Verzweifelte Stromkunden "Billiganbieter haben sich aus der Verantwortung gestohlen"
Gekündigte Verträge, eingestellte Lieferungen, Preissprünge – viele Verbraucher spüren gerade die Turbulenzen auf dem Strommarkt ganz nah. Das verärgert größere Anbieter und die Regierung. Sie will Konsequenzen ziehen.
Zum Schutz vor extremen Preissprüngen beim Strom hat Bundesverbraucherschutzministerin Steffi Lemke (Grüne) die Prüfung neuer Regeln angekündigt. "Die Bundesregierung beobachtet das Verhalten der Marktakteure sehr genau und prüft mögliche regulatorische Schritte", sagte Lemke der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. Die Verbraucherzentralen schickten bereits mehrere Abmahnungen und kündigten weitere an.
"Aktuell haben wir es mit Preisaufschlägen zu tun, die den Strompreis auf bis zu 90 Cent pro Kilowattstunde hochtreiben", sagte Lemke. "Das ist in keiner Weise durch Marktgeschehen zu rechtfertigen." Zuvor hatte bereits Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) eine Überprüfung des liberalisierten Gas- und Strommarkts angekündigt.
Hintergrund ist, dass viele Billiganbieter in Turbulenzen geraten sind und tausende Verträge gekündigt haben. Angesichts gestiegener Börsenpreise für Strom und Gas können sie mangels langfristiger Verträge ihren Verpflichtungen oft nicht kostendeckend nachkommen.
Zahlreiche Anbieter haben sich zurückgezogen
Der Energieexperte des Verbraucherzentrale Bundesverbands, Thomas Engelke, sagt: "Zahlreiche Strom- und Gasanbieter haben sich trotz vertraglicher Vereinbarungen aus dem Markt zurückgezogen und die Versorgung ihrer Kunden einseitig eingestellt."
Lemke betonte: "In letzter Zeit hat es massenhaft Kündigungen von Stromverträgen gegeben, die zum Teil offenbar rechtswidrig sind." Verbraucherzentralen informierten auf ihren Websites darüber umfassend und stellten auch Musterschreiben für Schadenersatzforderungen zur Verfügung.
"Die gute Nachricht ist: Niemand muss Angst haben, im Dunkeln zu sitzen oder frieren zu müssen", sagte Engelke. Wenn Billiganbieter die Belieferung ihrer Kunden eingestellt haben, landen diese automatisch bei den sogenannten Grundversorgern in der jeweiligen Kommune.
Doch verlangten die Grundversorger dann teils völlig überhöhte Preise von den neuen Kunden, so Engelke. "Dieses Zweiklassen-System untergräbt den Wettbewerb."
EON: "Billiganbieter schmeißen nun die Kunden hin"
Leonhard Birnbaum, Vorstandschefs des Energiekonzerns Eon, zeigte sich verärgert über das Verhalten der Stromdiscounter. "Sie haben den Grundversorgern, die nun die Belieferung sicherstellen, die Kunden hingeschmissen und sich aus der Verantwortung gestohlen", sagte er.
Oft müssten Bestandskunden für Neukunden draufzahlen. "Man muss über neue Regeln nachdenken, dass solch ein Verhalten im Sinne der Verbraucher nicht mehr möglich ist."
Ein "gewisser Aufschlag" für Neukunden ist nach Einschätzung Lemkes zu akzeptieren, wenn Verbraucherinnen und Verbraucher in die Ersatzversorgung beim Grundversorger fallen und dieser dann Strom kurzfristig teurer einkaufen muss. "Aber eine Verdreifachung oder ähnlich hohe Aufschläge halte ich für absolut unverhältnismäßig", sagte die Grünen-Politikerin.
Verbraucher sollen nicht für die Insolvenzen bezahlen müssen
Um mögliche regulatorische Schritte zu prüfen, "werden wir auch mit der Energiewirtschaft direkt sprechen", sagte Lemke. "Wir werden nicht zulassen, dass es bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern abgeladen wird, wenn Billigstromanbieter in die Insolvenz gehen oder massenhaft Verträge kündigen."
Ein Sprecher des Bundeswirtschaftsministeriums hatte am Mittwoch erläutert: "Die Preissteigerung ist auf mehrere Komponenten zurückzuführen." So hingen die Strompreise neben den Beschaffungskosten beim Gas unter anderem von Netzentgelten und Stromsteuern ab. Man prüfe mögliche Änderungen. Es gebe noch keine Äußerungen darüber, an welchen Komponenten etwas getan werden müsse. Steuern und Abgaben seien nicht alleine das Thema.
Verbraucherzentralen-Experte Engelke forderte: "Nötig sind mehr Transparenz und eine stärkere Aufsicht." Dass einige Strom- und Gasanbieter auf ein kurzsichtiges Geschäftsmodell gesetzt hätten, sei auch auf unzureichende Transparenzpflichten und nicht genügende Regulierung zurückzuführen. "Die Politik muss den Verbraucherschutz auf dem Energiemarkt krisensicherer machen."
Verbraucherschutz berät zu Schadensersatzforderungen
Engelke empfahl Verbraucherinnen und Verbraucher, die beim automatischen Wechsel zum Grundversorger heftig draufzahlen müssen, den Wechsel in einen günstigeren Tarif. "Das ist allerdings derzeit schwierig." Die Verbraucherzentralen böten Beratung an. "Hier geht es auch um mögliche Schadenersatzforderungen."
Nach Auskunft der Verbraucherzentralen gibt es bundesweit inzwischen sieben Abmahnungen und eine Androhung wegen der Einstellung von Stromlieferungen, der Kündigung von Verträgen oder wegen extremer Preiserhöhungen - davon allein fünf in Nordrhein-Westfalen. "Weitere Abmahnungen sind in Planung", sagte ein Sprecher.
- Nachrichtenagentur dpa