Konjunktur Schuldenkrise treibt Menschen in den Selbstmord
Immer mehr Bürger in den Krisenstaaten Europas greifen zum Äußersten: Sie wählen wegen ihrer prekären Situation den Weg in den Freitod. Vor allem in Italien und Griechenland wissen viele Handwerker, Arbeitslose oder Rentner oft keinen anderen Ausweg. In Griechenland zündete sich ein Rentner auf offener Straße an. In Bologna ein Unternehmer vor dem Finanzamt. Es wird höchste Zeit, diesen verzweifelten Seelen neue Hoffnung zu geben und erfolgreiche Strategien zur Bewältigung der Wachstums- und Schuldenkrise in Europa zu etablieren. Doch die Hoffnung ist bislang nur ein zartes Pflänzchen - aber es gedeiht.
Selbstmordwelle in Italien
Der 56-jährige Maurer und Vater von vier Kindern aus Neapel war seit Monaten arbeitslos. Mit einem Stromkabel nahm er sich das Leben - er sah keinen anderen Ausweg aus seiner finanziellen Misere. Ein Bauunternehmer aus dem sardischen Nuoro griff zur Pistole, nachdem er selbst seine Söhne entlassen musste. Kaum ein Tag vergeht in Italien, an dem die Medien nicht über Selbstmorde berichten, die eine seit Jahren verschärfte Schulden- und Wachstumskrise zum Hintergrund haben.
Vor allem Kleinunternehmer im wirtschaftlich starken Norden der drittgrößten Volkswirtschaft der Eurozone sehen oftmals keinen anderen Ausweg. Aber nicht nur Italien ist betroffen. Auch in Griechenland nahm die Zahl der Suizide in den vergangenen Jahren dramatisch zu.
Barometer für die Schuldenkrise
Genaue Selbstmordstatistiken, die mehr Aufschlüsse über die Gründe für die Verzweiflungstaten erlauben, gibt es in beiden Krisenländern nicht. Aber selbst wenn keine Abschiedsbriefe dies erklären, so wird doch deutlich, dass die erhöhte Zahl von Selbstmorden in den letzten drei Jahren - von etwa 20 Prozent Zunahme ist in beiden Ländern die Rede - ein Barometer für die Krise ist.
Unternehmer müssen auf Zahlungen der verschuldeten öffentlichen Verwaltung oft sehr lange warten. Der Zahlungsverzug bringt sie in Bedrängnis, sie können ihre Kredite nicht mehr bedienen - die Pleite droht. In Italien stehen die zahllosen Steuerschuldner zudem unter massivem Druck der Regierung, die Geld in die Kassen bringen muss. Die Abgabenlast hat sich stark erhöht, Arbeitslosigkeit grassiert in der Rezession.
Steuerzahlerbund spricht von "sozialem Massaker"
Italiens Steuerzahlerbund Federcontribuenti schaltete inzwischen wegen dieses "sozialen Massakers" die Staatsanwaltschaft in Rom ein: Dutzende Fälle von Selbstmorden seit Jahresbeginn müssten auf ihre sozialen Gründe untersucht und die Verantwortlichen ermittelt werden; in der ligurischen Metropole Genua allein seien in den vergangenen vier Monaten fünf Prozent mehr Selbsttötungen registriert worden als ein Jahr zuvor.
Der Vereinschef Carmelo Finocchiaro wirft der Regierung Monti vor, "in diesen Monaten nur neue Steuern und sonst nichts eingeführt zu haben". Die Finanzpolizei unterscheide vor allem nicht zwischen den Steuerhinterziehern und jenen, die einfach nicht mehr zahlen könnten.
Solidarität in Italien
Während der Wirtschaftsprofessor und ehemalige EU-Kommissar Monti von Europa Wachstumsspritzen verlangt, um aus dem Rezessionstal zu kommen, regen sich Widerstand und auch die Solidarität der Italiener. Tausende demonstrierten kürzlich in Rom mit einem Fackelzug für eine Unterstützung der Handwerker und Kleinunternehmer, die durch die seit Jahren andauernde Krise in ihrer Existenz bedrängt seien.
Der Bischof von Padua in Venetien, Antonio Mattiazzo, richtete einen Fonds ein, der unter Finanznöten leidenden Menschen helfen soll. Dort haben Familienangehörige von Unternehmern, die sich umgebracht haben, einen Hilfsverein gegründet: Keiner soll sich mehr - wie Ende März ein Unternehmer vor dem Finanzamt in Bologna - selbst verbrennen müssen.
20 Prozent mehr Selbstmorde und mehr
Auch in Griechenland sollen sich seit Ausbruch der schweren Finanzkrise 2009 wesentlich mehr verzweifelte Menschen das Leben genommen haben. "Aus Daten, die uns vorliegen, ist die Zahl der Suizide in den letzten drei Jahren schätzungsweise um etwa 20 Prozent gestiegen", sagt der Psychiater Vassilis Kontaxakis. Man könne jedoch nicht klar definieren, inwiefern allein die Finanzkrise dafür verantwortlich sei. Athens Gesundheitsminister Andreas Loverdos sprach vor einigen Wochen sogar von 40 Prozent mehr Selbsttötungen.
Dabei verzeichnete Griechenland vor der Krise eine der niedrigsten Selbstmordraten weltweit. Der Chef der konservativen Partei Nea Dimokratia (ND), Antonis Samaras, meinte, seine Landsleute litten an einer "nationalen Depression". Mit wirtschaftlich-sozialen Gründen: Die Einkommen schrumpften in drei Jahren um etwa ein Fünftel. Und die Arbeitslosigkeit kletterte auf Rekordwerte um nahezu 22 Prozent.
In Italien sind es fast zehn Prozent - mit dramatischen 36 Prozent in der jungen Generation. In beiden südeuropäischen Schuldenländern sind politische Rezepte gefragt, die Wachstum und Arbeitsplätze schaffen. Denn mit reinem Sparen schaffen die Regierungen keine florierende Wirtschaft. Der Schuldenabbau setzt vielmehr das Fundament für künftiges Wachstum, dass allerdings jetzt so dringend benötig wie nie zuvor.