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Biathlon 2020/21 - Ricco Groß: "Trotz der Umstände kann sich Bö nur selbst schlagen"


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Ricco Groß über Schempp und Co.
"Das deutsche Team nimmt ja keine Luschen mit"

  • T-Online
InterviewVon Alexander Kohne

23.11.2020Lesedauer: 5 Min.
Ricco Groß: Die deutsche Biathlon-Legende steht noch bis 2022 beim Österreichischen Skiverband (ÖSV) als Trainer des Herrenteams unter Vertrag.Vergrößern des Bildes
Ricco Groß: Die deutsche Biathlon-Legende steht noch bis 2022 beim Österreichischen Skiverband (ÖSV) als Trainer des Herrenteams unter Vertrag. (Quelle: EPade/imago-images-bilder)

Biathlon ohne Fans? Das ist für viele Anhänger der stimmungsvollen Sportart undenkbar. Auch Vierfach-Olympiasieger Ricco Groß kann sich damit zum Saisonstart noch nicht richtig anfreunden. Doch die Saison hält viele weitere Einschränkungen bereit.

Die Corona-Pandemie hat den bewährten Zeitplan des Biathlon-Zirkus auf den Kopf gestellt. Saisonstart ist am Samstag (ab 11 Uhr im Liveticker von t-online) in Kontiolahti und nicht wie sonst in Östersund. Die ersten sechs Weltcupstationen wurden zudem zusammengestrichen. Doch nicht nur deshalb liegt vor den Skijägern eine Saison voller Ungewissheit. Die deutsche Biathlon-Legende Ricco Groß – mittlerweile Trainer der Österreicher – erklärt, was sich noch alles ändert.

t-online: Herr Groß, die Corona-Pandemie hat auch den Wintersport fest im Griff. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass alle 68 Weltcuprennen regulär über die Bühne gehen?

Ricco Groß: Ganz ehrlich: Das kann aktuell niemand prophezeien. Ich hoffe, dass alles wie geplant stattfinden kann. Denn die IBU (der Biathlon-Weltverband, Anm. d. Red.) hat mit der Zusammenlegung der ersten Weltcups von ursprünglich sechs auf drei Standorte (Kontiolahti, Hochfilzen und Oberhof) reagiert, um das Infektionsrisiko zu minimieren. Das wird den Sportlern ein Stück weit entgegenkommen, weil der Reisestress reduziert wird und die Organisation einfacher ist.

Welche Einschränkungen gibt es sonst?

Schon einige. Allen voran der Verzicht auf Zuschauer bei den Weltcups und natürlich viele Corona-Tests. Ich selbst wurde seit Beginn des ersten Lockdowns im April mindestens 15 Mal getestet – zum Glück immer negativ. Außerdem gibt es die relativ simplen Sachen wie regelmäßiges Desinfizieren und die Einhaltung der Abstandsregeln, aber auch zeitversetztes Essen in unterschiedlichen Gruppen im Hotel. Während eines Weltcups spielt sich das Leben eigentlich nur zwischen Hotelzimmer und Wettkampfanlage ab. Das wird für die Athleten natürlich eher langweilig. Aber in meinem Team ist allen klar, dass das nötig ist.

Ist der Lagerkoller nicht vorprogrammiert?

Naja, das liegt immer am Umfeld (lacht). Wir versuchen, die Stimmung im Team hochzuhalten und führen viele Einzelgespräche. Oberste Priorität ist, dass die Athleten auch unter diesen schwierigen Bedingungen ihre Topleistung abrufen können. Aber das ist natürlich eine Herausforderung.

Ricco Groß holte als aktiver Biathlet vier Olympische Goldmedaillen. Nach seinem Karriereende 2007 arbeitete er u. a. als TV-Experte. Von 2015 bis 2018 war Groß Cheftrainer der russischen Biathlon-Herren. Aktuell arbeitet er in gleicher Position beim österreichischen Team.

Wie werden sich die leeren Tribünen auf die Athleten auswirken?

Zumindest zum Weltcupstart in Kontiolahti braucht man sich da keine Sorgen zu machen – so wenige Fans wie dort normalerweise zur Strecke kommen (lacht). Im Ernst: Am stärksten wird sich das an den Standorten mit vielen Zuschauern wie Hochfilzen, Oberhof oder Antholz auswirken. Die Stimmung dort setzt bei den Athleten natürlich zusätzliche Motivation frei. Und bringen wir es auf den Punkt: Wenn das wegfällt, wird ein Stück weit Emotion fehlen.

Gibt es Athletentypen, die davon profitieren?

Ältere, gestandene Athleten kennen natürlich die große Bühne. Aber für jüngere Athleten ist es vielleicht ganz gut, ohne diesen Zuschauerdruck anzutreten. Die werden davon sicherlich ein bisschen profitieren. Denn vor 20.000 oder 30.000 Zuschauern anzutreten, kann man nicht im Training simulieren.

Kommen wir zu Ihrem Team. Der vierfache Olympiamedaillengewinner Dominik Landertinger hat seine Karriere im Sommer beendet. Fallen die Ziele nun automatisch kleiner aus?

Zuerst einmal: Einen Dominik Landertinger zu ersetzten, wird nicht möglich sein. Der FC Barcelona kann auch nicht sagen: Okay, dann spielen wir halt ohne Messi. Dominik hat eine tolle Karriere gehabt und diese mit WM-Bronze im Februar in Antholz beeindruckend beendet. Die Ziele für uns als Team sind aber trotzdem wie in der letzten Saison: Wir wollen mindestens Platz fünf im Nationencup, im Gesamtweltcup drei Athleten unter die Top 25 bringen, einen davon in den Top 10 platzieren und wieder mindestens eine WM-Medaille gewinnen.

Zuletzt ist das beinahe komplett gelungen. Nur die Top-10-Platzierung fehlte. Julian Eberhard (20.), Simon Eder (24.) und Felix Leitner (22.) waren davon allerdings alle ein gutes Stück entfernt.

Stimmt. Das wollen wir natürlich ändern – zumal das in meiner ersten Saison hier gelungen ist (2018/19 belegten Eder und Eberhard die Plätze 8 und 9, Anm. d. Red.). Deshalb bin ich sehr zuversichtlich, dass wir Spitzenleistungen wie von Simon, der im Dezember und Januar in jedem Rennen unter den besten 15 war, oder die Phase, in der Juli (Julian Eberhard, Anm d. Red.) über sechs Rennen immer zwischen Platz drei und acht reingekommen ist, konservieren können.

Sie haben zuvor Lionel Messi und Barcelona angesprochen: Im Fußball hat die Corona-Pandemie für einige Besonderheiten gesorgt. Die Heimteams sind ohne Zuschauer beispielsweise deutlich weniger erfolgreich. Sind solche Effekte auch im Biathlon denkbar, sodass Superstar Johannes Thingnes Bö in diesem Jahr womöglich nicht – wie erwartet – den Gesamtweltcup gewinnt?

Bö ist natürlich der heißeste Favorit. Trotz der besonderen Umstände kann er sich im Prinzip nur selbst schlagen. Aber es gibt einige Konkurrenten, die sich auch etwas ausrechnen – allen voran Alexander Loginow. Der hat zuletzt eine starke Saison gehabt und wird sicher auf den Gesamtweltcup schielen. Auch die Franzosen haben ein tolles Team und dazu eine brutale Gruppendynamik. Die Jungs trainieren viel zusammen und schaukeln sich leistungsmäßig gegenseitig hoch. Der Stärkste ist für mich Quentin Fillon Maillet. Dazu gibt es genügend deutsche Athleten, die in der Lage sind, ganz vorne mitzumischen.

Apropos. Sie haben über die in der vergangenen Saison teilweise im zweitklassigen IBU-Cup startenden Simon Schempp und Erik Lesser gesagt: "Die sind im Bereich der absoluten Weltspitze. Form kommt und geht, Klasse bleibt."

Genau, weil die beiden eben oft genug nachgewiesen haben, dass sie absolute Weltklasse sind. Im letzten Jahr ist Erik als Ersatzmann zur WM gereist und hat – aus dem IBU-Cup kommend – zwei Medaillen geholt. Er hat einfach diese extreme Klasse und Ruhe am Schießstand. Wenn der drei Tage vorher nur Fehler schießt, trifft er die Scheiben im Wettkampf dann trotzdem – weil er's draufhat. Simon hat sich zuletzt so gut wie lange nicht gefühlt. Zwar hatte er in der unmittelbaren Saisonvorbereitung etwas Pech, weil ihm sein Zeh zu schaffen gemacht hat, aber auch bei ihm bin ich überzeugt: Wenn Simon am Start ist, wird er überzeugen. Das deutsche Team nimmt ja keine Luschen mit (lacht). Die sechs Nominierten haben alle das Potenzial, mindestens unter die Top 15 zu laufen und auf das Podium zu schielen.

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Und wer gewinnt bei den Damen den Gesamtweltcup?

Das wird wieder Richtung Italien gehen, also entweder Dorothea Wierer oder Lisa Vittozzi. Aus deutscher Sicht ist momentan nur Denise Herrmann in der Lage, ganz vorne mitzumischen.

Herrmann hat in der Saisonpause erneut an ihrem Schießen gearbeitet. Trauen Sie ihr den ganz großen Wurf – sprich den Gesamtweltcupsieg – zu?

Ja, das ist auf jeden Fall möglich. Mit ihrer überragenden läuferischen Klasse hat sie einen großen Vorteil gegenüber allen anderen Athletinnen. Wenn sie das mit guten Schießleistungen kombinieren kann, ist sie natürlich in der Lage, das Ding komplett zu gewinnen.

Viele Fans wünsche sich Ricco Groß zurück im deutschen Trainerteam. Ist eine Rückkehr zum DSV im Bereich des Möglichen oder gibt es da gar keine Chance?

Wie heißt es so schön in der Werbung: Nichts ist unmöglich… Aber zuerst einmal läuft mein Vertrag in Österreich noch bis 2022. Darüber hinaus gilt, was ich auch bei meinen anderen Vertragslagen gesagt habe: Es ist nicht der Trainer, der an einen Verband herantritt und sagt „Ich will Euch trainieren“, sondern umgekehrt. So war es 2015 vor meinem Wechsel nach Russland und auch vor zwei Jahren vor meinem Wechsel zum ÖSV.

Da sind die Gespräche schon sehr, sehr früh geführt worden, um mir das Ganze schmackhaft zu machen. Denn es geht ja auch um die Arbeitsbedingungen: Was findet man vor? Welche Athleten sind dabei? Der Aufgabenbereich muss ganz einfach stimmen.

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