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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Erhebliche Dunkelziffer Warnzeichen für eine Depression frühzeitig erkennen
Schätzungen zufolge leiden über vier Millionen Deutsche unter einer Depression. Jede zweite Frühverrentung geht auf die Erkrankung zurück. Experten gehen zudem von einer erheblichen Dunkelziffer aus: "Die Zahl der nicht diagnostizierten Fälle ist inakzeptabel hoch", sagt Waltraud Rinke, Vorstandsmitglied der Deutschen Depressionsliga e.V. Die Expertin weiß, auf welche Warnzeichen man achten muss.
"Etwa 50 Prozent der Erkrankten bekommen nicht die notwendige Therapie", weiß Rinke. Zum einen, weil viele Betroffene die Depression selbst nicht wahrhaben möchten. Zum anderen, weil sie nicht diagnostiziert wird. "Es ist wichtig, dass Ärzte und Angehörige genau hinschauen", betont die Expertin. "Nur so können frühe Signale erkannt werden."
Suizid für viele Betroffene letzter Ausweg
Werde die Erkrankung früh genug erkannt, sei sie gut behandelbar, sagt Rinke. Aus ihrer Erfahrung mit Betroffenen entscheidet sich die Expertin bewusst gegen den Begriff "heilbar". Sie ist überzeugt, dass auch nach einer erfolgreichen Behandlung eine gewisse Verletzlichkeit der Patienten zurück bleibt. "Betroffene müssen lernen, im Alltag achtsam mit sich umzugehen. Das Erlernen dieser Fähigkeit ist ein wichtiger Bestandteil der Therapie."
Bleibt die Erkrankung jedoch unentdeckt, steht im schlimmsten Fall der Suizid am Ende des Leidensweges. "In Deutschland sterben jährlich über 9000 Menschen durch Suizid. Das sind mehr Tote als durch Verkehr, Drogen, Mord und AIDS zusammen. Über 70 Prozent dieser Suizide können auf eine Depression zurückgeführt werden", sagt Rinke. Doch wie kann man eine Depression erkennen – bei sich selbst und bei anderen?
Die Depression kommt schleichend
"Eine Depression ist in der Regel nicht plötzlich da", betont die Expertin. "Sie schleicht sich in das Leben der Betroffenen." Es sei wichtig, selbst kleine Veränderungen wahrzunehmen. Denn: Depression ist so viel mehr, als "nicht gut drauf zu sein". Es treten neue Wesenszüge ans Tageslicht. Manche bringt die Krankheit mit sich, manche entstehen, weil die Betroffenen die Erkrankung verheimlichen möchten.
"Der Mensch, wie er war, verstummt"
Die einen ziehen sich zurück, melden sich nicht mehr bei Freunden, verlassen nur noch ungern das Haus, legen keinen Wert mehr auf ihr Äußeres und verlieren die Freude an Tätigkeiten, die ihnen zuvor Spaß gemacht haben. Auch körperliche Anzeichen können die Depression begleiten. Bei vielen Betroffenen wird die Stimme leiser und der Gang schleichender. Andere haben das Gefühl, ein Kribbeln in ihrem Kopf zu spüren. Auch Schlaf- und Magen-Darm-Störungen können die Depression begleiten. Zudem haben Angehörige oftmals das Gefühl, ihren Mitmenschen gar nicht mehr zu erreichen. Dann ist es, als würde sich zwischen ihm und seiner Umwelt eine unsichtbare Wand befinden.
"Andere hingegen brezeln sich plötzlich total auf, schminken sich extrem oder ziehen sich auffällig an", erklärt Rinke. Doch wie passen der Wunsch nach Rückzug und das auffällige Verhalten zusammen? "Für die Betroffenen ist das eine Maske, die sie sich überziehen, um ihre vermeintliche Schwäche zu vertuschen", weiß Rinke. "Wie auch immer sich die Erkrankung zeigt, der Mensch, so wie er war, verstummt."
"Ich bin doch nicht depressiv!"
Wer bemerkt, dass sich die Persönlichkeit einer Person für einen längeren Zeitraum verändert, sollte hinhorchen und das Gespräch anbieten – ohne das Gegenüber gleich mit dem Verdacht zu konfrontieren und eine Abwehrhaltung zu provozieren.
Denn das "eigentliche Drama", wie Rinke es nennt, ist, dass ein Depressiver meist nicht wagt, offen zu seinen Problemen zu stehen. Die Angst, in den Augen der Gesellschaft ein Versager und Schwächling zu sein, ist übermächtig. Jeder Verdacht wird abgestritten.
Der Depressive versteht sich selbst nicht mehr
Die Betroffenen verstehen selbst nicht, warum sie plötzlich nicht mehr aus dem Bett kommen. Sie wissen nicht, warum sie nicht mehr so leistungsfähig sind wie früher und fragen sich, woher die Traurigkeit kommt. Wie sollten sie es also selbst annehmen – und anderen erklären können?
Eine Krankheit "schlimmer als der Tod"
"Schlimmer als der Tod“ – so empfinden viele Betroffene das Leben mit ihrer Erkrankung, weiß Rinke. Sie haben Angst, ihren Job, ihre Freunde, ihren Partner zu verlieren. Doch ihnen fehlt die Kraft, zu handeln. Auch aufmunternde Worte von nahestehenden Personen dringen nicht mehr zu ihnen durch. Für sie ist meist alles aussichtslos. Ein Teufelskreis.
Depression: ein Kraftakt auch für das Umfeld
Aus diesem Grund setze eine Depression immer auch dem Umfeld zu, so die Expertin. Das Gefühl, nicht helfen zu können und machtlos zu sein setze Familie, Freunden und dem Partner zu. "Das ist ein wahrer Kraftakt. Und nicht alle halten das auf Dauer durch", weiß Rinke aus ihren Gesprächen mit Betroffenen.
Sie ist überzeugt: Nicht nur der Depressive braucht Hilfe. Auch sein engstes Umfeld sollte sich Unterstützung holen, etwa beim Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker (BApK).
Perfektionismus ebnet oft den Weg in die Erkrankung
Besonders gefährdet, an einer Depression zu erkranken, seien empathische und perfektionistische Menschen, so die Expertin. Denn: Bei beiden Typen werden die eigenen Grenzen nicht respektiert. Nicht "nein" sagen zu können ist laut Rinke ebenso riskant wie ein dauernder Leistungsgedanke.
"Immer unter Druck zu stehen, ständig Entscheidungen treffen und sich beweisen zu müssen, keine Fehler machen zu wollen – das bleibt ebenso wenig ohne Folgen wie immer wieder neu um Anerkennung und Sicherheit kämpfen zu müssen."
Nicht scheuen, Hilfe anzunehmen
Der Rat der Expertin: "Seien Sie achtsam sich selbst gegenüber. Gönnen Sie sich Auszeiten, horchen Sie immer wieder in sich hinein, akzeptieren Sie auch Ihre Schwächen und scheuen Sie sich nicht, sich helfen zu lassen." Wer weiß, dass es in seiner Familie Betroffene gibt, sollte sich ebenfalls aufmerksam beobachten.
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.