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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Bahn und EVG im Tarifstreit Keine Einigung in Sicht – Chaos droht
Auf der Schiene droht abermals Chaos: Neuerliche Streiks sind wahrscheinlicher geworden – weil sich Bahn und die Gewerkschaft EVG im Tarifstreit einfach nicht einigen können.
Dicke Luft bei der Bahn: Im Tarifkonflikt sind sich die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) und die Konzernspitze weiter uneins. Die EVG hat das jüngste Angebot der Bahn als "unzureichend" zurückgewiesen. Der Konzern warf der Gewerkschaft daraufhin mangelnde Kompromissbereitschaft vor.
Woran es genau hakt, ist auf den ersten Blick unklar. Die beiden Verhandlungsparteien machen sich gegenseitig Vorwürfe. Fest steht: Sollten sie nicht zum Verhandlungstisch zurückfinden, könnte es erneut zu Streiks kommen. t-online erklärt die Gemengelage.
Was fordert die EVG?
Die Gewerkschaft fordert für rund 180.000 Angestellte einen Festbetrag von mindestens 650 Euro pro Monat mehr oder zwölf Prozent bei den oberen Lohngruppen. Die Laufzeit soll nach ihren Vorstellungen zwölf Monate betragen. Einmalzahlungen lehnte die EVG bislang strikt ab.
Was hat die Bahn angeboten?
Die Bahn hat der EVG am vergangenen Donnerstag ihr jüngstes Angebot unterbreitet. Dieses stellte stufenweise zwölf Prozent mehr Lohn bei den unteren Einkommensgruppen in Aussicht. Insgesamt zehn Prozent mehr sollen die mittleren Gruppen bekommen, die oberen acht Prozent.
Die Gehaltserhöhung soll dabei in zwei Stufen erfolgen, die erste soll bereits in diesem Jahr greifen. Hinzu kommt eine ebenfalls stufenweise ausgezahlte Inflationsausgleichsprämie von insgesamt 2.850 Euro, die steuer- und abgabenfrei ab diesem Juli an die Angestellten fließen könnte. Die Laufzeit für den Tarifvertrag soll nach Vorstellung von Personalvorstand Martin Seiler 24 Monate betragen.
Es handelt sich dabei um das dritte Angebot nach insgesamt fünf Verhandlungsrunden. Doch eine Einigung ist derzeit nicht in Sicht, denn die EVG lehnte den Vorschlag am Dienstagabend ab.
Worüber wird gestritten?
"Das, was derzeit auf dem Tisch liegt, ist sozial ungerecht", begründete EVG-Verhandlungsführer Kristian Loroch die Absage der Gewerkschaft. Das Angebot sei "unzureichend". Dabei scheint es vor allem einen Punkt zu geben, auf den sich die beiden Parteien bislang nicht verständigen können:
Die vorgesehene prozentuale Staffelung benachteilige "gerade die unteren Lohngruppen, für die wir diesmal deutlich mehr herausholen wollen", so Loroch. Ihre Entscheidung teilten sie der Bahn auch schriftlich mit. In dem Schreiben kritisieren er und Co-Verhandlungsführerin Cosima Ingenschay zudem die angebotene Laufzeit von 24 Monaten. Die Bahn hatte zuvor 27 Monate aufgerufen, die EVG fordert jedoch 12.
Die pauschale Ablehnung des Angebots stößt wiederum der Bahn sauer auf. Sie werfen der Gewerkschaft mangelnde Kompromissbereitschaft vor. Die EVG zeige kein Entgegenkommen und mache keine Lösungsvorschläge, sondern beharre "einfach stur auf ihren Ausgangsforderungen", kritisierte Seiler. Sie bringe damit "alle in eine schwierige Lage". Denn die Mitarbeitenden bekämen zunächst keine Lohnerhöhung und die Reisenden müssten "mit einer völlig ungeklärten Situation umgehen".
Um wie viel Geld geht es konkret?
Der Umfang der EVG-Forderungen belaufe sich auf Mehrkosten im Personalbereich von 2,5 Milliarden Euro jährlich, so Seiler. Das Angebot der Bahn hingegen habe einen finanziellen Rahmen von rund 1,4 Milliarden Euro.
Die Höhe dieser Summe ist nicht nur für die Bahnkunden von Relevanz, sondern auch für die Steuerzahler. Denn: Höhere Personalkosten dürfte die Bahn über höhere Ticketpreise wieder einzuspielen versuchen. Gelingt das nicht, sind weitere Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt nicht ausgeschlossen, da die Bahn ein hundertprozentiger Staatskonzern ist.
Was hat die Gewerkschaft der Lokführer mit all dem zu tun?
Die Beschäftigten der Bahn sind nicht alle gewerkschaftlich bei der EVG organisiert. Auch die Gewerkschaft der Lokführer (GDL) wirbt um Mitglieder. Mit beiden Gewerkschaften verhandelt die Bahn Tarifverträge, teilweise für dieselben Berufsgruppen.
Welcher Tarifvertrag angewendet wird, hängt dann davon ab, welche Gewerkschaft im jeweiligen Unterbetrieb der Bahn mehr Mitglieder hat. Nach Angaben der Bahn werden so aktuell in 282 der 300 Betriebe die EVG-Verträge verwendet, in 18 Betrieben gelten die Tarife der GDL.
Die unterschiedlichen Gewerkschaften haben dementsprechend nicht nur ein Interesse daran, sich gegenüber der Bahn durchzusetzen, sondern auch um Mitglieder zu konkurrieren. Während die EVG schon verhandelt, gelten die GDL-Tarife noch bis Ende Oktober. Es ist sehr wahrscheinlich, dass GDL-Chef Claus Weselsky danach ähnliche Forderungen stellen wird – und sollte dem nicht entsprochen werden, ebenfalls zum Arbeitskampf aufruft.
Kommt es nun abermals zu Streiks?
Damit droht zumindest die EVG. "Kurzfristig wird es sicher noch mal einen Warnstreik geben", kündigte EVG-Verhandlungsführerin Cosima Ingenschay an. Über den genauen Zeitpunkt berate man die nächsten Tage, er würde zwei Tage im Voraus angekündigt. Damit könnte es frühestens am kommenden Montag zur Arbeitsniederlegung kommen.
Ein möglicher Streik soll nicht am kommenden Wochenende stattfinden, so Ingenschay, da man die Gedenkfeierlichkeiten zum Zugunglück in Eschede nicht stören wolle. Bei dem bisher schwersten Zugunglück in der Bundesrepublik gab es am 3. Juli 1998 über 200 Tote und Verletzte.
"Die DB AG ist dringend aufgefordert, ihr Angebot umgehend neu auszurichten." Er forderte die Bahn auf, am besten noch am Mittwoch "mit uns weiterzuverhandeln", sagte Loroch. Weitere Verhandlungen seien aus seiner Sicht auch im Interesse der Bahn. "Denn solange wir am Verhandlungstisch sitzen, wird nicht gestreikt."
Bei der Bahn wird die Lage anders eingeschätzt. Nach der Absage an ihr jüngstes Angebot hat Personalchef Seiler weitere Gespräche zunächst abgelehnt. "Es liegt eindeutig an der EVG, sich zu bewegen." Ein weiteres Angebot wolle er nicht ohne Kompromissbereitschaft der Gegenseite unterbreiten. "Sobald ein entsprechendes Signal kommt, bin ich wieder bereit zu sprechen."
Die Situation scheint festgefahren. In den seit Februar laufenden Verhandlungen hat die EVG bereits zweimal gestreikt. Einen dritten Arbeitskampf, der 50 Stunden dauern sollte, sagte die Gewerkschaft kurzfristig ab, nachdem sie sich mit der Bahn vor dem Arbeitsgericht Frankfurt in einem der entscheidenden Punkte auf einen Vergleich geeinigt hatte.
Nun könnten die Streiks also in die nächste Runde gehen. "Wir denken momentan an Warnstreiks", sagte Loroch. Allerdings sei im weiteren Verlauf eine Urabstimmung unter den Mitgliedern über unbefristete Streiks eine Option. Bei einem positiven Votum wären dann auch unbefristete Streiks möglich.
- Eigene Recherche
- Pressestatement der Deutschen Bahn
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und Reuters