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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Kiss ungeschminkt "Haben die gleichen fatalen Fehler gemacht"
Hört Kiss wirklich auf? Eine der erfolgreichsten Rockgruppen ist auf Abschiedstour. t-online traf Paul Stanley und entlockte dem Make-up-Rocker die ungeschminkte Wahrheit über das Ende der Band.
Fast 50 Jahre nach ihrer Geburtsstunde naht nun das Ende für Kiss. Die Gründungsmitglieder Paul Stanley und Gene Simmons haben es selbst eingeläutet. Begleitet werden sie auf ihrer Abschiedstour von den beiden "Neuen" – Gitarrist Tommy Thayer, der 2002 zur Gruppe stieß, und Drummer Eric Singer, der seit 1991 mit ein paar Unterbrechungen den Takt vorgibt.
t-online trifft Paul Stanley am Tag nach dem Tourauftakt (weitere Deutschland-Daten: 13. Juni Hamburg, 24. Juni Frankfurt, 28. Juni Stuttgart) in einem Dortmunder Hotel. Statt in High Heels, Kostüm und geschminkt betritt ein Jeans, Lederjacke und Sonnenbrille tragender Paul Stanley den Raum. Das "Starchild" – so seine Kiss-Figur – spricht dabei ungewohnt offen über Privates. Seit 2005 ist er mit Erin Sutton verheiratet, gemeinsam hat das Paar drei Kinder. Stanley hat zudem einen weiteren Sohn aus seiner ersten Ehe. Aber auch über Kiss, das Alter und sein Leben als Rockstar gibt der 70-Jährige bereitwillig Auskunft.
t-online: Was sagt eigentlich Ihre Frau Erin zum Abschied von Kiss? Das bedeutet ja auch für sie und Ihre Familie eine Veränderung.
Paul Stanley: Ich habe das Glück, dass meine Frau Erin mich ganz gut findet (lacht). Meine Familie wird mich auch während der Tour hier in Europa besuchen kommen. Ich denke, dass sie sich freuen, dass ich mehr bei ihnen sein werde. Ich versuche die Pläne für die Band stets so zu legen, dass ich viel zu Hause sein kann. Es ist nicht so, dass ich Monate am Stück unterwegs bin.
Ist Ihnen dieses Vor-Ort-Sein wichtig?
Natürlich. Wenn ich daheim bin, fahre ich meine Kinder jeden Morgen zur Schule und mache ganz normale Dinge. Ich werde auch nach diesen Konzerten nicht einfach nur im Haus sitzen und Däumchen drehen. Ich male, ich schreibe, ich habe immer etwas zu tun. Daher wird meine Frau nicht nach Hause kommen und denken: "Du schon wieder ..." (lacht).
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Sie sagten, dass Sie immer viel Zeit für die Familie einplanen. War das früher nicht so? Mussten Sie erst lernen, die richtige Balance zu finden?
Ja, das war nicht immer so. Das Leben ist ständig in Bewegung. Und auch, was man vom Leben möchte, ändert sich mit der Zeit. "Zuhause" bedeutet mir heute etwas ganz anderes als zu Anfang meiner Karriere. Früher wollte ich unterwegs sein. Es gab Frauen, es gab Partys, es gab viel Trubel. Ich habe mir später oft die Frage gestellt, wer ich eigentlich bin, wenn ich nicht auf der Bühne stehe. Ich kenne Musiker, die nur auf Tour sind. Und sie sind nur auf Tour, weil sie kein Leben haben.
Das Make-up von Kiss kennt wohl jeder. Sie sitzen mir jetzt ungeschminkt gegenüber. Werden Sie so eigentlich oft erkannt?
Tatsächlich ja. Ich war in genug TV-Shows und Zeitungen, dass die Leute mein Gesicht auch so erkennen. Andere Kollegen, die eben nicht so ein auffälliges Make-up haben, werden aber sicherlich deutlich öfter auf der Straße erkannt als ich.
Genießen Sie es, dass Sie dadurch auch mal untertauchen können?
In Los Angeles laufen so viele Berühmtheiten rum, da falle ich gar nicht so auf. Ich kann in den Supermarkt gehen und die Leute lassen mich meistens in Ruhe. Es stört mich aber nicht, wenn ich erkannt und angesprochen werde. Diese Leute sind immerhin der Grund, dass ich meine Lebensmittel bezahlen kann.
Auch ein Grund, warum Sie sich Ihre Lebensmittel leisten können, ist die Abschiedstour. An irgendeinem Punkt werden Sie und Ihre Bandkollegen zusammengesessen und entschieden haben, dass dies eine eben solche wird. Wie kam es dazu?
Wir haben früher nie über das Ende der Band gesprochen, aber es musste irgendwann getan werden. Was wir jetzt machen, sehe ich als Ehrenrunde an. Jeder soll noch einmal oder vielleicht zum ersten Mal sehen, warum diese Band so ein Phänomen war. Es gab und gibt niemanden wie uns. Gene und mir wurde immer mehr bewusst, dass wir nicht jünger werden. Die Shows werden für uns immer anstrengender.
Wie halten Sie sich fit? Wie bereiten Sie sich auf diese Anstrengung vor?
Ich bereite mich nicht vor, weil ich immer vorbereitet bin (lacht). Ich bin niemand, der fanatisch trainiert. Dennoch ist es wichtig, fit zu bleiben. Nicht nur körperlich, sondern auch geistig. Ich fahre dreimal die Woche etwa 40 Kilometer Fahrrad. Ich mache immer etwas Sport und nicht nur direkt vor einer Tour.
Fühlen Sie sich wie 70?
Absolut nicht. Ich kann gar nicht richtig fassen, dass ich schon so alt bin. Als ich jung war, hatte ich eine Idee davon, was 70 sein bedeuten würde. Aber diese Vorstellung deckt sich nicht mit dem Hier und Jetzt. Ich frage mich manchmal, ob ich ein Idiot bin, weil ich noch in diesen Klamotten rumlaufe (lacht). (Er trägt eine schwarze Skinny-Jeans, Lederjacke und farbenfrohe Nike-Sneaker, Anm. d. Red.)
Sie haben nie Drogen genommen, nie groß getrunken. Zahlt es sich jetzt aus, dass Sie den Rock'n'Roll-Lifestyle nie auf die Spitze getrieben haben?
Ehrlich gesagt: Dieser Lifestyle ist ein bisschen jämmerlich.
Wieso?
Rockstars wirken auf mich manchmal wie ein Cartoon, wie eine Karikatur. Piercings, Tattoos, Drogen – das ist doch albern. Ich frage mich immer, warum manche Leute das cool finden. "Cool" kommt von "being cool". Das hat nichts mit Kleidung oder Verhalten zu tun, sondern damit, wer man wirklich ist. Und das lässt sich nicht durch einen Ring in der Lippe ändern.
Dennoch singen Sie zum Abschluss jedes Konzerts "Rock'n'Roll all night and party everyday". Jede Party hat ein Ende: Sind das jetzt die allerletzten Europa-Auftritte?
Ich denke, dass diese Tour Mitte 2023 enden wird ... Wissen Sie, als ich gestern auf der Bühne stand, dachte ich, dass ich diese Leute im Publikum wahrscheinlich nicht mehr in dieser Form sehen werde.
Sie klingen traurig.
Es fällt mir manchmal schwer, das zu verkraften. Aber der Gedanke, dass diese Tour immer weiter und weiter geht ... nein. Das alles hätte schon längst vorbei sein sollen.
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Sie waren 2019 für die ersten Abschiedskonzerte in Europa, wollten eigentlich 2020 erneut hier auftreten. Durch Corona hat sich das jetzt um zwei Jahre verschoben.
Leider! Es ist schön, dass es wieder möglich ist. Ich denke, dass die Menschen Konzerte brauchen. Ich brauche sie auch. Über all die Jahre hatte ich immer das Gefühl, dass die Fans und die Band ein gutes Verhältnis haben. Es geht aufs Ende zu und ich möchte jetzt jedem noch mal zeigen, warum wir so lange durchgehalten haben. Ich würde eigentlich gerne mit Kiss weitermachen.
... aber?
Aber wir sind nicht wie andere Bands – wir sind Kiss! Wir tragen fast 20 Kilo schwere Kostüme und spielen zwei Stunden lange Konzerte. Manchmal sehe ich uns eher als Athleten an. Ich bin 70, diese Show zu spielen ist bald nicht mehr möglich. Würde ich ganz normale Kleidung tragen, so wie jetzt, könnte ich das bestimmt machen, bis ich 90 bin.
Kiss waren in den Achtzigerjahren schon ungeschminkt. Wäre das nicht noch einmal eine Option?
Man kann nie zurückgehen. Kiss und dieser Look bedeuten vielen Menschen so viel. Es hatte seine Gründe, warum wir viele Jahre ohne dieses Make-up auftraten – es hatte aber auch seine Gründe, dass wir das in den Neunzigern wieder rückgängig gemacht haben.
Ich stelle mir das Gefühl, welches Sie auf der Bühne haben, als bittersüß vor. Sie spielen vor einem enthusiastischen Publikum, aber wir alle wissen, dass sich Kiss auf den letzten Metern befinden.
Es ist überwältigend, gleichzeitig auch hart. Wir sprechen hier über fast 50 Jahre meines Lebens. Es war eine fantastische Reise bis hierhin und es wird noch emotional werden. Aber es gibt keine Alternative.
Irgendwann kommt dieses eine letzte Konzert. Stellen Sie sich Folgendes vor: Die Show ist vorbei, Sie sind im Hotel, gehen schlafen, wachen auf, reisen nach Hause, haben Abendessen mit der Familie. Am nächsten Morgen stehen Sie auf und diese Tour, dieses Kapitel ist endgültig vorbei. Wie werden Sie sich fühlen?
Ich kann mir das gerade noch gar nicht so richtig vorstellen. Es ist mir ein Trost zu wissen, dass Kiss auch nach dieser Tour nicht wirklich enden. Kiss ist für immer.
Also doch kein Ende?
Die Menschen wollen Kiss. Ich auch. Nur, weil wir keine Konzerte mehr spielen werden, ist ja nicht alles, was diese Band gemacht hat aus der Welt. Ich werde das alles vermissen, aber die Musik und Erinnerungen bleiben.
Wenn Sie jetzt auf die letzten 50 Jahre auf der Bühne zurückblicken: Sind Sie auf die Erfolge stolz oder demütig eben, weil Sie eine Karriere mit mehr Höhen als Tiefen hatten?
Beides. Ich weiß es wirklich zu schätzen, was ich bekommen habe, aber auch, was ich vielen Menschen geben konnte. Im Grunde bin ich unheimlich dankbar. Ich bin mir aber auch der Erwartungen der Menschen an mich und die Band bewusst. Ich möchte jeden Einzelnen begeistern und gebe jetzt noch ein letztes Mal alles.
- Eigenes Interview mit Paul Stanley