Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.DFB-Elf Bald nicht mehr Teil des Wir
Das 1:4 der DFB-Elf gegen Japan markierte den vorläufigen Tiefpunkt der Nationalmannschaft, Hansi Flick kostete es den Job. In der Krise befindet sich das Team allerdings schon länger.
"Hansi raus"-Rufe, Pfiffe, eine konsternierte Mannschaft, ein ratloser Trainer: Die deutsche Nationalmannschaft befindet sich nach dem 1:4 gegen Japan in einer ihrer größten fußballerischen Krisen.
Diese geht sogar so weit, dass ernsthaft an der grundsätzlichen Klasse der mit Champions-League-Spielern gespickten Mannschaft gezweifelt wird – und das in den eigenen Reihen. Der mittlerweile entlassene Cheftrainer Hansi Flick monierte nach dem Debakel gegen Japan die fehlenden "Basics" eines Teams, das gegen spielfreudige Japaner heillos überfordert war und sogar mit zwei bis drei Toren mehr hätte verlieren können.
"Ich finde, wir machen es gut und ich bin der richtige Trainer", beharrte Flick dennoch nach der Demütigung. "Wir im deutschen Fußball müssen einfach mal aufwachen und an diesen Dingen arbeiten." Sein Fazit über den Zustand der Mannschaft des Weltmeister-Landes von 2014 und kommenden EM-Gastgebers: "Wir haben aktuell nicht die Mittel, um so eine kompakte Defensive zu überspielen."
Ein Armutszeugnis für Ex-Trainer und Mannschaft gleichermaßen. Dabei kommen die schlechten Leistungen und Resultate des DFB-Teams keinesfalls aus dem Nichts. Es ist eine Misere, die sich seit gut einem Jahr abzeichnet.
Von den vergangenen zwölf Partien konnte das Team unter Flick lediglich drei gewinnen. Ein wackliger WM-Vorbereitungssieg gegen den Oman (1:0), ein wechselhaftes 4:2 bei der WM gegen Costa Rica sowie ein schmuckloses 2:0 im Testspiel gegen Peru. Alles Länder, gegen die Deutschland rein von seinem Anspruch gewinnen muss. Bei den anderen neun sieglosen Partien offenbarten sich jedoch die eklatanten Schwächen.
Die Chronik des Scheiterns
Der verkorkste Start in die WM-Vorbereitung
22. September 2022. Deutschland gegen Ungarn. Das DFB-Team startet mit einem Heimspiel in der Nations League in die Länderspielsaison 2022/2023. Mit einem Sieg gegen die Osteuropäer würde Deutschland die Tabellenführung in Gruppe 3 der Liga A übernehmen und die Chancen erhöhen, am Final Four teilzunehmen.
Flick will wenige Monate vor der umstrittenen WM in Katar eine Aufbruchsstimmung erzeugen, den Schwung aus dem furiosen 5:2 gegen eine italienische B-Mannschaft aus dem Juni mitnehmen. Doch das Unterfangen geht schief. Mit 0:1 verliert eine pomadige deutsche Mannschaft gegen starke Ungarn.
Der Gruppensieg ist futsch. Deutschland kann weder die Finalrunde erreichen noch in Liga B absteigen. Das abschließende Nations-League-Spiel vier Tage später in Wembley gegen England verkommt also zu einer Partie ohne tabellarische Bedeutung. Auf dem Platz offenbaren sich allerdings die Probleme einer Mannschaft, die wenige Monate vor WM-Beginn alles andere als in Top-Form ist.
Trotz einer vermeintlich soliden 2:0-Führung gibt Deutschland einen sicher geglaubten Sieg binnen elf Minuten aus der Hand, liegt mit 2:3 zurück und kann sich gerade noch so ein 3:3 retten. Einzig Torwart Marc André ter Stegen zeigt sich als stabiler Rückhalt, der Rest des Teams lässt massive Zweifel erkennen, ob Deutschland im Kampf um den WM-Titel mitspielen kann. Es ist der letzte Test, bevor Flick seinen WM-Kader benennen muss.
Die WM in Katar
Flicks Kader steht. Mit Timo Werner, Lukas Nmecha, Marco Reus und Florian Wirtz fehlen dem Bundestrainer verletzungsbedingt vier Offensivkräfte. Dortmunds Jungstar Youssouffa Moukoko und Bremens Durchstarter Niclas Füllkrug springen genauso auf den WM-Zug auf wie Abwehrtalent Armel Bella-Kotchap, der anstelle von Mats Hummels einen Platz im Kader ergattert.
Doch keiner dieser Spieler kann das erneute Ausscheiden des DFB-Teams bei einer WM-Endrunde verhindern. Zugegeben: Die deutsche Mannschaft zeigt keine drei völlig unterirdischen Leistungen. Das 1:2 zum Start gegen Japan kostet der Mannschaft jedoch am Ende das Weiterkommen, ein starkes 1:1 gegen Spanien und ein turbulentes 4:2 gegen Costa Rica reichen nicht, um die K.o-Runde zu erreichen. Die Kritik an Mannschaft und Trainer ist groß, doch Flick will und darf weitermachen. DFB-Manager Oliver Bierhoff hingegen muss gehen, eine sogenannte "Task-Force" wird gegründet, an dessen Spitze Rudi Völler interimsmäßig bis 2024 den Posten des Sportdirektors übernimmt.
Völler soll dabei helfen, auf dem Weg zur Heim-WM wieder ein größere Begeisterung bei den deutschen Fans zu entfachen. Doch dazu braucht das DFB-Team Siege.
Die erschreckende Bilanz im Jahr 2023
Das Problem: Es gibt keine. Das unspektakuläre 2:0 gegen Peru im ersten Test nach der WM bleibt bis zum heutigen Tag der einzige Sieg im Jahr 2023 einer phlegmatisch und uninspirierten Mannschaft, deren Trainer nicht in der Lage zu sein scheint, seine Spieler zu emotionalisieren, geschweige denn an ihr Leistungslimit zu bringen.
Beim 2:3 gegen Belgien, 3:3 gegen die Ukraine oder auch dem 0:2 gegen Kolumbien offenbart Deutschland massive Abstimmungsprobleme in der Abwehr – gepaart mit etlichen individuellen Fehlern. Hinzu kommt, wie beim 0:1 gegen schwache Polen, eine Offensive, die behäbig um den Sechzehner des Gegners spielt und keine Lösungsansätze für tief stehende Defensivreihen offenbart.
Das 1:4 gegen Japan markiert den vorläufigen Höhepunkt beider deutschen Problemzonen. Auch wenn mit Niclas Füllkrug ein treffsicherer Neuner und Jamal Musiala ein quirliger Offensivdribbler ausfielen: Die Mannschaftsteile greifen nicht ineinander.
Die Zeit der Experimente sei vorbei, hatte Flick bereits Wochen vor dem Japan-Spiel offenbart. Es "kotze ihn an" zu verlieren, so die Aussage des Trainers. Das muss er nun auch nicht mehr, am Sonntag wurde Flick von seinen Aufgaben entbunden.
Schon am kommenden Dienstag geht es in Dortmund gegen Vizeweltmeister Frankreich. Ein Kaliber, mit dem sich Deutschlands beste Fußballer aktuell nicht messen können. Umso erstaunlicher ist es, dass der DFB Ende Mai ausgerechnet Japan und jene Franzosen als Testspielgegner auswählte, um sich auf die Heim-EM vorzubereiten.
"Wir wollen Gegner haben, die uns fordern. Das sind Spiele auf sehr hohem Niveau, das kann uns nur nach vorne bringen", begründete Hansi Flick im Juni auf t-online-Nachfrage die Auswahl dieser Testspielgegner. Nach den jüngsten Ergebnissen musste auch Flick klar gewesen sein, dass er schon bald nicht mehr Teil des Wir sein würde.