeigen, nichts zu verteufeln.
Nicht alle finden die heutige Bunker-Nutzung gut
Fachleute lässt eine solche Museumsarbeit gruseln. "Da wird Ostalgie und Abenteuerromantik bedient - mit einer seriösen und kritischen Auseinandersetzung hat das nichts zu tun", konstatiert der Historiker Jens-Christian Wagner. Er leitet die KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora und den Arbeitskreis zeithistorische Museen und Gedenkstätten beim Thüringer Museumsverband. "Die Stasi hat den Bunker betrieben und ihre Hauptaufgabe war die Bespitzelung der eigenen Bürger. Das und die perfiden Methoden dabei kann man nicht ausblenden", betont Wagner. Er räumt ein, dass bei solchen Bunkern der Blick auf die Opfer der SED-Diktatur nicht ganz so klar auf der Hand liege wie bei einem Stasi-Gefängnis. Dennoch gebe es Beispiele für einen guten Umgang mit Täterarchitektur - etwa das NS-Dokumentationszentrum in Nürnberg. Wagner fände es sogar besser, den Bunker dicht zu machen, als "Objektfetischismus und Grusel-Entertainment" zu betreiben.
In Frauenwald ist ein neuer Tag angebrochen, die Sonne strahlt durch hohe Baumwipfel. Schlafen konnte im Bunker kaum jemand. "Ich wollte jetzt nicht noch eine Nacht hier verbringen", bekennt Lothar Schütze und reibt sich die Müdigkeit aus den Augen. Anders Matthias Bollmann. Er kommt aus Kitzbühel, erzählt, dass er Geschichte unterrichte und im Bunker kleine Filmchen drehe, die er zu einem Video für seinen Unterricht verarbeiten wolle. Dafür hat er sich extra eine Feldwebel-Uniform zugelegt. "Es war super, ich würde es wieder machen", bricht sich seine Begeisterung in österreichischem Dialekt Bahn. "Hier ist alles authentisch und die Geschichte wird nicht mit übertriebenem Drill, sondern auf etwas witzige Art gezeigt." Nach Frühsport, Betten abziehen und Bunker räumen geht es "ohne Tritt Marsch" zum benachbarten Hotel. Dort warten Duschen, Sauna und Frühstück. Noch einmal heißt es antreten und stillgestanden. Der UvD meldet an Hotelchefin Höhn: "Keine besonderen Vorkommnisse."