Großkreutz' große Chance Vom Zaungast zur besten WM-Option?
Strenggenommen sind zwei Neue in der Nationalmannschaft schon vor dem ersten Auftritt für Deutschland beim Bundestrainer durchgefallen. Der hierzulande weithin unbekannte Shkodran Mustafi von Sampdoria Genua berichtet von einem Schock, als plötzlich Joachim Löw am Telefon war und die Nominierung für den Test gegen Chile aussprach, Augsburgs Andre Hahn von Zittern am ganzen Körper. Ob das der Robustheit entspricht, die der DFB für das strapaziöse Turnier in Brasilien einfordert?
Kevin Großkreutz kann darüber wohl nur milde lächeln. Der Dortmunder ist nach über drei Jahren Länderspielpause ebenfalls ein Neuling, jedenfalls ein gefühlter. Und es ist wohl nicht allzu spekulativ zu sagen, das Ausdauerwunder habe das neuerliche Comeback in der DFB-Elf so beeindruckt aufgenommen wie einen Trainerbefehl, doch 14 Kilometer pro Spiel zu laufen.
In Dortmund ein hervorragender Piszczek-Ersatz
Aber Spaß beiseite. Für Mustafi, Hahn und Co. bedeutet die Einladung zum Länderspieltest einen netten Motivationsschub für die kommenden Jahre, für Großkreutz dagegen ist es die unvermutet auftretende Riesenchance, nicht nur auf den Zug für die Weltmeisterschaft aufzuspringen, sondern sich möglicherweise im Kampf um die Stammplätze auch noch wahnsinnig weit nach vorne vorzuarbeiten. "Motiviert bin ich immer, ich möchte hier und im Verein gute Leistungen zeigen, dann wird man weiter sehen", sagte Großkreutz dennoch zurückhaltend.
Da der Bundestrainer aber mal wieder der taktischen Bayern-Aufstellung folgt und Kapitän Philipp Lahm im defensiven Mittelfeld spielen lässt, klafft auf der rechten Abwehrseite nach Jahren der Konstanz wieder eine große Lücke. Und die ist wie geschaffen für Allrounder Großkreutz, der die gesamte Hinserie auf genau dieser Position geglänzt hat. Weil Dortmunds etatmäßiger Außenverteidiger Lukasz Piszczek nach einer Hüftoperation lange ausfiel, musste Großkreutz dort aushelfen - und machte das hervorragend. "Es wäre wunderbar", sagte Großkreutz zu seinen WM-Hoffnungen.
Lange Zeit vom Bundestrainer verschmäht
Sollte in der Nationalmannschaft Lahm wirklich in der Schaltzentrale bleiben, wofür aufgrund der Fragezeichen hinter Sami Khedira und Ilkay Gündogan vieles spricht, würde sich Großkreutz mit dem Schalker Benedikt Höwedes, Hamburgs Heiko Westermann und Leverkusens Lars Bender um den vakanten Platz in der Viererkette streiten. Es hat schon aussichtslosere Wettbewerbe in der Nationalelf gegeben, um das mal vorsichtig zu interpretieren. Zumal Jerome Boateng, eigentlich auch eine Alternative für die Position des Rechtsverteidigers, von Bundestrainer Löw als Innenverteidiger vorgesehen zu sein scheint.
Weil Bender kurzfristig ausfällt, Westermann beim abstiegsbedrohten HSV völlig außer Form spielt und Höwedes nach einer Verletzung gerade erst wieder in den Spielbetrieb einsteigt, ist plötzlich Großkreutz in der Pole Position. Gegen Chile bekommt er die Gelegenheit, in der Startelf sein Können zu zeigen und dem Bundestrainer zu imponieren.
Über drei Jahre ist es her, dass der inzwischen 25-Jährige die Gelegenheit hatte, sich auszuzeichnen. Seine 25 Minuten im Freundschaftsspiel gegen Italien waren der bislang letzte von lediglich drei Auftritten im Nationaltrikot. Im letzten Jahr war Goßkreutz zwar aufgrund akuter Personalnot zur sportlich praktisch bedeutungslosen USA-Reise des DFB eingeladen worden, wegen einer Blessur hatte er seine Teilnahme aber absagen müssen.
Den Skalp von Robben und Hulk
Vom eigenen Klubtrainer Jürgen Klopp wird Großkreutz als "taktisches Genie" gelobt, weil er universell verwendbar ist. Großkreutz kann links wie rechts spielen, nicht nur in der Abwehr, sondern nach Piszczeks Genesung wieder vorwiegend im Mittelfeld. Auch als Innenverteidiger hat er schon ausgeholfen. In der vergangenen Saison sogar im Tor, als Keeper Roman Weidenfeller im letzten Spiel gegen Hoffenheim vom Platz flog und die Borussia nicht mehr wechseln konnte.
Dagegen hat die Nationalelf lange Zeit nur auf die technisch gewiss limitierten Fähigkeiten der vermutlich schärfsten Allzweckwaffe des deutschen Fußballs geschaut. Nicht einmal mit sensationellen Auftritten gegen den FC Bayern, in denen Großkreutz im Duett mit seinem Hintermann Marcel Schmelzer gleich mehrfach Arjen Robben zur Bedeutungslosigkeit verurteilte, konnte der Kilometerfresser bei Löw punkten. In der Champions League haben die beiden gerade erst wieder eine beeindruckende Neuauflage gegeben, als sie sich beim BVB-Erfolg bei Zenit St. Petersburg den Skalp von Brasiliens Nationalstürmer Hulk sicherten.
Stocher-/Traumtor gegen Marseille
Löcher zulaufen, Gegner abkochen, kurz: die Defensive stärken ist Großkreutz' große Fähigkeit. Seine offensiven Stärken haben darunter in dieser Saison ein wenig gelitten. Noch in der ersten Meistersaison unter Klopp 2010/2011 war Großkreutz mit acht Treffern und sieben Torvorlagen am BVB-Erfolg beteiligt, aufgrund geänderter Anforderungen ist sein Beitrag zurzeit auf zwei Assists in der Bundesliga geschrumpft, aber auch, weil er im Abschluss aufgrund fehlender Übung nicht mehr so zwingend ist. Ein Spieler wie Großkreutz muss sich all diese Dinge eben ständig erarbeiten.
Dafür traf der Urborusse, als es für sein Team unbedingt darauf ankam: Sein Treffer beim 2:1-Sieg bei Olympique Marseille sicherte dem Vorjahresfinalisten der Champions League im Dezember die erneute Qualifikation für die K.-o.-Runde der Königsklasse. Dass die Kollegen ihn für den hinein gestocherten Treffer im Stade Velodrom hochnahmen und vom Traumtor in den Winkel sprachen, auch darüber konnte Großkreutz nur milde lächeln. Spaß beiseite.