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Essstörungen im Leistungssport | "Verantwortliche versagen auf ganzer Linie"


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Tabu-Thema im Sport
"10 Prozent sterben – aber es interessiert kaum jemanden"

  • David Digili
InterviewVon David Digili

Aktualisiert am 10.04.2023Lesedauer: 13 Min.
Tränen: Miriam Neureuther bei der Bekanntgabe ihres Aus für die Olympischen Spiele in Sotschi 2014. Die Biathletin hat auch über andere Drucksituationen in ihrer Karriere gesprochen.Vergrößern des Bildes
Tränen: Miriam Neureuther bei der Bekanntgabe ihres Aus für die Olympischen Spiele in Sotschi 2014. Die Biathletin hat auch über andere Drucksituationen in ihrer Karriere gesprochen. (Quelle: imago sportfotodienst)

Essstörungen und Magersucht können im Profisport zu einem Teufelskreis werden. Ein Experte spricht offen über die Gefahren – und klagt nicht nur den deutschen Sport an.

Ihre Sätze sorgten für Aufsehen: Als die frühere Biathletin Miriam Neureuther und die Ex-Turnerin Kim Bui Anfang März in einer Reportage des BR offen über ihre Erfahrungen mit Essstörungen sprachen, schreckte Sport-Deutschland auf. "Der Sport war mein Leben. Für ihn habe ich alles getan, auch Gewicht verloren", erklärte Neureuther in "Hungern für Gold". Sie hatte selbst zwar keine Essstörung, für den Erfolg gehungert hat sie dennoch. Anders war die Lage bei Kim Bui. Sie hatte eine Essstörung und war 15 Jahre alt, als sie zum ersten Mal die Nahrung wieder hervorwürgte: "Es musste raus, ich durfte einfach nicht zunehmen."

Einer, der ganz genau zugehört hat, ist Christian Frommert. Der Kommunikations- und Mediendirektor der TSG Hoffenheim war von 2005 bis 2008 Sprecher des Team Telekom im Radsport, wurde so landesweit bekannt. Frommert kämpfte über Jahre selbst gegen die Magersucht, veröffentlichte dazu 2013 das Buch "'Dann iss halt was!' Meine Magersucht – wie ich gekämpft habe – wie ich überlebe", in dem er schonungslos über seine persönlichen Erfahrungen schreibt.

Heute engagiert sich Frommert weiter für die Aufklärung über Essstörungen. Im Interview spricht er über die Situation im deutschen Sport, die Gefahren für Athleten – und die Probleme in der öffentlichen Diskussion.

t-online: Christian Frommert, die Aussagen von Miriam Neureuther und Kim Bui haben für Aufsehen gesorgt. Wie ist der deutsche Sport auf Magersucht und Essstörungen eingestellt?

Christian Frommert (56): Überhaupt nicht. Nicht nur die Verantwortlichen im Sport versagen in Bezug auf dieses komplexe Thema auf ganzer Linie. Was daran liegt, dass keiner auch nur annähernd eine Ahnung davon hat oder vielleicht auch haben will. Bei einer anonymen Umfrage unter Sportlerinnen und Sportlern vor ein paar Jahren gab es eine relativ hohe Anzahl, die angab, unter Essstörungen zu leiden oder gelitten zu haben. Da war der Sport völlig blank und seitdem hat sich ganz offenbar nichts geändert. Wenn wie jetzt zwei Sportlerinnen den Mut haben, an die Öffentlichkeit gehen, reagieren plötzlich alle reflexartig ganz erschüttert und betroffen. Aber ich prophezeie: Das wird nicht lange vorhalten.

Warum das?

Bei Olympischen Spielen oder Weltmeisterschaften hört man oft: "Wie kann es denn sein, dass sie Gold verpasst hat? Dass er nur Zweiter geworden ist?" Da höre ich aber nicht, dass bei der einen oder dem anderen die Beckenknochen schon hervortreten oder der BMI bedenkliche Ausmaße annimmt. Immer, wenn es nicht so läuft, heißt es, der deutsche Sport brauche dringend mehr Leistungsgedanken. Von Fürsorge, Achtsamkeit und Respekt höre ich da nicht allzu viel.

Es geht zu viel um den Erfolg?

Nur darum geht es. Ich will das auch nicht per se verteufeln. Wir reden ja nun einmal von Leistungssport. Aber ich plädiere dafür, Rücksicht zu nehmen, Leistungen einzuordnen und vor allem ein Umfeld zu schaffen, in dem achtsamer, verantwortungsvoller mit jungen Menschen umgegangen wird. Was meinen Sie, was passiert, wenn in der herrschenden Atmosphäre plötzlich jemand kommt und sagt, er habe Magersucht?

Erzählen Sie.

Diese Person wird keine große Zukunft mehr haben in ihrem Sport, weil das System darauf nicht vorbereitet ist. Die Betroffenen trauen sich das erst nach Karriereende – oder wenn sie gesundheitlich wirklich total am Ende sind. Nicht nur bei diesem Thema orientieren sich viele Verantwortliche allzu oft an dem japanischen Sprichwort, das durch drei Affen symbolisiert wird: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.

Das System ist die Ursache?

Wie so oft gilt es auch hier zu differenzieren. Im normalen Sportbetrieb ist der Druck enorm hoch. Im Profifußball werden schon Talente früh mit reichlich Geld überschüttet. Ich habe einige Jahre unter anderem auch mit Olympiateilnehmern gearbeitet, die enormen Verzicht üben, das Vielfache eines Fußballers trainieren, aber nur ein Bruchteil verdienen. Der Druck, außergewöhnliche Leistungen zeigen zu müssen, um an Sponsorengeld zu kommen, sich ein Trainingslager leisten zu können, ist enorm. Dafür nehmen Sie schon einiges in Kauf und gehen auch über Grenzen. Wenn der Gewichtsverlust Erfolg verspricht und Ihr Trainer zum Beispiel sagt: "Komm, noch zwei Kilo weniger, Du hast zu viel drauf", dann wird das seine Wirkung nicht verfehlen.

Es ist die Perspektive?

Es kommt gar nicht immer auf Medaillen an. Es geht um individuelle Ziele. Die eine möchte es auch mal unter die ersten Zehn, der andere es in den zweiten Tag der Entscheidungen schaffen. Und wenn das dann neben intensiverem Training auch durch weniger essen erreicht werden kann – wer würde das nicht versuchen? Im Erfolgsfall müssen sie zu den nächsten zwei Kilo gar nicht mehr gezwungen werden, das machen sie dann freiwillig. Schon entsteht eine Abwärtsspirale, die kaum mehr aufgehalten werden kann.

Es gibt keinen Ausweg?

Dazu bräuchte es Verantwortungsbewusstsein und aktive Hilfe. Aber woher soll die kommen? Die Abhängigkeiten und Ziele sind vielfältig. Trainer und Verantwortliche üben Druck auf die Sportler aus – auch weil es ihnen um sich selbst geht, um ihren eigenen Erfolg. Erfolg bringt Anerkennung. Anerkennung bringt Öffentlichkeit. Öffentlichkeit bringt Förderung. Von der finanzieren sich Einzelsportler, Klubs, Verbände ...

Aber die Sportler machen aus den genannten Gründen ja auch mit …

Ich möchte niemanden als Opfer entschuldigen. Es gibt natürlich auch eine Eigenverantwortung. Die aber wird einem in bestimmten Systemen schon sehr schwer gemacht, möchte ich es einmal vorsichtig formulieren. Es geht um Träume, um Ehrgeiz und auch um Existenzen. Da gehen sie auch schon mal einen Pakt mit verteufelt unvernünftigen Konsequenzen ein. Ich kann durch meine eigene Erfahrung mit jedem mitfühlen, der sagt: Jedes Gramm weniger ist wie Doping, wie ein Booster. Sie fahren mit dem Fahrrad plötzlich schneller die Berge hoch, das Laufen fällt leichter, alles ist unbeschwerter. Und danach werden Sie süchtig und sagen sich: Es geht immer noch weniger, weniger, weniger. Wenn Sie da keiner stoppt – oder im schlimmeren Fall sogar noch anfeuert –, wird die Leichtigkeit bald zur unerträglichen Last.

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Es setzt also zunächst ein positiver Effekt im Kopf ein?

Es ist das absolute Hochgefühl. Erfolgserlebnisse gepaart mit diesem Glücksgefühl, annähernd schwerelos zu sein, das macht süchtig. Doch einer Euphorie folgt eben immer der Absturz. Bis Sie merken, dass Sie dieses Hungern krank macht – dauert es eine Zeit. Es wird oft behauptet: Wenn Du magersüchtig beziehungsweise essgestört bist, kannst Du doch keine Leistung bringen – doch, kannst Du. Man kann unglaublich viel Leistung bringen, da ist ganz viel Wille dabei, das Dopamin, dieses Gefühl "ich bin so leicht". Sie merken zwar irgendwann, dass ihnen andere Dinge schwerfallen. Aber vor allem für Ausdauersportarten gilt: je leichter, je besser.

Ist es nicht auch schon zu spät, wenn man selbst bemerkt, dass man ein Problem hat?

Das ist der Punkt. Es dauert lange, sehr lange, dass Sie sich eingestehen, krank zu sein. Wenn Sie überhaupt zu dieser Erkenntnis gelangen. Auf jeden Fall kriegen Sie den Schalter nicht mehr umgelegt. Die Magersucht hat einen voll im Griff und säuselt Ihnen nur positive Dinge ins Ohr.

Ist gerade das die größte Gefahr, in diesem Fall für Sportlerinnen und Sportler? Diese Mischung aus Euphorie und Ignoranz?

Magersucht ist eine so komplexe und tückische Krankheit. Sie hat so viele Facetten, sowohl was das eigene Verhalten anbelangt als auch das der Menschen, die Sie umgeben. Die Leute, die einem sagen: "Du bist aber dünn geworden, Du musst ein bisschen aufpassen" – die sind sofort auf Ihrer Liste, mit denen wollen Sie nichts mehr zu tun haben.

Ein Abwehrmechanismus?

Magersüchtige sind sich ja nicht selten selbst ein Rätsel. Sie wollen sich zunächst meist gar nicht helfen lassen. Das macht alles so schwer zu verstehen. Umso wichtiger ist es, sich damit zu beschäftigen, gerade in einem Umfeld, in dem Essstörungen Teil des Geschäfts sind oder sein können. "Geht Dich gar nichts an, ich esse, was ich will. Ich hab' das schon im Griff." Das sind Sätze, die fallen und die dafür sorgen sollen, Mahner auf Distanz zu halten. Aber es gibt eben mehr als genug, die eher an der Oberfläche unterwegs sind und voller Entzücken feststellen: "Du hast aber schön abgenommen" – allein schon der Ausdruck "schön" ist dabei verräterisch. Sie werden also auch noch gebauchpinselt. Bei Profisportlern kommt dann auch noch die Leistungssteigerung dazu. Ich gewinne plötzlich, ich bin angesehener, ich werde schneller, mein Trainer sagt: "Na siehst Du, geht doch. Das hast Du toll gemacht! Und jetzt noch zwei Kilo!"

Genau davon hat Miriam Neureuther ja auch berichtet …

Was Frau Neureuther sagt, kann ich nur bestätigen. Und das geht immer so weiter. Aus dieser Mühle kommen Sie selbst nicht mehr raus, alleine schaffen Sie das nicht. Das schafft ja nicht mal jemand, der keinen Leistungssport betreibt – und der Leistungssport ist noch mal ein viel größerer Trigger, weil er Ihnen wahlweise Geld, Ruhm und Ehre einbringt. Sie nehmen ab und erleben in der Folge eine direkte positive Konsequenz: schneller, höher, weiter – da braucht es also wirklich unglaublich verantwortungsbewusste und vor allem extrem hartgesottene Menschen im Umfeld, die Sie von dem Trip abbringen, denn der Magersüchtige versucht zunächst einmal alle Zweifler wegzubeißen.

Für Nichtbetroffene ist das ja meistens der erste Gedanke: Wieso ist da niemand im Umfeld, der hilft?

Das ist auch nicht so einfach. Versuchen Sie mal jemandem zu helfen, der sich nicht helfen lassen will, der nachgerade aggressiv darauf reagiert. Da kommt schnell Frustration auf und dann lassen Sie das auch ganz schnell bleiben mit dem Helfen. Oder die Ratschläge erschöpfen sich in einem Genervten: "Dann iss halt was." In der Ansprache von Sportlerinnen und Sportlern liegt die Latte für eine Intervention noch höher, da denken viele: "Puh, da sage ich lieber erst mal nix, da will ich mich nicht einmischen." Die beste Freundin oder der beste Freund wiederum, denen egal ist, wie viele Medaillen Du holst, die einfach nur um Dich besorgt sind und sagen, was sie denken – die werden kaltgestellt: "Halt Dich da raus!". Sehr oft halten sie sich dann auch irgendwann raus. Da gehen Freundschaften zu Bruch. Es gibt aber noch ein ganz anderes großes Problem.

Ja?

Die Erkrankung Essstörung hat keine Lobby. Dabei ist Magersucht die Sucht mit der höchsten Mortalitätsrate. Zehn Prozent der Magersüchtigen sterben daran, wahrscheinlich sogar mehr. Aber es interessiert kaum jemanden. Daraus wiederum entsteht eine gewisse Hilflosig- und auch Gleichgültigkeit. Denn letztlich sind diese Hungerhaken einem eher suspekt und überhaupt an ihrer Lage ja selbst schuld.

Es wird weggeschaut?

Es ist ein Segen, dass sich sehr viele Menschen für verschiedene Projekte, Initiativen und Einrichtungen engagieren. Nur so kann unsere Gesellschaft funktionieren. Es wird enorm viel gespendet – an persönlichem Einsatz und an finanziellen Mitteln. Das ist richtig und wichtig. Die Sensibilitäten sind da aber recht eindeutig verteilt. Ich behaupte: Wenn Sie sagen, Sie sammeln für Magersüchtige – werden Sie eher sparsam bedacht.

Warum ist das so?

Für viele ist das Thema abstrakt, sogar eher abstoßend. Viele können nicht einmal Bulimie von Magersucht unterscheiden. Es fallen Sätze wie: "Das sind doch die, die immer kotzen" oder: "Die wollen doch einfach nur dünn sein, die sind doch selbst dran schuld." Und das Wichtigste: Kaum jemand versteht die Anorexie als Sucht. Für die meisten ist Sucht immer ein Problem mit dem Übermaß: Ich esse zu viel, ich rauche zu viel, ich nehme Drogen. So ist Sucht definiert. Dass man süchtig danach sein kann, nichts zu sich zu nehmen, das verstehen die meisten einfach nicht.

Was ist für Sie die Lösung?

Es muss zunächst einmal eine Sensibilität dafür geschaffen werden, dass Essstörungen überhaupt ein relevantes Problem darstellen. Eines, das in Pandemiezeiten sogar noch viel größer geworden ist. Ich möchte das an einem krassen und auch bizarren Beispiel erklären. Auf Burnout wurde lange eher argwöhnisch geblickt. Mittlerweile verstehen die meisten, dass es eine tückische und langwierige Krankheit ist. Nicht selten wird damit der Gedanke verbunden, dass der oder die Betroffene viel gearbeitet und sich für eine Aufgabe aufgerieben hat.

Der "Einsatz" wird über alles gestellt ...

Da schwingt fast so etwas wie Anerkennung mit. Jeder weiß: "Burnout – da brauchst Du jetzt aber viel Ruhe, das kann ganz lange dauern, bis Du da wieder auf die Beine kommst." Wenn Sie aber zu jemandem sagen: "Ich habe Magersucht" – da gucken Sie die Leute schon recht irritiert an. Dass auch dahinter innere Kämpfe, Ängste, traumatische Erfahrungen oder Selbstzweifel stehen, wird nicht gesehen. Die Schublade ist da recht übersichtlich: "Magersucht? Das haben doch nur junge Mädchen." Die meisten Menschen stehen dieser Krankheit achselzuckend gegenüber. Sie wissen überhaupt nicht, wie sie damit umgehen sollen. Deshalb outen sich auch so wenige, weil sie genau wissen: Ich bekomme kein Verständnis. Im Gegenteil.

Schon der Begriff "outen" suggeriert ja, dass man sich eigentlich für seine Krankheit schämen müsse.

Sie glauben gar nicht, wie viele Männer sich bei mir damals gemeldet haben, teilweise Topmanager aus Deutschland. Die haben gesagt: "Ich danke Ihnen für Ihren Mut, dass Sie damit nach außen gegangen sind. Ich habe diesen Mut nicht, das darf bei mir niemand erfahren." Die denken, so ein Eingeständnis sei ein Tabu, hätte etwas mit Schwäche und mit nachteiligen Konsequenzen zu tun, wie etwa bei der Thematik "schwule Fußballer". Und ich befürchte, sie haben recht. Ich habe auch reichlich Reaktionen erhalten, die genau diesen Eindruck unterstützen: "Geh uns damit nicht auf die Nerven, Du bist doch kein Mann, wenn Du das Leben nicht erträgst, dann häng Dich halt auf ..."

Es existiert also eine Angst vor der öffentlichen Reaktion …

Offenbar ist da vor allem die Furcht, die Gesellschaft akzeptiert das nicht, man hätte dadurch einen Makel, den man sich vor allem in bestimmten Positionen nicht leisten dürfe. Und die Öffentlichkeit differenziert nicht, sie ist eher abgestoßen davon. Essstörungen? Da hängt man doch den ganzen Tag überm Klo, oder hat das Bild klapperdürrer Models vor Augen – dazwischen gibt es nicht viel.

Wie kann diese Wahrnehmung geändert werden?

Über die meisten Krankheiten wird recht zwanglos und durchaus auch konstant berichtet. Über Magersüchtige hören Sie nur etwas, wenn ein Schauspieler daran gestorben ist oder wenn wie jetzt Sportlerinnen und Sportler den Mut haben, an die Öffentlichkeit zu gehen. Ich sage Ihnen schon heute voraus: In ein paar Tagen spricht niemand mehr darüber. Ich war damals bei "Markus Lanz" und bei "Riverboat", urplötzlich war es ein talkshowtaugliches Thema. Aber auch nur, weil ich durch meine Zeit im Radsport noch einen Rest an Bekanntheit hatte.

Ohne diese Faktoren wäre das Echo ausgeblieben?

Es bedarf immer eines populären Anlasses, damit es dieses Thema in die Schlagzeilen schafft. Und meist ist es mit der Prominenz einer Person verbunden, um die Krankheit selbst geht es dabei weniger. Danach nimmt das Interesse ganz schnell wieder ab. Ähnlich wie beim Thema Depressionen. Auch damit will man sich lieber nicht beschäftigen. Schwierige Menschen, alles so trüb und trist und dunkel. Was hat man sich nach dem Tod von Robert Enke nicht alles versprochen in Deutschland? Wenn es Theresa Enke und die Robert-Enke-Stiftung, die eine ganz außerordentliche Arbeit verrichtet, nicht gäbe, würde sich hierzulande kaum noch jemand für interessieren. Ich würde mir wünschen, dass auch Essstörungen als ernstzunehmende Krankheiten in der Gesellschaft stärker anerkannt werden.

Wie war das bei Ihnen persönlich?

Ich bin in Schulen gefahren und habe versucht aufzuklären, hatte ein paar Lesungen vor interessiertem, aber überschaubarem Publikum. Ab und an bekomme ich Anrufe, wenn es das Thema aus oben beschriebenen Gründen mal wieder für ein paar Stunden auf eine Agenda geschafft hat. Es bleibt schwierig. Ich empfinde auch den therapeutischen Umgang damit hierzulande als ein wenig hilflos.

Haben Sie eine Erklärung dafür?

Ich möchte nicht pauschalisieren und kann nur für mich und meine gewonnenen Eindrücke sprechen. Ich habe festgestellt, dass da oft im übertragenen Sinne mit der Schrotflinte geschossen wird. Die Therapie ist mir zu wenig individuell. Da saß ich in der Klinik mit damals 42 Jahren plötzlich zusammen mit einer 14-jährigen Magersüchtigen, einer 20- jährigen Bulimikerin und einem 23-jährigen Binge-Eater. Dabei kann man keinen Fall mit dem anderen vergleichen. Zwar ist es bei der Magersucht so, dass viele Verhaltensweisen gleich sind. Die Schicksale und Geschichten aber, die hinter diesen psychosomatischen Krankheiten stecken, sind völlig unterschiedlich. Der Gruppenansatz war nicht meiner und ich weiß, dass es nicht nur mir so ging.

Die Klinik hat Ihnen gar nicht geholfen?

Doch – aber nicht die Klinik selbst, sondern der Austausch mit den Mitpatientinnen und -patienten. Was die Therapieansätze angeht, gilt auch hier: Hast Du genügend finanzielle Mittel, kannst Du Dich auch richtig behandeln lassen. Wenn nicht, dann bekommst Du nach ein paar Wochen gesagt: "Deine Zeit ist um, morgen musst Du unser Haus verlassen" – egal, ob man weiter todkrank ist oder nicht. Nicht wenige, die die Klinik verlassen, haben alles dafür getan, um so schnell wie möglich wieder reinzukommen.

Welchen Sinn macht dann so eine Behandlung?

Ich möchte die Behandlung nicht pauschal verurteilen und den Therapeutinnen und Therapeuten auf gar keinen Fall ihre Kompetenz absprechen. Zudem gibt es ja auch verschiedene Kliniken. Eine Essstörung zeichnet sich aber vor allem dadurch aus, dass Sie sich mit ihr in eine eigene Welt flüchten. Wenn man dann in eine Einrichtung geht, landen Sie dann aber in einer anderen, neuen Essstörungswelt, die wiederum Abhängigkeiten schafft. Nicht zuletzt deshalb gibt es Patientinnen und Patienten, die dort schon zum dritten, vierten oder fünften Mal sind.

Klingt unlogisch …

Offenbar zwingt einen das System dazu, erst entlassen werden zu müssen, damit man dann wieder oder als noch krank genug akzeptiert wird, um einen erneuten Klinikaufenthalt finanziert zu bekommen.

Warum ist der so reizvoll?

Dort sind Sie in einer kompletten Welt für sich und haben einen festen Plan: Um sechs Uhr aufstehen, um halb sieben wiegen, um sieben Uhr essen und so weiter. Sie geben da komplett ihre Verantwortung ab, und das kann meiner Meinung nach nicht Sinn und Zweck einer Therapie sein.

Es wird nichts für den Alltag vermittelt?

Das möchte ich nicht generell behaupten. Für mich taugte das aber eher rudimentär. Mein Motto war immer: Leben findet im Leben statt. Ich kann diese Krankheit nur besiegen, wenn ich sie auch selbstständig im Alltag bewältigen kann. Wenn ich aber immer bemuttert werd e…

… dann kommt die Selbstständigkeit abhanden.

Ich bin damals nach rund zwölf Wochen in der Klinik nach Hause gekommen, stand in meiner Wohnung und fragte mich: und jetzt? Ich sehnte mich plötzlich auch wieder zurück hinter die Klinikmauern. Ich habe eine Einzeltherapie begonnen und hatte das große Glück auf eine echte Koryphäe zu treffen. Mit ihrer Hilfe konnte ich mich da rauskämpfen, aber auch das hat einige Jahre gedauert.

Und wie geht es Ihnen heute?

Ich bin nicht mehr magersüchtig. Ich habe aber noch immer meine Rituale und überhaupt kein entspanntes Verhältnis zum Essen. Das legen Sie nie ab. Wenn Sie einmal in dieser Spirale waren, begleitet Sie das Ihr ganzes Leben. Ich habe meinen Körper Extremen ausgesetzt, die Folge waren unter anderem Haarausfall, Knochenbrüche, Ödeme, Muskelschwund. Ich hatte 39 Kilogramm bei einer Körperlänge von 1,84 Metern. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an diese Phase meines Lebens erinnert werde.

Verwendete Quellen
  • Telefoninterview mit Christian Frommert
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