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Vom Winde verweht: So können Sprichwörter und Redewendungen aussterben


Ein Sprachwissenschaftler erklärt
Wie Sprichwörter und Redewendungen in Vergessenheit geraten

Sprichwörter und Redensarten verändern sich, aber verschwinden sie auch? So einfach ist das nicht, sagt der Sprachwissenschaftler Rolf-Bernhard Essig.

Aktualisiert am 02.05.2023|Lesedauer: 5 Min.
Von t-online, ktz
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Der Buchautor und Sprachwissenschaftler Rolf-Bernhard Essig forscht zu Sprichwörtern und Redewendungen. Über das Thema hat der Autor bereits zahlreiche Bücher geschrieben. Zuletzt erschien von ihm im Duden-Verlag "Pünktlich wie die Maurer: Handwerksredensarten und ihre wunderbaren Geschichten".

Den Nagel auf den Kopf getroffen: Die Deutschen verwenden in ihrem alltäglichen Sprachgebrauch dutzende Redewendungen und Sprichwörter.Vergrößern des Bildes
"Den Nagel auf den Kopf getroffen": Die Deutschen verwenden in ihrem alltäglichen Sprachgebrauch Dutzende Redewendungen und Sprichwörter. (Quelle: IMAGO / blickwinkel)

Welche Sprichwörter und Redensarten in Vergessenheit geraten könnten, sei pauschal nicht zu beantworten, erklärt Essig. Und trotzdem: Bestimmte Voraussetzungen sorgen dafür, dass uns manche Sprichwörter verloren gehen.

Sprache muss man pflegen

Wird eine Sprache nicht gepflegt, verschwindet sie. Dasselbe trifft auf Redewendungen und Sprüche zu. "Das hat auch was mit den Umgangsformen zu tun, die aussterben, wie 'einen Kratzfuß machen'", erklärt Essig. Sprichwörter und Redewendungen sind dabei nicht ein und dasselbe. Während die Redewendung nur unvollständige Satzteile bezeichnet, dreht es sich bei einem Sprichwort um einen geflügelten Satz.

Sprichwörter wie Redensarten seien an soziale, wirtschaftliche und historischen Umstände gebunden, erklärt der Sprachwissenschaftler Essig. So kommt der Kratzfuß aus der höfischen Kultur. Wer sich am Hofe verbeugte, zog dabei ein Fuß nach hinten. Heute macht das niemand mehr. Entfällt der Rahmen, kniet niemand mehr vor dem Adel, geht der sprichwörtliche Kratzfuß ebenfalls verloren.

Ein anderes Beispiel: die Kirche. Nur evangelische Pfarrer kennen vermutlich die lutherische Bibel-Redensart "wider den Stachel löcken", so Essig. Sie beschreibt eine Person, die sich frech oder widerständig gibt. Oder wer kennt noch das Sprichwort "Sie sammeln glühend Kohlen auf mein Haupt", das die Verbindung zweier Menschen in Dankbarkeit beschreibt? Je älter der Kontext, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Sprichwort verloren geht.

Manche Sprichwörter bleiben ewig

Manchen Sprichwörtern scheint der Zahn der Zeit nichts anzuhaben. Ein Beispiel: "Schuster, bleib bei deinem Leisten." Das Sprichwort wird dem griechischen Maler Apelles zugeordnet, einem Zeitgenossen Alexanders des Großen. Immerhin 2.400 Jahre ist das her. Wie kommt es, dass dem deutschen Sprachschatz diese Worte erhalten bleiben?

"Weil Sprache ein langes Gedächtnis hat, und unsere Sprache hat Wörter, die noch viel älter sind, wie 'Sack', das sich nur wenig verändert hat seit dem Assyrischen, wo es 'Saku' hieß", erklärt Essig. Der Begriff "Lampe" geht auf das altgriechische Wort "lampo" für "ich leuchte" zurück.

Doch was ist mit dem Schuster? Der Maler Apelles soll einst gegen einen Schuster gewütet haben, der einen von ihm gemalten Schuh kritisierte. "Schuster, bleib bei deinem Leisten", soll Apelles, so die Überlieferung, gesagt haben. Mit dem Leisten ist jene Modellform aus Holz gemeint, mit der ein Schuster einen Schuh fertigt.

"Die Apelles-Anekdote ist uns aus der römischen Antike überliefert durch Plinius dem Älteren, und der war verbindliche Lektüre für Gebildete europaweit. Das hat die Erhaltung begünstigt", sagt Essig. Hinzu kommt laut dem Sprachwissenschaftler auch: Sprichwörtliche Redensarten, die eine Funktion erfüllen, seien "so gut wie unsterblich".

Wenn Sprichwörter in Vergessenheit geraten

Wie genau Sprichwörter in Vergessenheit geraten, dazu gibt es keine klaren Anhaltspunkte. "Wenn man das wüsste!", meint Essig. Eine fundierte Erforschung wäre in einer solchen Frage schwierig. Die "gleichförmige Prägung einer Gesellschaft" würde jedoch zu einem "gemeinsamen Vorrat an sprichwörtlichen Redensarten" führen, so der Sprachwissenschaftler. Grob übersetzt: Was nützt, das bleibt bestehen – auch bei der Sprache.

Ob die Bierkutscher in München, die Schrippenverkäufer in Berlin oder die Flieger aus Frankfurt am Main – jede Gruppe nutzt eigene Sprichwörter und Redensarten. "Fällt deren Funktion oder Kultur weg, ihre Arbeitsmöglichkeiten oder Wohnquartiere, löst sich die Sprachgemeinschaft auf – und neue bilden sich", so Essig. Wer sagt heute noch, dass er oder sie was gebacken bekommt? Mit dem Verschwinden traditioneller Bäckereien könnte dieses Sprichwort nach und nach in Vergessenheit geraten.

Werbung: Gut für Sprichwörter

Wer zieht heute noch vom Leder? "Vom Leder ziehen", erklärt Essig, sei "altertümelnd". Die Redewendung habe mit Lederscheiden für Schwerter und lange Messer zu tun – es geht hierbei mehr um einen Kampf, um das Ziehen der Waffe, weniger darum, über jemanden schlecht zu reden. "Es gibt sicher viele Tausend Redensarten, die längst vergessen sind, übrigens auch moderne, weil sie sich als zu kurzlebig erwiesen haben", sagt der Sprachwissenschaftlicher.

Etwa die Redensart "total manoli sein". Die geht auf eine Berliner Leuchtreklame für die Zigarettenmarke Manoli zurück. Die Lampen des "Manoli-Rads" am Alexanderplatz emittierten nachts eine Drehbewegung. Im Berlin der 20er-Jahre galt "total manoli" als schick. "Sogar Tucholsky verwendete den Ausdruck, aber heute: vergessen!", weiß Essig.

Hingegen hält sich ein Spruch aus der Tabak-Werbung von HB bis heute: "Wer wird denn gleich in die Luft gehen?" So wird aus einem Werbe-Slogan sprachliches Allgemeingut. Werbung, Medien und soziale Netzwerke könnten heute, so Essig, Sprichwörter und Redensarten hervorbringen. "Deren Möglichkeit, eine Formulierung weit und entschieden häufig über einen längeren Zeitraum zu verbreiten, hilft natürlich enorm. Das ist aber nicht alles", meint Essig und stellt klar: Eine solche Formulierung entwickle sich dann zu einer Redensart oder einem Sprichwort, wenn sie mit einem Zweck verbunden sei.

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Das goldene Handwerk

"Eisen im Feuer haben" oder "Nägel mit Köpfen" machen: Sprichwörter aus dem Handwerk sind bis heute allgegenwärtig. Das Handwerk präge unser Leben bis heute, meint Essig. "Warum sind Müller und Schmidt die häufigsten Nachnamen in Deutschland? Überall brauchte man Müller und Schmiede", sagt er.

Bäckereien und Schmieden waren in der Mitte eines Ortes angesiedelt. Handwerker und ihre Arbeiten waren jedem bekannt. "Kein Wunder, dass man diese – auch noch sehr anschaulichen – Ausdrücke gern übernahm", so der Sprachwissenschaftler.

Redewendungen und das Englische

Selbst ernannte Hüter der deutschen Sprache halten das Englische für eine Bedrohung des heimischen Sprachschatzes. Leiden darunter auch altgediente Sprichwörter und Redensarten?

"Die aktuellen Untersuchungen zum Zustand der deutschen Sprache der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung verdeutlichen, dass dieser Eindruck natürlich Unsinn ist. Das ist bloß ein Eindruck. Anglizismen machen, je nach Bereich, vielleicht drei bis fünf Prozent aus", meint Essig. Viele dieser Wörter seien darüber hinaus lateinischen Ursprungs. Damit sind sie älter als die englische Sprache.

Mehr noch: Viele bekannte deutsche Sprichwörter wurden im Laufe der Zeit aus der englischen Sprache übernommen. Wer also "eine rote Linie" überschreitet, oder "über den Elefanten im Raum sprechen" möchte, benutzt Redewendungen aus dem Englischen.

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Dass Sprichwörter aussterben, ist ganz normal

Die richtige Werbung bleibt hängen, Fremdsprachen prägen den Gebrauch und auch die sozialen Medien spielen eine große Rolle. Die Entstehung von Redewendungen und Sprichwörtern hängt von vielen Faktoren an – ebenso von deren Vergessen. Dabei muss ein Spruch nicht nur gut klingen, sondern auch innerhalb einer Gemeinschaft funktionieren.

Den Sprachwissenschaftler und Sprichwort-Experten Rolf-Bernhard Essig macht es nicht traurig, dass uns manche Redensarten und Sprichwörter abhandenkommen. "Dass sie aussterben und nicht nur können, das ist der Lauf der Welt", sagt er. Schließlich kämen auch ständig neue hinzu. Ende gut, alles gut, könnte man da sagen. Diese Redensart kommt übrigens nicht aus dem Deutschen. Geschrieben hat sie einst William Shakespeare für das Stück "Kaufmann von Venedig".

Verwendete Quellen
  • Interview mit Rolf-Bernhard Essig
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