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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Höchste Infektionsquote weltweit Zweiter Lockdown in Israel: Was macht Deutschland besser?
In Israel steigen die Infektionszahlen so stark an, dass die Regierung jetzt einen erneuten Lockdown beschlossen hat. Auch in Deutschland steigen die Zahlen, neue Einschränkungen sind bisher allerdings nicht geplant. Was ist bei uns anders?
Angesichts gestiegener Coronavirus-Infektionen hat Israel ab Freitag einen landesweiten "Lockdown" mit weitgehenden Beschränkungen für die Bürger verhängt. Damit ist Israel das erste Land weltweit, das bereits zum zweiten Mal so strenge Maßnahmen plant. Diese sollen für drei Wochen gelten, sagte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am Sonntag in einer Fernsehansprache. Er sagte, angesichts steigender Infektionszahlen hätten Klinikleiter "die rote Fahne erhoben". Es seien sofortige Maßnahmen notwendig. "Unser Ziel ist es, den Anstieg zu stoppen."
Wie sieht der erneute Lockdown in Israel aus?
Die Maßnahmen sollen am Freitagnachmittag um 13 Uhr in Kraft treten, vor Beginn der jüdischen Feiertage. Unter anderem dürfen sich die Bürger dann nur noch maximal 500 Meter von ihren Wohnungen und Häusern entfernen, Schulen und Kindergärten, Hotels, Restaurants und Einkaufszentren sowie Freizeiteinrichtungen sollen geschlossen werden. Der öffentliche Dienst werde eingeschränkt weiter arbeiten, Supermärkte, Ärzte und Apotheken dürften geöffnet bleiben. Auch Privatunternehmen sollen unter Einschränkungen weiter arbeiten können. Außerdem gelten Versammlungsbeschränkungen: Bis zu 20 Menschen dürfen sich im Freien und bis zu zehn Menschen in Innenräumen versammeln.
Netanjahu sagte zudem, der Finanzminister werde in Kürze neue Hilfsmaßnahmen für Unternehmen vorstellen, die durch den Lockdown Probleme bekämen.
Wie hoch sind die Zahlen in Israel – wie hoch in Deutschland?
Die Anzahl der Neuinfektionen in Israel ist zuletzt dramatisch gestiegen. An vier Tagen in Folge wurden in der abgelaufenen Woche jeweils Rekordwerte verzeichnet. Laut Johns Hopkins University (Stand: 14. September 2020) gab es bisher rund 157.000 bestätigte Coronavirus-Infektionen in Israel. Mehr als 1.100 Menschen starben an Covid-19, aktuell gibt es noch mehr als 40.300 aktive Infektionen.
In Deutschland gab es laut Johns Hopkins University bisher mehr als 262.300 bestätigte Coronavirus-Infektionen und 9.355 Todesfälle durch Covid-19. Allerdings gibt es in Deutschland momentan nur rund 20.000 aktive Infektionen.
Betrachtet man zum Vergleich zudem die Einwohnerzahlen, fällt auf, wie viel stärker Israel von der Pandemie betroffen ist: Auf rund 83 Millionen Einwohner in Deutschland gerechnet sind hierzulande momentan nur rund 0,02 Prozent der Bevölkerung am Coronavirus erkrankt. Israel hat nur rund 9,2 Millionen Einwohner – somit sind dort aktuell 0,45 Prozent der Gesamtbevölkerung an Covid-19 erkrankt. Gemessen an der Bevölkerungszahl soll Israel das am stärksten betroffene Land der westlichen Welt sein.
Wie hat sich die Corona-Krise in Israel entwickelt?
Den ersten bestätigten Coronavirus-Fall in Israel gab es erst am 21. Februar. Bereits Mitte März zählte Israel schon zu den am stärksten von der Pandemie betroffenen Staaten im Nahen Osten. Am 19. März verkündete Netanjahu schließlich den nationalen Notstand und den ersten Lockdown für sein Land.
Viel früher als beispielsweise in Deutschland und vielen anderen europäischen Staaten gab es bereits ab Ende April die ersten Lockerungen in Israel, die schrittweise und schließlich im Mai recht zügig fortgesetzt wurden. Während der Hitzewelle gab es schließlich nicht einmal mehr eine Maskenpflicht in Israel, sie konnte nur mit hohen Geldstrafen wieder eingeführt und auch umgesetzt werden. Während in Deutschland erst seit einigen Wochen die Schulen wieder geöffnet wurden, passierte das in Israel bereits im Mai. Zudem durften die Kinder alle gleichzeitig wieder in die Klassenräume – es galt allerdings eine Maskenpflicht. Kurz darauf wurden auch Strände, Restaurants und Bars wieder geöffnet. Zwar stiegen die Corona-Zahlen danach über einen längeren Zeitraum und in verschiedenen Teilen des Landes wieder an, es gab aber nur noch lokale oder regionale Beschränkungen.
Bereits im Juni warnte das "Nationale Zentrum für Information und Wissen im Kampf gegen das Coronavirus" einem Bericht der "Süddeutschen Zeitung" zufolge vor einer zweiten Corona-Welle. Im Vergleich zum März und April erkrankten zu diesem Zeitpunkt vor allem jüngere Menschen in Israel. Die Zahlen spiegeln auch viele lokale Ausbrüche an Schulen wider, bevor auch in Israel die Sommerferien begonnen haben.
Seit dem 3. Juli, als für viele europäische Länder die Urlaubssaison doch noch starten konnte, weil Grenzen geöffnet und Reisewarnungen aufgehoben wurden, gilt Israel laut Robert Koch-Institut als Corona-Risikogebiet.
Anfang September begann schließlich das neue Schuljahr und seither steigen die Zahlen der Neuinfektionen drastisch: An einem einzigen Tag gab es fast 3.200 Neuinfektionen.
Welche Maßnahmen gibt es bisher?
Bisher hat Israel auf ein Ampelsystem gesetzt, das Städte oder Stadtteile je nach der Zahl der Infektionen in rote, orange, gelbe oder grüne Kategorien unterteilt hat. In roten Gebieten waren Menschenansammlungen beschränkt, bis zum 15. September gelten in 40 besonders betroffenen Städten und Gemeinden zudem Ausgangssperren zwischen 19 und 5 Uhr. Zusätzlich gelten überall in Israel eine Maskenpflicht im gesamten öffentlichen Raum und Abstandsregelungen. Für alle ausländischen Reisenden gilt ein Einreiseverbot mit nur wenigen Ausnahmen.
In den palästinensischen Gebieten gilt die ganze Zeit über der Notstand. Hotels und Pensionen sind geschlossen und es gilt eine Ausgangssperre von Mitternacht bis 7 Uhr morgens.
Das System ist ähnlich wie das in Deutschland: Auch hierzulande wird momentan vor allem auf lokale Ausbrüche reagiert. Allerdings wurden die Maßnahmen in Deutschland insgesamt deutlich langsamer gelockert, Bars und Restaurants und vor allem Schulen waren deutlich länger geschlossen als in Israel.
Welche Auswirkungen hatte der erste Lockdown in Israel?
Zum ersten Lockdown und dem Beginn der Corona-Krise galt Israel noch als Vorbild. Nach dem ersten, sehr strengen Lockdown in Israel sind die Infektionszahlen etwa den gesamten Mai über sehr niedrig gewesen, bevor sie allerdings im Juni wieder anstiegen und bereits im Juli Werte über der ersten Infektionswelle im März/April erreichten. Bereits im Juli wurde diskutiert, dass vielleicht zu früh zu viel gelockert wurde. Der israelische Wissenschaftler Nadav Davidovitch erklärte im Juli beispielsweise in einem Interview mit "zeit.de": "Wir sehen hier gerade einen Mangel an Führungsqualität der Regierung. Erst wurden viel zu extreme Maßnahmen erlassen, jagte unser Ministerpräsident den Bürgern Angst ein. Dann forderte er sie plötzlich auf, wieder zum Alltag zurückzukehren. Durch diesen Zickzack-Kurs hat er viel Vertrauen verspielt."
Es gab auch jetzt vor allem aus wirtschaftlichen Gründen starken Widerstand gegen neue Corona-Beschränkungen. Denn die Corona-Krise hat der Wirtschaft des Landes bereits schwer zugesetzt. Die Arbeitslosenquote lag im Sommer bei mehr als 20 Prozent – im Jahr 2019 lag die Arbeitslosenquote laut Statista in Israel bei nur rund vier Prozent. In Deutschland lag die Arbeitslosenquote laut Bundesagentur für Arbeit im August bei 6,4 Prozent – im August 2019 lag sie bei 5,1 Prozent.
Welche Rolle spielt die Religion?
In Israel gibt es besonders hohe Infektionszahlen bei den ultraorthodoxen Juden, die zehn Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Einige säkuläre Juden machen die Ultraorthodoxen sogar für die hohen Infektionszahlen verantwortlich, sie werfen ihnen vor, die Bedrohung lange nicht ernst genug genommen zu haben.
Bereits am 2. April wurde Bnei Berak, der Ort mit dem höchsten Anteil an Infizierten, als erste israelische Stadt zur beschränkten Zone erklärt und durch die Polizei abgeriegelt. Von den etwa 200.000 meist ultraorthodoxen Einwohnern hatten sich bis dahin mehr als 7.000 infiziert.
Auch in anderen ultraorthodox geprägten Regionen stiegen die Zahlen bereits zum Beginn der Pandemie schneller und stärker als im Rest des Landes. Das liegt auch daran, dass einige der Rabbiner zunächst lange zögerten, bevor sie den Anweisungen der Behörden folgten, wie die "FAZ" bereits im März erläuterte. Beispielsweise gab es trotz Kontaktbeschränkungen weiterhin große Begräbnisse und die religiösen Hochschulen waren deutlich länger geöffnet als andere Bildungseinrichtungen.
Einem Bericht des "Bayrischen Rundfunks" zufolge haben ultraorthodoxe Familien durchschnittlich sieben Kinder – so viele Menschen, die als Familie eng zusammen leben, bieten einem Virus optimale Bedingungen, um sich auszubreiten. Wie "zeit.de" berichtet, kommt hinzu, dass viele ultraorthodoxe Juden kaum Informationen erreichen, da sie beispielsweise Fernsehen, Internet oder Telefone nicht nutzen.
Auch jetzt gibt es vor allem aus den orthodoxen Reihen Kritik am neuen Lockdown. Der strengreligiöse Wohnungsminister und frühere Gesundheitsminister Jakov Litzman von der Partei Vereinigtes Tora-Judentum erklärte aus Protest gegen die Maßnahmen sogar seinen Rücktritt. Litzman ist ein wichtiger Koalitionspartner Netanjahus.
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Eigene Recherche
- Nachrichtenagenturen dpa-AFX, Reuters
- Johns Hopkins University
- Auswärtiges Amt
- Robert Koch-Institut
- zeit.de: "Israel und Corona: Erst Lockdown, dann Leichtsinn" (9. Juli 2020)
- faz.de: "Corona unter Ultraorthodoxen: Die Tora schützt" (30. März 2020)
- sueddeutsche.de: "Israelische Behörde warnt: Zweite Welle beginnt" (21. Juni 2020)
- br.de: "Israel: Spannungen zwischen säkularen und ultraorthodoxen Juden" (3. August 2020)
- zeit.de: "Coronavirus: Risikogruppe Ultraorthodoxe" (9. April 2020)
- Statista: "Israel: Arbeitslosenquote von 1980 bis 2019 und Prognosen bis 2021"
- Bundesagentur für Arbeit: "Arbeitslosenquote und Arbeitslosenzahlen 2020"