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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Kumar aus Neapel Die Geschichte eines Gastarbeiters in Katar
Im WM-Land Katar leben 3,02 Millionen Menschen. 2,6 Millionen dieser Menschen sind Gastarbeiter. Einer von ihnen ist Kumar.
Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen. Die Geschichte von Kumar. Kumar ist nicht sein richtiger Name. Ich werde Ihnen auch kein Bild von Kumar zeigen – zu seiner Sicherheit. Er ist keiner der Männer oben im Bild. Ich habe Kumar in Doha kennengelernt. Er war mein Taxifahrer. Kumar stammt aus Nepal, ist Gastarbeiter in Katar.
Kumar wächst in ärmlichen Verhältnissen auf. Nach dem Ende seiner Schulzeit ist klar, dass er nicht studieren wird. Er muss sofort seinem Vater finanziell unter die Arme greifen. Doch in Nepal gibt es nur wenige gut bezahlte Jobs. Er entscheidet sich für Katar. Kumar kann kein Wort Arabisch. Er ist noch nicht richtig erwachsen und bis auf einen Bruder allein in einem fremden Land.
Kumar kommt einige Jahre vor der WM-Vergabe in den Golfstaat. Die Straßen in Doha sind einspurig, die Häuser flach. In West Bay, dem inzwischen von Wolkenkratzern dominierten Glamour-Bezirk der Stadt, gibt es zu diesem Zeitpunkt nur drei Hochhäuser, erinnert er sich.
Um nach Katar zu kommen, braucht er einen Job. Denn ohne einen Arbeitgeber gibt es auch kein Visum. Kumar arbeitet als Rezeptionist bei einer Firma. Seine Aufgabe ist es, den Kunden am Telefon den Weg von A nach B zu erklären oder Taxifahrer zu vermitteln. Google Maps ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht etabliert. Er muss vier Telefone gleichzeitig betreuen. Es sind Mobiltelefone. Er muss sie auch mit auf die Toilette nehmen, einen Anruf unbeantwortet zu lassen, ist keine Option. Kumar arbeitet sechs Tage die Woche. Wenn jemand krank ausfällt, muss er auch an seinem freien Tag einspringen.
Seine Schicht beginnt am frühen Morgen und dauert zehn Stunden, manchmal auch zwölf. Eine Pause gibt es kaum, die Telefone bimmeln durchgängig. Kumar kommt nachts kaum zur Ruhe. Immer wieder hört er das Klingeln, hat Schlafstörungen. Nach wenigen Monaten will er kündigen. Doch zu dieser Zeit existiert in Katar das Kafala-System. Es ist eine Art Bürgschaft. Ein Unternehmen übernimmt beim Staat die Verantwortung für den Arbeiter – und hat dadurch die Kontrolle über ihn. Kritiker sprechen von moderner Sklaverei. Für Kumar bedeutet es, dass sein Arbeitgeber seinen Pass besitzt. Als er kündigen will, ist man in der Chefetage sauer. Und fordert umgerechnet über 1.000 Euro als Abfindung. Eine Summe, die Kumar nicht zahlen kann.
Kumars Glück: Eine Kontaktperson von ihm arbeitet im Management eines anderen Unternehmens, kennt die rechtliche Lage in Katar. Der Mann hilft ihm mit seinem Arbeitgeber, holt ihn aus dem Job heraus und fragt Kumar, was er beruflich machen will. Er fahre gerne Auto, antwortet Kumar. Sein Kontaktmann schlägt ihm vor, den katarischen Führerschein zu machen und Taxifahrer zu werden. Die Straßen in Doha kennt er bereits aus seinem Telefonjob.
WM ist finanziell eine große Hilfe
Heute, über zehn Jahre später, ist Kumar noch immer Taxifahrer. Er besitzt kein eigenes Auto. Der Wagen, mit dem er Kunden zu ihrem Ziel transportiert, gehört seinem Arbeitgeber. Er zahlt täglich 110 katarische Riyal für das Auto. Dazu kommen 50 Riyal für die Tankfüllung sowie weitere kleinere Ausgaben. Täglich kommt er auf Ausgaben von 200 Riyal, rund 50 Euro. Eine verhältnismäßig hohe Summe Geld. Alles, was er darüber hinaus verdient, darf er behalten. Seit WM-Beginn sind es täglich 400 Riyal, also rund 100 Euro.
Vor der WM verdiente Kumar kaum Geld. Er konnte gerade so die WG-Miete bezahlen. Noch schlimmer war die Corona-Hochzeit. Damals musste er sich Geld von Freunden leihen und steckte in den Schulden. Ihm blieb keine andere Wahl.
Katarer reden nicht mit Gastarbeitern
Die WM ist für ihn rein finanziell eine große Hilfe. Er hat immer zu tun und verdient für seine Verhältnisse viel Geld, kann sogar sparen. Nur an einem Wochentag arbeitet er nicht: am Freitag. Der Freitag, der ist sein Leben, sagt Kumar. Er verbringt ihn meist mit seinem Bruder. Seinen Bruder um sich zu haben, gibt ihm das Gefühl von Heimat. Bis zu einer Gesetzesänderung 2016 konnte er bestenfalls alle zwei Jahre nach Nepal reisen. Zum einen aus Kostengründen, zum anderen brauchte er die Erlaubnis seines Arbeitgebers. Seit der Gesetzesänderung versucht er, einmal im Jahr seine Familie zu besuchen.
Zu Katarern hat Kumar kaum Kontakt. Sie reden nicht mit Gastarbeitern, interessieren sich nicht für sie, sagt er. Nur wenn man für sie arbeitet.
Kumar fühlt sich sicher in Katar. Zu jeder Tages- und Nachtzeit kann er überall hingehen, verspürt keine Angst. Wer sich an die Regeln hält, muss nichts befürchten, sagt er. Inzwischen spricht Kumar sieben Sprachen. Grammatik kann er nicht, Sprechen und Verstehen schon.
Um die Zeit nach der WM macht sich Kumar auch schon Gedanken. Er wünscht sich einen festen Job mit einem Monatslohn von 3.000 Riyal. Das sind knapp 750 Euro. Das Taxigeschäft wird nach der WM weitaus weniger Geld bringen, weshalb ein Jobwechsel möglich ist. Auch eine Rückkehr in die Heimat schließt er nicht aus.
Warum erzähle ich Ihnen die Geschichte von Kumar? Sie hat mich berührt. Sie hat mir wieder einmal gezeigt, welche Privilegien ich als Deutscher habe. Wie gut es mir eigentlich geht. Das soll keine Erzählung sein, an deren Ende steht, dass wir privilegierten Menschen doch "keine Probleme hätten" und uns nicht beschweren dürften. Natürlich dürfen wir das. Auch unsere Probleme sind Probleme, wenn auch andere.
Aber Geschichten wie die von Kumar, der in jungen Jahren in ein völlig fremdes Land aufbrach, seinen Pass abgenommen bekam, 60 bis 70 Stunden die Woche arbeitete, unter beruflich bedingten Schlafstörungen litt, nur mit Glück seinen Job wechseln konnte, von den Einwohnern des Landes ignoriert wird, seine Familie kaum sehen konnte und vor einer ungewissen Zukunft steht, stimmen nachdenklich. Vor allem wenn man bedenkt, dass Kumar zu den Gastarbeitern zählt, denen es in den Jahren vor der WM besser erging als ihren Landsleuten auf den Baustellen.
- Eigenes Gespräch