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Matthias Sammer vor Frankreich-Spiel: "Entschuldigung, wir sind Deutschland!"


Interview
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Vor DFB-Kracher
"Ich verstehe vieles einfach nicht mehr"

  • David Digili
InterviewVon David Digili

Aktualisiert am 15.06.2021Lesedauer: 13 Min.
Matthias Sammer: 1996 wurde er mit der Nationalmannschaft Europameister.Vergrößern des Bildes
Matthias Sammer: 1996 wurde er mit der Nationalmannschaft Europameister. (Quelle: MIS/imago-images-bilder)
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Matthias Sammer weiß, wie man Titel holt. Der EM-Sieger von 1996 spricht im t-online-Interview über die Titelchancen der DFB-Elf, die beste Position für Joshua Kimmich und verrät, warum Deutschland mehr auf die eigenen Stärken vertrauen sollte.

Europameisterschaft, Champions League, Weltpokal, Deutscher Meister: Als Spieler gewann Matthias Sammer fast alles, was es zu gewinnen gibt. Auch als Trainer war der langjährige Nationalspieler erfolgreich, coachte nach dem Ende seiner aktiven Karriere seinen langjährigen Klub Borussia Dortmund als jüngster Trainer überhaupt zur deutschen Meisterschaft.

Über die Jahre hat sich Sammer dazu als wacher, kritischer Geist profiliert, der sich intensiv insbesondere mit dem deutschen Fußball auseinandersetzt. Nach Stationen als Funktionär beim DFB und Bayern München ist er seit 2018 als Berater zurück bei Borussia Dortmund. Zudem begleitet er als "Head of Sports Strategy" bei dem Portal Gokixx junge Talente auf dem Weg zum Fußballprofi. Im Interview mit t-online gibt er Einblicke in die Arbeit mit den jungen Spielern, schätzt die Chancen der deutschen Nationalmannschaft bei der EM ein und verrät, was es mit den "deutschen Tugenden 2.1" auf sich hat.

t-online: Herr Sammer, Deutschland startet am Dienstag in die EM, zeitgleich ist der letzte deutsche EM-Titel nun 25 Jahre her. Als Teil der Mannschaft damals – was kann sich die DFB-Elf 2021 von der DFB-Elf 1996 abschauen?

Matthias Sammer (53): Also Tempo und Taktik sollten sie sich nicht abgucken (lacht). Aber die Faktoren dessen, was ein erfolgreiches Team ausmacht, die waren vor 25 Jahren ähnlich wie 1954. Teamspirit und Gemeinsamkeit werden auch noch in 50 Jahren Grundlage für Erfolg sein.

Was bleibt, ein Vierteljahrhundert nach dem legendären Erfolg?

Es bleibt der große Gedanke, dass es ein wunderbares Team war – aber es wurde falsch dargestellt mit "Der Star ist die Mannschaft".

War sie es denn nicht?

Wir hatten alle ganz unterschiedliche individuelle Qualitäten, die dann zu einer Mannschaft wurden. Das wäre die bessere Botschaft gewesen. Ich erinnere auch an die Rückschläge, die wir dabei hatten: Innenbandriss bei Jürgen Kohler nach elf Minuten im ersten Spiel, Kreuzbandriss bei Steffen Freund, Innenbandriss bei Dieter Eilts, Stefan Reuter und Andreas Möller im Finale gesperrt. Aber wir waren ein Team. Sonst hätten wir es nicht geschafft, denn andere waren besser.

2021 nun muss Deutschland in der Gruppe gegen Weltmeister Frankreich, Europameister Portugal und gegen Ungarn ran. Was stimmt Sie zuversichtlich?

Im Grunde genommen ist es durch diesen Turniermodus ja gegeben, dass man selbst im Worst Case immer noch berechtigte Hoffnungen hat (die besten Gruppendritten schaffen es ebenfalls ins Achtelfinale, Anm. d. Red.). Darüber hinaus ist es doch unter sportlichen Gesichtspunkten ganz wichtig, ein Gefühl für die Mannschaft zu bekommen: Ist sie im Rhythmus? Das weiß man am Anfang eines Turniers natürlich nie so richtig. Und dazu will man von Anfang an sehen: Da ist eine Mannschaft auf dem Platz, da ist Geschlossenheit, da ist Kampfgeist, da ist Teamspirit.

Keine Sorge wegen der viel beschworenen "Todesgruppe"?

Ich glaube, dass es jetzt erst mal um die Grundlagen geht, was man von dieser Mannschaft sehen möchte. Und zwar mit Optimismus – und sich nicht gleichzeitig Gedanken zu machen: "Oh, die anderen!" Sich über andere Gedanken zu machen, bedeutet immer: eigene Schwäche. Entschuldigung, wir sind Deutschland! Ich würde gerne mal die Frage Richtung Frankreich oder Portugal stellen, wenn die Attribute, die ich gerade genannt habe, bei uns eintreffen. Dann haben wir nämlich auch eine gute Mannschaft.

Bundestrainer Joachim Löw hatte bei der Kaderbekanntgabe noch davon gesprochen, dass man nicht zu den Favoriten gehöre.

Die Mannschaft wirkte zwischenzeitlich ein bisschen instabil, das ist überhaupt keine Frage. Auch aufgrund der Tatsache, dass es die Diskussionen um Jogi Löw gab. Dann gab es aber ein klares Statement, dass es sein letztes Turnier sein wird. Aufgrund dieser Voraussetzungen ist für mich klar: Deutschland ist für mich bei jedem Turnier ein Mitfavorit. Außer es gibt ein grundsätzliches Problem – das sehe ich aber nicht, wenn ich mir unsere Mannschaft anschaue.

Seit gut drei Jahren sind die Auftritte doch mehr als wechselhaft.

Das gilt es ab dem ersten Spiel zu widerlegen. Man muss einfach direkt das Gefühl haben: Das ist eine Mannschaft. Wenn wir das erreichen, haben wir wiederum auch genug individuelle Qualität, um ein erfolgreiches Turnier zu spielen.

Was sagt das Comeback von Thomas Müller und Mats Hummels über den Umbruch in der Mannschaft aus?

Dieser "Umbruch" hat doch de facto vor allem eins bewirken wollen: Dass man einer sogenannten neuen Generation mehr Entfaltung und mehr Spielraum geben wollte – was aber nicht gelungen ist. Natürlich wirkt dann so eine Korrektur in Verbindung mit der Aussage, dass es das letzte Turnier des Trainers ist, eher wankelmütig. Wie es aber ausgeht, das weiß der liebe Gott (lacht). Aber das hat zu dem Bild beigetragen, dass alles ein bisschen instabil scheint. Ob wir diese Stabilität jetzt haben, das sehen wir im ersten Spiel. Da muss noch nicht alles klappen, aber man muss ein Gefühl entwickeln können.

Da geben dann auch nicht zwei Testspiele in der Vorbereitung genügend Aufschluss darüber.

Jetzt soll Lettland schon unsere Hoffnung sein – da muss ich auch sagen: Da verstehe ich vieles einfach nicht mehr. Das eine wird immer schlecht geredet, das andere in den Himmel gehoben – das ist eigentlich grotesk.

Muss man da auch Sinn und Zweck solcher Tests ein wenig infrage stellen?

Nein, das würde ich nicht sagen. Du sagst dir vielleicht: Wir wollen noch mal ein paar Tore erzielen, wir wollen noch mal ein Erfolgserlebnis. Das war schon immer so. 1996 war unser letztes Vorbereitungsspiel gegen Liechtenstein (9:1, Anm. d. Red.) (lacht). Der einzige Maßstab ist der Turnierbeginn.

Eine der spannendsten Personalien in der deutschen Elf ist Joshua Kimmich, dem seine Vielseitigkeit fast zum Verhängnis wird – wo hilft er der DFB-Elf am meisten?

Ich glaube, dass Joshua von seiner Qualität her auf der rechten Seite spielen kann, und ich glaube auch, dass von dort sein Einfluss auf die Mannschaft auch gegeben ist. Nur grundsätzlich sollte der Maßstab sein: Was sind denn die wichtigen Faktoren, um ein Spiel zu gewinnen? Also: Wer ist Weltmeister? Frankreich. Wie haben die beim Titelgewinn im Mittelfeld gespielt? Da gab es einen N'Golo Kanté. Wie war es im Champions-League-Finale? Gab es da bei den Finalisten im Mittelfeld einen richtigen Sechser, der auch in der Lage ist, kreativ zu sein? Bei Pep Guardiola hat man gesagt, er habe mit City ohne Sechser und ohne Stürmer gespielt – und das hat dann nicht den ganz großen Erfolg gebracht.

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Ein mahnendes Beispiel für den Bundestrainer?

Wenn man bei uns jetzt in der Analyse nicht zu dem Ergebnis kommt, dass wir einen ähnlichen Typen wie Kimmich im Mittelfeld haben, der für Stabilität zwischen Abwehr und Mittelfeld sorgt, der darauf achtet, dass die Räume kompakt sind – dann glaube ich, dass Joshua in der Zentrale ein wesentlich stabilisierender Faktor sein kann als auf der rechten Seite.

Sie haben gerade schon Manchester City angesprochen. Dort hat Ilkay Gündogan eine ganz starke Saison gespielt, wurde oft auch als Angreifer eingesetzt. Wie sehen Sie seine Rolle in der Nationalmannschaft?

Ilkay ist ein fantastischer Spieler. Ich traue ihm eine Menge zu. Ich versuche nur hervorzuheben: Was macht eine stabile und damit hoffnungsvoll erfolgreiche Mannschaft aus? Welche Faktoren muss es geben? Thomas Tuchel hat es im Champions-League-Finale mit Chelsea geschafft, dass seine Mannschaft nach vorne immer wieder Nadelstiche setzen konnte, aber im Vergleich zu City natürlich weniger Ballbesitz hatte und weniger glanzvoll agieren konnte – gleichzeitig aber brutal verteidigt hat.

City ist damit nicht zurechtgekommen.

Da ist ein Trainer, dessen Mannschaft brutal verteidigen kann, sie kann aber auch gefährlich und unberechenbar nach vorn agieren und hat in der Mitte Faktoren der Stabilität – und gewinnt damit die Champions League. Und jetzt guckst du auf die andere Mannschaft und sagst: Da fehlt mir etwas Stabilität. City spielte ja ohne Sechser, da gab es eigentlich Fernandinho oder Rodri, das ist Ilkay aber nicht. Er kann als Achter wunderbar glänzen, hat Qualitäten in der Defensive, aber spielt auch nach vorne – Torerfolg, letzter Pass, Gegenpressing. Gut angeordnet ist er ein Topspieler.

Ein Sorgenkind dagegen ist Leroy Sané, bei dem man im DFB-Team auf den Durchbruch wartet. Wo hakt es bei ihm?

Leroy ist ein fantastischer Individualist, der auf dem Weg ist, sich sowohl bei den Bayern als auch in der Nationalmannschaft einen höheren Stellenwert zu erarbeiten. Noch schwankt er zu sehr in seiner individuellen Klasse. Aber soll jetzt Leroy Sané bei Bayern München oder in der Nationalmannschaft Führungsspieler werden? Das ist doch die falsche Denkweise.

Das müssen Sie erklären.

Er ist noch in einem Entwicklungsprozess, in dem er selbst entscheidet, ob er am Ende nur ein gutes Talent oder irgendwann einmal ein absoluter Klassespieler sein wird, der häufiger und konstanter seine Qualitäten zeigt. Und das wackelt noch ein bisschen. Aber ich kann mich erinnern: Das war zu Bayern-Zeiten bei Franck Ribéry so, das war bei Arjen Robben so. Leroy ist Mitte 20, er ist noch in einem Alter, in dem das normal ist. Es kann aus einem guten Spieler ein Topspieler werden, in dem Prozess befindet er sich. Entscheidend ist, dass er die Bereitschaft dazu mitbringt, zu erkennen, was möglich ist.

Mit 25 Jahren so im Scheinwerferlicht – setzt man sich da nicht auch selbst zu sehr unter Druck?

Es gibt Spieler, die setzen sich selbst unter Druck – und es gibt auch Spieler, die sehen es ein bisschen zu leicht. Wozu er gehört, kann ich nicht sagen. Aber ich glaube, dass er sowohl bei den Bayern als auch in der Nationalmannschaft genügend Einflussfaktoren hat, dass er sich selbst am Ende in einen Bereich bringen kann, dass man sagt: Er ist explodiert. Er ist noch nicht explodiert, keine Frage, aber er ist auch nicht so schlecht, wie er teilweise gemacht wird.

Spielen Sie da auch auf die sozialen Medien an?

Ich kann nur sagen: Ich bin froh, dass das alles in meiner Jugend noch nicht da war. Was da heute alles beachtet werden muss – und wir reden wohlgemerkt vom Jugendbereich: Es geht da schon sehr früh um Image, um Marke, um Merchandising, um Marketing. Das alles muss wieder in ein besseres Verhältnis gestellt werden zur Entwicklung und zur Selbstfindung in diesen jungen Jahren. Denn diese Entwicklung halte ich nicht für gesund und Social Media ist nicht das 1:1-Abbild der Realität. Aber, was nicht vergessen werden darf: Die Jugend ist eigentlich ein Spiegelbild der Gesellschaft der Erwachsenen. Das ist der Auftrag an uns Ältere: Respekt, Werte vorzuleben und damit die Entwicklung der nachfolgenden Generationen aktiv und positiv zu beeinflussen.

Stimmungen können dort oft verzerrt wiedergegeben werden. In einer Frage schien es aber über die sozialen Medien Einigkeit zu geben: Schiedsrichter Manuel Gräfe sollte weitermachen. Der DFB bleibt aber bei der Altersgrenze von 48 Jahren. Ist das nachvollziehbar?

Ich würde da nur eine Frage gerne stellen: Ist 48 nicht einfach nur eine Zahl? Was ich damit sagen will: Es gibt 48-Jährige, die sind schon fast 60, und es gibt 48-Jährige, die sind eher 40. Der Schiedsrichter, der von seiner Fitness her noch zu allem in der Lage ist und auch eine große Souveränität hat, eine große Persönlichkeit und Ausstrahlung hat, der muss seine Laufbahn beenden, weil er 48 Jahre auf dem Papier alt ist, aber eigentlich noch voll in der Blüte seines Lebens steht. Wovor hat man Angst?

Kann der DFB aktuell eigentlich überhaupt noch etwas richtig machen?

Man kann die U21-EM gewinnen (lacht). Die Führung des DFB hatte immer gute Ratgeber: Franz Beckenbauer, Günter Netzer – der Fußball selbst hat immer eine wichtige Rolle gespielt. Aber nicht falsch verstehen: Der Präsident muss nicht unbedingt ein Fußballer sein, du hast zwischendurch schließlich auch Themen, die kein Ex-Spieler machen will – Grußworte, Reisen, Sitzungen.

Zuletzt waren ja einige Kandidatinnen und Kandidaten für das Präsidentenamt im Gespräch ...

Ich hoffe, dass Philipp Lahm irgendwann eine stärkere Rolle übernimmt. Ich freue mich immer, wenn ich Lothar Matthäus im Fernsehen sehe, da kann man über einen Vizepräsidentenposten, über eine Beraterrolle nachdenken – das Hauptamt muss nicht zwangsläufig mit einem Fußballer besetzt sein. Aber der Fußball muss trotzdem wieder eine Präsenz haben im Gremium.

Lahm und Matthäus haben sich ihren Status über Jahre erarbeitet. Haben es Nachwuchsspieler im Vergleich zu früheren Generationen aber heute leichter?

Ich würde weder leichter noch schwerer sagen. Ich würde sagen: anders. Die Tatsache, dass du in der heutigen Zeit so viele Einflussfaktoren hast und der persönliche Weg dadurch noch mal ein höheres Maß an Ablenkungspotenzial hat – den persönlichen Weg würde ich heute als schwieriger bezeichnen. Man kann aber auch sagen: Früher ist vielleicht schon frühzeitig mehr gesoffen worden (lacht) – das ist heute nicht mehr denkbar. Ganz generell gesagt: Die Besten haben sich damals durchgesetzt und setzen sich auch heute durch – mit dem Talent und auch dem Willen. Und für manche gibt es Faktoren, die für sie eine Katastrophe sind: der falsche Trainer – oder nun gerade die Auswirkungen der Corona-Pandemie.

Sie selbst sind seit 2018 bei Gokixx, einer digitalen Plattform für die besten Nachwuchsspieler Deutschlands, als Head of Sports Strategy engagiert. Wie kann Gokixx bei der Entwicklung helfen?

Es ist im Leben doch immer gut, die sogenannte neutrale Instanz zu haben. Jemanden, mit dem du über alles sprechen kannst. Für einen jungen Spieler ist es manchmal schwer, diese Instanz im Berater zu sehen oder im Verein – auch, weil der Verein vielleicht gar nicht die Möglichkeit hat, sich mit 25 oder 30 Spielern im Kader zu beschäftigen. Deshalb finde ich diesen Ansatz richtig. Auch auf den direkten Wegen, die es heute gibt, mit App und Smartphone in eine Kommunikation zu treten, wo du dich traust, Fragen zu stellen, die du in deinem Umfeld vielleicht nicht stellen würdest. Oder auch mal Schwächen zuzugeben und an ihnen zu arbeiten. Jemanden zu haben, der dir auch mal den Spiegel vorhält.

Matthias Sammer engagiert sich seit 2018 als Head of Sports Strategy für Gokixx. Die Plattform wurde 2014 gegründet und will die besten Nachwuchsfußballer in Deutschland auf dem Weg zum Profi unterstützen. Aktuell nutzen gut 2.500 Spieler zwischen C-Jugend und A-Jugend der Profi-Klubs die digitalen Angebote mit App, Chat und fachlichen Coachings in der Gokixx-Academy. Die Themen reichen von Ernährung und Regeneration bis zur Wahl des passenden Spielerberaters. Gerade in der Corona-Pandemie ist das Interesse am Angebot stark gestiegen. Die Gokixx-App ist sowohl für Android als auch für iOS verfügbar.

Ein bisschen Realität also?

Wir reden doch so viel von Individualisierung. Wenn dann jemand kommt und sich traut, zu sagen: Ich höre aus meinem Umfeld immer das Gleiche, aber ich komme nicht weiter – und dann vielleicht fragt: Gibt es da im Bereich Schlaf, Ernährung, Trainingssteuerung noch Themen, die mir vielleicht guttun? Da ist Gokixx als Angebot sehr interessant. Das habe ich so in Deutschland noch nicht gesehen. Auch deshalb möchte ich bei Gokixx mithelfen.

Dazu braucht es aber ja zuallererst die Erkenntnis, dass so eine unabhängige Stimme wirklich helfen kann.

Ich bin schon immer ein Freund davon gewesen, dass ein junger Mensch selbst erspürt, selbst erfährt, wo er auf dem richtigen Weg ist – und gleichzeitig aber sagt: Ich spüre, dass ich da etwas verbessern muss, wie ist das möglich? Das alles Entscheidende aber ist, dass im eigenen Kopf eine Wahrnehmung dafür entsteht, was er möchte – und dass es dafür Anlaufstellen gibt, wo man Dinge erfragen kann und nicht befürchten muss, dass das vielleicht als Schwäche ausgelegt wird. So wird dann aus der Schwäche auf Dauer vielleicht genau die Stärke, die gebraucht wurde.

Es ist ja auch eine Vertrauensfrage, sich zu öffnen und zu sagen: "Ich brauche Hilfe" – in jeder Lebenslage.

Der Begriff "Persönlichkeitsentwicklung" ist ja weltklasse – nur wie setze ich den in der Praxis um? Wie kann ich Entwicklung und Wachstum erfragen, erspüren, diskutieren? Diesen Fragen Rechnung zu tragen, das ist die große Aufgabe.

Fehlt da vielleicht manchmal das Zutrauen in die eigene Stärke?

Ich würde mal Folgendes sagen: Wir sind jetzt vor einem Turnier, aber wir wissen nicht so richtig: Geht es gut oder geht es nicht gut? Und damit neigen wir natürlich grundsätzlich zu der Annahme: Deutschland wackelt!

Zu viel Negativität?

Wenn man sich die gesamte Entwicklung mal anschaut: Die letzten drei Trainer, die die Champions League gewonnen haben, waren deutsche Trainer. Und jetzt waren im Finale vier deutsche Spieler beteiligt plus der siegreiche Trainer. Wenn man dann noch auf die U21 schaut, die gerade Europameister geworden ist – das sind doch deutsche Tugenden 2.1! Die Neunmalklugen sagen jetzt wieder: "Deutsche Tugenden, da geht es doch nur ums Rennen und Kämpfen und Ärmel hochkrempeln" – deshalb sage ich ja: Deutsche Tugenden 2.1.

Eine Weiterentwicklung weg vom alten Kampfspiel-Vorurteil?

Beim Talent eines Spielers kommt es eben nicht immer nur darauf an, was er sportlich leisten kann, sondern auch auf die grundsätzliche Stabilität, sein Leistungspotenzial abrufen zu können. Der Wille, das auch auf den Platz zu bringen. Wir neigen dazu, in der Talententwicklung darüber zu reden, dass die anderen ja so viel mehr haben und so viel weiter sind. Das bedeutet ja aber noch nicht, dass das Ergebnis ein besseres ist.

Siehe die U21-EM.

Ich bleibe mal bei unserer U21: Gute, robuste Abwehrspieler, die aber auch in der Lage sind, gute Bälle zu spielen? Schlotterbeck vielleicht noch einen Tick besser als Amos Pieper, aber auf jeden Fall vorhanden. Außenverteidiger? Da hieß es, die haben wir gar nicht, die gibt's nicht mehr! Jetzt sehe ich David Raum, Ridle Baku – ich habe keine besseren gesehen bei der U21-EM. Aber Spieler wie Portugals Diogo Dalot, der beim AC Mailand spielt, aber Manchester United gehört, sollen trotzdem immer die besseren sein. Dann schaue ich auf die Mischung im Mittelfeld zwischen Arbeit und Defensivverhalten, die wir hatten: Niklas Dorsch, Anton Stach, Arne Maier. Wir haben einen Florian Wirtz, einen Karim Adeyemi – und gleichzeitig mit Lukas Nmecha einen Mittelstürmer, der beweglich ist, den du auch auf engem Raum anspielen kannst – siehe Finaltor – und noch einen Berisha. Unser Problem: Die anderen sollen immer die besseren sein. Das kann ich nicht verstehen.

Wird zu viel auf die anderen geschaut?

Wir haben in der Vergangenheit vergessen, unsere eigenen Tugenden zu definieren. Die sollen wir alle nicht mehr haben? Das sehe ich nicht. Und das sehe ich auch nicht bei unserer Nationalmannschaft. Wenn unsere Nationalmannschaft bei dieser EM als wirkliches Turnierteam zusammenwachsen kann – warum sollen sie dann nicht das Turnier gewinnen können? Wir glorifizieren immer nur die anderen.

Woher kommt diese Sichtweise?

Grundsätzlich ist es doch auch eine deutsche Stärke, aus einer pessimistischen Einstellung Kraft zu ziehen. Aber manchmal ist es auch Resignation. Die Siegertypen, die ziehen daraus eine neue Qualität und wollen zeigen, dass sie Champions sind. Auch deshalb finde ich, dass Stefan Kuntz einen Weltklassejob gemacht hat, die eigentlichen Tugenden und die Qualität der Spieler zu verbinden. Und das ist das Geheimnis: Du musst von den Mechanismen des Erfolgs überzeugt sein und dementsprechend auftreten, dass daran gar keine Zweifel aufkommen. Da sehe ich aber ein weiteres Problem.

Ja?

Die Normalität der Berichterstattung ist ein Herzenswunsch von mir. Ich beobachte das ja intensiv in meiner Funktion bei Borussia Dortmund und bekomme diese Aufgeregtheit mit. Ich würde mir für den Fußball und für die Schönheit des Spiels wünschen, dass Einschätzungen von denen, die es eben nicht wirklich einschätzen können, nicht mehr einen so hohen Stellenwert bekommen, wie es momentan der Fall ist.

Was meinen Sie genau?

Ich bin entsetzt, in welcher Schnelllebigkeit und in welcher Art und Weise Leute über den Fußball Gehör finden, die noch niemals einen Nachweis in irgendeiner Position erbracht haben – außer, dass sie entweder mal selbst gespielt haben oder eben über das Spiel geredet haben. Das kann doch nicht das einzige Kriterium sein. Ich höre viel zu wenig von Leuten wie Jupp Heynckes, von Ottmar Hitzfeld – aber vielleicht reden die auch nicht akademisch genug. Wir brauchen die, die das wirklich auf Toplevel bewerten können. Es gibt doch den schönen Spruch: "Wenn die Klügeren immer nachgeben, regieren irgendwann die Dummen." Ich würde sagen: Da ist was dran.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Mathias Sammer am 09.06.2021
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