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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Neue Varianten aus China Müssen wir Corona-Mutanten befürchten?
Zum Jahresende diskutieren Experten und Politik über die Abschaffung der Regeln zur Viruseindämmung. Welche brauchen wir noch und wie lange?
Anfang der Woche meldete sich der Leiter der Virologie der Charité, Christian Drosten, zu Wort. Seine Einschätzung: "Wir erleben in diesem Winter die erste endemische Welle mit Sars-CoV-2, nach meiner Einschätzung ist damit die Pandemie vorbei." Umgehend reagierten Kollegen und die Politik: Die Forderungen reichten von der Mahnung zur Vorsicht und zur Beibehaltung der bisher verbliebenen Corona-Eindämmungsmaßnahmen bis hin zur sofortigen Aufhebung derselben.
Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) verlangte, die Corona-Regeln auf Bundesebene zügig abzuschaffen. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) nannte das Vorhaben "leichtsinnig".
"Wir wissen nicht, wie lange der Schutz hält"
Auch der Frankfurter Virologe Martin Stürmer widersprach den Lockerungsforderungen im NDR. Bei Covid-19 wisse man noch nicht genau, wie man vulnerable Gruppen langfristig schützen könne. "Wir gehen jetzt davon aus, dass wir bei den nächsten Wellen unsere Risikopopulation durch unsere Immunität, die wir in der Bevölkerung durch Infektion und Impfung erworben haben, weiterhin schützen können – nur, wie lange hält dieser Schutz an?", sagte Stürmer. Es gebe daher noch viele Hausaufgaben zu erledigen.
Zurückhaltung kommt zudem aus einigen Landesgesundheitsministerien. Und auch in einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur sprechen sich 52 Prozent gegen ein bundesweites Ende der Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln zum jetzigen Zeitpunkt aus. 60 Prozent lehnen einen sofortigen Stopp der mindestens fünftägigen Isolationspflicht für Infizierte ab. Fast zwei Drittel (64 Prozent) der Befragten sagen, die Pandemie sei für sie noch nicht vorbei.
Doch Experten gehen davon aus: Dies könnte die letzte Saison sein, in der diese scharfen Schutzmaßnahmen nötig sein könnten. Die Pandemie scheint auszulaufen. t-online fragte den Mathematiker Kristan Schneider nach seiner Einschätzung für das Jahr 2023. Er modelliert die Entwicklung der Pandemie.
t-online: Herr Schneider, ein neues Jahr steht vor der Tür. Aber diesmal bleibt bei Corona nicht alles beim Alten?
Kristan Schneider: Nein, wir können im kommenden Jahr davon ausgehen, dass die großen Eindämmungsmaßnahmen spätestens im Frühjahr nicht mehr nötig sein werden.
Dann erwartet uns ein Frühling ohne Masken und Abstand?
In bestimmten Bereichen wird es weiterhin Schutzmaßnahmen geben und geben müssen. Dieses Virus ist und bleibt viel ansteckender als die Grippe und damit gefährdet es auch weiterhin Menschen in den vulnerablen Gruppen. Abgesehen davon scheint es sich nicht an die übliche Saisonalität halten.
Und wir müssen weiterhin die Risikogruppen schützen?
In Krankenhäusern und Pflegeheimen werden wir sicher weiter Masken sehen. Die Frage, ob es im Verkehr noch einen Mund-Nasen-Schutz braucht, kann sicher auch flexibler entschieden werden. Auf dem Land mit wenig Verkehr etwa in Bussen wird das sicherlich anders gehandhabt werden können als in Ballungszentren. Ganz aus dem Alltag werden Masken wahrscheinlich nicht mehr verschwinden, doch das kann ja auch einfach eine Lehre sein aus der Pandemie. So eine minimalinvasive Maßnahme kann viel bewirken.
Kristan Schneider ist Mathematikprofessor an der Hochschule Mittweida, Sachsen. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Modellierung epidemiologischer Prozesse.
Nun betonen verschiedene Experten, Corona werde fortan endemisch. Ist das nicht eigentlich eine akademische Diskussion? Der Begriff ist ja auch etwas schwammig.
Wann genau ein Virus endemisch wird, lässt sich nicht trennscharf abgrenzen. Definiert ist der Zustand damit, dass es immer wieder zu bestimmten Wellen innerhalb der Bevölkerung kommt, diese aber nicht mehr zu Notständen oder Ausnahmezuständen führen. Und solche Wellen werden wir auch bei Corona weiterhin sehen. Das Virus ist gekommen, um zu bleiben. Es ist nur die Frage, wie gut wir dagegen gerüstet sind.
Und ohne die Impfungen wäre das ganz anders gewesen?
Durch die Impfung und auch Infektionen ist die Bevölkerung schon lange nicht mehr immunnaiv, sondern gut auf das Virus vorbereitet. Es ist wichtig, dass die Reihenfolge – zuerst Impfung, dann Infektion – auch eine wichtige Rolle spielt. Hätten wir die Impfstoffe nicht gehabt, wäre der Schaden viel höher gewesen.
Die Impfung hat vor schweren Verläufen und Long Covid geschützt und die Übertragung zwar nicht gestoppt, aber deutlich gedrosselt. Ohne Impfung hätte sich das Virus, als noch gefährlichere Varianten vorherrschend waren, viel schneller verbreitet.
Wir können aufatmen?
Ja, der große Schrecken, dass die Intensivstationen wieder überlastet sind, ist sicherlich vorüber. Es bringt auch nichts, vor möglichen Killervarianten zu warnen, denn das ist ein Blick in die Glaskugel. Long Covid und Post Covid sind aber noch immer nicht vom Tisch. Die Nachfrage nach Long-Covid-Ambulanzen bleibt groß und die Ursachen sind weitgehend ungeklärt. Das betrifft nicht die Masse der Bevölkerung, aber es bleibt ein Problem.
Wir werden aber immer neue Infektionswellen sehen?
Es wird immer wieder zu Infektionswellen kommen, die von zwei Faktoren beeinflusst werden: Zum einen nimmt der Immunschutz mit der Zeit ab. Nach einer Infektionswelle ist er am höchsten. Zum anderen variiert die Übertragbarkeit saisonal und ist im Winter höher als im Sommer. Kombiniert man diese beiden Faktoren folgt daraus, dass wir durchaus unregelmäßige Wellen erwarten können.
Nun könnten wir aber auch sagen: Wir testen einfach nicht mehr. Frei nach dem ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump: Wo keine Tests, da kein Corona …
Tests werden in bestimmten Bereichen weiterhin wichtig bleiben. Für welche Bereiche man den Goldstandard – also den PCR-Test – noch braucht, wird sich zeigen. Es ist aber sicherlich gut, eine entsprechende Infrastruktur zu haben.
Müssen wir neue Mutanten fürchten?
Es wird immer neue Varianten geben, die sicher zum Beispiel auch aus China zu uns rüberschwappen können. Die Frage ist nur, wie erfolgreich diese gegenüber den bekannten sein können, welchen Fitnessvorteil sie besitzen. Das ist Kaffeesatzlesen.
Christan Drosten sagt, das Virus habe sich eigentlich in eine Sackgasse manövriert.
Ja, das sehe ich auch so. Viren tendieren dazu, über die Zeit ansteckender, aber weniger gefährlich zu werden. Wichtig ist, welchen Schaden sie auf diesem Weg anrichten. Der Grund, warum wir endlich vor dem Schritt stehen, die Schutzmaßnahmen weitgehend aufzuheben, hat mit der erreichten hohen Grundimmunität in der Bevölkerung zu tun. Durch die Impfung und auch Infektionen ist die Bevölkerung schon lange nicht mehr immunnaiv.
Drosten sagt auch, hätte man gar nichts getan, hätten wir in der Delta-Welle eine Million Tote und mehr gehabt.
Ja, davon ist auszugehen. Man muss die Pandemie sicher mal ordentlich aufarbeiten. Was lief gut, was nicht? Es wurde häufig einfach zu spät reagiert. Und dann mussten sehr harte Maßnahmen ergriffen werden. Je früher man gegensteuert, desto mehr Erfolg hat man schon bei moderaten Maßnahmen.
Aber so ganz schlecht gemacht haben wir es nicht?
Nein, wenn man sich allein anhand der Totenzahlen orientiert, sicher nicht. Da sind die Kollateralschäden ja aber gar nicht mit eingerechnet. Die Kita-Schließungen waren nicht nötig, wie man heute weiß. Auch den Nutzen anderer Maßnahmen müsste man auswerten.
Und letztlich haben viele Regeln für mehr Verwirrung und Irritation gesorgt als für eine klare Kommunikationslinie. Das führt immer dazu, dass man das Vertrauen und die Einsatzbereitschaft der Bevölkerung verliert. Das wird man sich ansehen müssen.
Letzte Frage: Was erwartet China für ein Jahr?
Sicher kein gutes. Man hat da einfach viel versäumt in einem Zeitraum, in dem man mit Lockdowns eigentlich Zeit gewonnen hätte. Man hat es nicht geschafft, vor allem in der älteren Bevölkerung ausreichend zu impfen und zu boostern. Wir sehen bereits erste dramatische Bilder aus China und das wird erst der Anfang sein.
Das Virus wird sehr schnell die gesamte Bevölkerung durchlaufen und für die bekannten Risikogruppen kann eine Infektion eben weiterhin sehr schwere bis tödliche Krankheitsverläufe hervorrufen. Und bei einem Milliardenvolk mit einem Gesundheitssystem, das diese Welle nicht auffangen kann, wird das dramatische Folgen haben.
Herr Schneider, wir danken Ihnen für das Gespräch.
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Nachrichtenagentur dpa
- Interview mit Kristan Schneider