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Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Geldanlage Diese alte Börsenweisheit gilt 2021 nicht
Höhenangst haben Anleger angesichts der Höchststände an den Börsen scheinbar noch nicht. Obwohl eine alte Börsenweisheit zum Ausstieg rät, bleiben sie investiert. Warum das auch besser so ist.
Sie hätte eigentlich ganz wunderbar als Ausrede herhalten können, um an der Börse die Gewinne der vergangenen Monate einzufahren: die alte Regel "Sell in May and go away ...", was ungefähr so viel heißt wie "Weg mit den Aktien und dann ab in den Sommerlaub".
Kaum eine Börsenweisheit ist so bekannt wie diese. Der Mai gilt nämlich als schwacher Börsenmonat, die Sommermonate sind auch eher mau, der September ist besonders schlecht und erst im Herbst nehmen die Kurse wieder Fahrt auf. Deshalb heißt auch der zweite Teil der alten Weisheit: "... but remember to come back in September", also: "Wer Ende September nicht wieder einsteigt, verpasst den Anschluss".
Doch was ist dran am alten Kalenderspruch? Bringt er wirklich mehr Rendite? Und sollten Sie als langfristiger Anleger solche Saisonalitäten überhaupt beachten?
Statistisch gesehen schwächelt der Dax im Sommer
Statistisch gesehen steckt in dem Spruch durchaus eine gewisse Wahrheit, vor allem mit Blick auf den Dax . Seit seinem Start vor 33 Jahren waren die Monate Juni, August und September im Schnitt die drei schlechtesten.
Aber: Nur in 15 von 33 Jahren ging die "Sell in May"-Strategie tatsächlich auf – in den anderen wäre es schlauer gewesen, auch die Kursentwicklungen im Sommer mitzunehmen und so wenigstens ein kleines Plus zu machen.
Die Börsenexpertin
Jessica Schwarzer ist Finanzjournalistin, Bestsellerautorin und langjährige Beobachterin des weltweiten Börsengeschehens. Die deutsche Aktienkultur ist ihr eine Herzensangelegenheit. Zuletzt ist ihr fünftes Buch "Damit sie sich keinen Millionär angeln muss …" erschienen. Bei t-online schreibt sie alle zwei Wochen über Investments und Finanztrends, die eine breit gestreute Basis-Geldanlage ergänzen. Sie erreichen sie auf LinkedIn, Twitter, Facebook und Instagram.
Dass der Aktienverkauf im Mai dennoch eine Überrendite lieferte, ist einigen Ausreißern geschuldet. Die Internetblase platzte beispielsweise im Sommer 2002, die Eurokrise eskalierte im August 2011 – beides verbunden mit üblen Kursrücksetzern von 20 Prozent und mehr. Schön, wenn Sie sich das erspart hätten.
Gleichzeitig aber war auch der drittbeste Monat der Dax-Historie ein Sommermonat: Im Juli 1997 legte der deutsche Leitindex um mehr als 17 Prozent zu. Hätten Sie da an der Seitenlinie stehen wollen?
Genau das ist das Problem mit solchen Börsenregeln: Sie stimmen oft, aber nicht immer. Einzelne Ereignisse verzerren die Statistik. Zudem sind sie mitunter mühsam umzusetzen. Und was viele dabei oft vergessen: Sie kosten Geld, nämlich Orderprovisionen. Möglicherweise wird auch Abgeltungssteuer fällig. Für Ihren langfristigen Anlageerfolg ist das eher hinderlich und schmälert Ihre Rendite.
An der Wall Street funktioniert "Sell in May" nicht
Zu diesem Schluss kommen übrigens auch die Experten der Fondsgesellschaft HQ Trust Asset Management, die die Regel einmal für die Wall Street und den breit aufgestellten Index S&P 500 analysiert haben – und zwar mit historischen Daten, die zurückgehen bis ins Jahr 1872. Das Ergebnis: In den vergangenen 150 Jahren haben die Monate September und Mai zum Anlageerfolg zwar keine Rendite, sondern ein erhöhtes Risiko beigetragen.
Trotzdem funktionierte "Sell in May" den Analysten zufolge nicht: Waren Anleger von Mai bis September nicht investiert, hätte ihre Performance bei 6,3 Prozent pro Jahr gelegen. Viel besser wäre es aber gewesen, gar nicht zu verkaufen. Über den gesamten Zeitraum lag die Wertentwicklung nämlich bei stolzen 9,2 Prozent pro Jahr. Nur auf die beiden schwachen Monate Mai und September zu schauen ist eben zu kurz gedacht.
Und 2021? Zugegeben, so wirklich prickelnd war der Mai auf dem Börsenparkett nicht. Die großen Indizes traten mehr oder weniger auf der Stelle. Der S&P 500 kam kaum vom Fleck. Auch der Weltaktienindex MSCI World schaffte gerade mal ein Mini-Plus.
Es spricht aktuell viel für Aktien
Das gleiche Bild beim Dax: Die Schwankungen waren gering, Verluste blieben aber aus. Vielmehr notieren die Indizes noch immer nahe Höchstständen, einige haben in den vergangenen Wochen sogar neue Höchststände erreicht.
Bei den Einzelwerten war mehr los, da geht die Branchenrotation munter weiter, also raus aus Technologiewerten, rein in eher zyklische, konjunktursensible Branchen. Wenn Sie aber in ETFs auf breit gestreute Indizes investiert haben, dann dürfte Ihr Depot im Mai kaum im Wert geschwankt sein.
Die Frage ist, ob das so bleibt. War "Sell in May" 2021 eine gute oder schlechte Idee? Aktuell spricht viel dafür, die eigenen Aktien weiter zu halten. Die Weltkonjunktur erholt sich immer weiter, die Unternehmensgewinne sprudeln wieder, die Konjunkturprogramme der Regierungen sind recht üppig, die Geldpolitik der Notenbanken bleibt ultra-locker und Zinsen wird es bis auf Weiteres keine geben.
Kaufen Sie nicht nur mit Blick auf den Kalender
Natürlich sind kleinere Kursrücksetzer oder größere Korrekturen an der Börse nie ausgeschlossen. Und gerade in den ruhigen Sommermonaten reichen oft kleinere Auslöser, um die Kurse schwanken zu lassen. Insgesamt spricht aber mehr dafür, investiert zu bleiben.
Auch im vergangenen Jahr wäre es übrigens keine gute Idee gewesen, in den Sommermonaten der Börse fernzubleiben. Im Gegenteil, denn die Erholungsrally nach dem großen Crash im Februar und März nahm da langsam Fahrt auf.
Als langfristiger Anleger können Sie solche Turbulenzen aussitzen oder vielleicht sogar für Zukäufe nutzen. Nur mit Blick auf den Kalender zu kaufen oder zu verkaufen, ist kein guter Ratschlag.
Auch wenn es durchaus Phasen gab, in denen "Sell in May" stimmte und eine Überrendite bescherte, gibt es eben genauso viele, in denen es nicht so war. Die Jahreszeit sollte also kein Entscheidungskriterium für Ihre Anlage sein – schon gar nicht mit Blick auf Basisinvestments wie in den S&P 500 oder den MSCI World.
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