Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Neuer DFB-Vizekapitän Mit ihm hätte wohl sicherlich nicht jeder gerechnet
Joshua Kimmich ist neuer Kapitän der DFB-Elf. Einer seiner beiden Vertreter ist Kai Havertz. Der kann nun endgültig zeigen, was wirklich in ihm steckt.
Die Worte, die Joshua Kimmich am Dienstag auf seiner ersten Pressekonferenz als neuer Kapitän der deutschen Nationalmannschaft bezüglich Kai Havertz wählte, besaßen eine durchaus hohe Aussagekraft. "Natürlich wirkt er nach außen hin immer ein bisschen introvertierter", begann der 29-Jährige sein Statement zu seinem Teamkollegen. Dabei war ihm bewusst, dass dieser in der Vergangenheit in der öffentlichen deutschen Wahrnehmung nicht immer gut weggekommen war.
"Aber so innerhalb der Mannschaft, wenn er dann auch Jungs hat, mit denen er sich gut versteht, wenn er sich wohlfühlt, dann merkt man schon, dass er ein sehr, sehr lustiger Typ ist", führte Kimmich weiter aus und brach damit als eine seiner ersten Amtshandlungen direkt eine Lanze für den häufig kritisierten Havertz.
Einen Tag zuvor hatte Bundestrainer Julian Nagelsmann eine weitreichende Entscheidung verkündet. Nicht nur Kimmich war von ihm auf einer DFB-Pressekonferenz zum Spielführer der Nationalelf auserkoren worden. Auch Antonio Rüdiger und Kai Havertz hatte der Coach als Stellvertreter des Bayern-Stars das Vertrauen ausgesprochen. Verwunderung über die Wahl des auf dem Platz häufig seine Mitspieler mitreißenden Rüdiger dürfte es landesweit kaum gegeben haben. Dass Havertz zu den neuen Leitfiguren der Auswahl gehören würde, damit hätte aber wohl sicherlich nicht jeder gerechnet.
Eine indirekte Bestätigung für diese Annahme lieferte Joshua Kimmich auf der Pressekonferenz vom Dienstag: "Generell freue ich mich sehr, dass er jetzt diese Rolle hat", betonte der Kapitän in Bezug auf Havertz. "Weil ich glaube, dass er teilweise so ein bisschen unter dem Radar fliegt." Ein Umstand, den der Arsenal-Profi nun hinter sich lassen könnte – und der ihm gleichzeitig die Chance gibt, aus seiner bisherigen Rolle auszubrechen und alle Kritiker Lügen zu strafen.
Havertz als "faul und schwerfällig" kritisiert
Kritik an Kai Havertz gab es über die Jahre genug, auch wenn der mittlerweile 25-Jährige in der Gesamtheit sportlich zu überzeugen wusste. Doch die Last des deutschen Ausnahmetalents, das schon mit 21 Jahren bei seinem Transfer von Leverkusen zum FC Chelsea das Preisschild von 80 Millionen Euro umgehängt bekam, wiegt seit jeher schwer.
Selbst bei der "Werkself", wo Havertz ausgebildet wurde und im Profibereich seine ersten fußballerischen Schritte tat, wurde er nach schwachen Auftritten früh kritisiert. Der Ärger über einige wenige schwache Partien des jungen Offensivspielers ging bei einigen Anhängern 2020 sogar so weit, dass sie ihn auspfiffen und Bayer-Kapitän Lars Bender Havertz öffentlich zur Seite springen musste. "So etwas darf nicht sein", wurde der Leverkusener Spielführer damals deutlich. "Man kann ihm nach ein paar unrunden Spielen nicht so eine Watsch'n mitgeben."
Auch beim FC Chelsea musste sich Havertz Kritik anhören. Zwar hatte er die "Blues" 2021 im Finale gegen Manchester City zum Champions-League-Titel geschossen, aber das hielt Englands Sturmlegende Peter Crouch rund ein halbes Jahr später nicht davon ab, die Auftritte des DFB-Stars als "enttäuschend" einzustufen. Er verglich ihn dabei mit einem ehemaligen deutschen Nationalspieler.
"Havertz erinnert mich an Özil", sagte Crouch nach einer 0:1-Niederlage Chelseas in der Königsklasse gegen Juventus. "Er macht Dinge, manchmal fällt ihm alles leicht und er sieht technisch brillant aus", so der Ex-Stürmer weiter. "Aber er kann auch manchmal faul und schwerfällig aussehen, und er kann einen frustrieren." Ein Eindruck, der immer mal wieder bei Havertz aufzukommen scheint, dem seine Trainer und Mitspieler aber entschieden entgegentreten.
Kimmichs entscheidender Satz
Joshua Kimmich bestätigte auf der Pressekonferenz vom Dienstag etwa die Bedeutung von Havertz für das Spiel der deutschen Nationalmannschaft während der Europameisterschaft im Sommer 2024. Sein Teamkollege sei "unfassbar wichtig" gewesen, habe sich auf dem Platz für das Team aufgerieben, betonte er. Dann ließ Kimmich einen durchaus entscheidenden Satz fallen.
"Ihm geht es jetzt nicht immer darum, selbst dann zwei Tore zu machen, sondern ihm geht es wirklich darum, dass wir als Team erfolgreich sind, und wir brauchen sehr viele Spieler davon, die bereit sind, alles für die Mannschaft zu geben", sagte er und hob damit Havertz' Wert im DFB-Team auf eine neue Ebene. Denn: Bei der Nationalelf agiert dieser vor allem im Sturmzentrum. Doch Kimmich forderte indirekt, Havertz nicht ausschließlich an seinen Toren zu messen, die sonst für einen Stoßstürmer ein so entscheidendes Qualitätsmerkmal sind. Vielmehr klang der Wunsch durch, man möge erkennen, wie viel Havertz sich auf dem Platz für das DFB-Team einsetzt – und wie viel dieser Einsatz wert ist.
Ähnlich formulierte es Julian Nagelsmann während der Europameisterschaft. Vor dem Achtelfinale gegen Dänemark (2:0) waren in der Öffentlichkeit die Forderungen laut geworden, Niclas Füllkrug anstelle von Havertz in der Anfangsformation zu bringen. Letzterer hatte nur beim Auftaktspiel gegen Schottland (5:1) per Strafstoß getroffen, war aber sonst torlos geblieben. Anders als Einwechselspieler Füllkrug, der zwei Tore in drei Spielen beigesteuert hatte.
Nagelsmann betonte daraufhin, dass Havertz "deutlich schlechter wegkommt in der öffentlichen Bewertung, weil er in sehr vielen Spielen auch einen klaren Job hatte, der auch einhergeht damit, dass er nicht allzu viele Ballaktionen hat, weil er viel Raum für andere kreieren sollte." Seinem zentralen Offensivmann kam also eine weniger prominente, für das Team aber entscheidende Rolle zu. Er flog, wie Kimmich sagen würde, "unter dem Radar" und war in gewisser Hinsicht für Nagelsmann dennoch unverzichtbar.
Entscheidender Faktor: Nagelsmanns Chance für Havertz
Außerdem war Havertz zur Stelle, als er dringend gebraucht wurde. Seine Elfmeter verwandelte er bei der EM stets eiskalt. Wohlgemerkt auch gegen Dänemark. An der Abschlussstärke muss er dennoch arbeiten. Denn dass Havertz durchaus Großchancen zu vergeben weiß, auch das machte die EM mehrfach deutlich. Arbeitet er daran, könnte er auch bei den DFB-Fans schnell zum Publikumsliebling aufsteigen. Auch wenn er die deutschen Anhänger mit seiner Kritik an der Stimmung während der WM 2022 vor einem Jahr noch verstimmte.
Dass eine Wende der Beziehung zwischen Fans und Spielern gelingen kann, zeigte Havertz bereits beim FC Arsenal, wo er nach seinem Wechsel von Chelsea im vergangenen Sommer zunächst als Transferflop und Chancentod verschrien war und die Anhänger sich mit einem Shakira-Song bereits über ihn und die Ablöse von 75 Millionen Euro lustig machten. Doch mit der Zeit fasste Havertz bei seinem neuen Klub immer mehr Fuß und wusste den ersten Eindruck zu widerlegen – in erster Linie mit Toren, aber eben auch mit seiner Mannschaftsdienlichkeit auf dem Feld. Havertz ist seitdem eines der zentralen Gesichter des jüngsten Aufschwungs beim FC Arsenal und bei den Fans höchst beliebt.
Nun könnte er auch ein ähnlich entscheidender Faktor beim DFB werden – und das langfristig. Julian Nagelsmann gibt ihm die Chance dazu. Havertz sportliche Qualität bleibt ohnehin unbestritten. Dass er auf emotionaler und sozialer Ebene das Zeug zu einem der drei Kapitäne hat und damit auch die entsprechende Führungsstärke besitzt, das kann, darf und muss er nun wohl auch nachhaltig beweisen.
Zu Leverkusener Zeiten trug Havertz als junger Spieler bereits mehrfach die Binde. Es könnte ein Fingerzeig sein, dass der Bundestrainer mit ihm möglicherweise wirklich die richtige Wahl als Kimmich-Vertreter getroffen hat – und dass Havertz in Zukunft einmal mehr der Kritik trotzen dürfte. Dann stände endgültig fest, dass mehr in ihm steckt, als ihm der eine oder andere aktuell noch zutraut.
- sport.sky.de: "Kimmich lobt Co-Kapitän Havertz: 'Freut mich. Fliegt unter dem Radar'"
- sportbuzzer.de: "Leverkusen-Kapitän Lars Bender verteidigt Kai Havertz: 'Ist doch kein Roboter'"
- sport.sky.de: "Crouch vergleicht Havertz mit Özil: 'Sieht manchmal faul aus'"
- sport1.de: "Nagelsmann über Havertz: 'Intern ist Kai deutlich höher angesiedelt'"
- Eigene Recherche