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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Leverkusen im CL-Finale 2002 "Der schlimmste Tag meiner Karriere"
Heute vor 20 Jahren stand Bayer Leverkusen im Endspiel der Champions League. Es wurde der Höhepunkt einer Saison, die in die Geschichte einging – auf tragische Weise.
Am Ende wurden sie wieder nur Zweite. Das Lob von Vicente Del Bosque, es verhallte im Nachthimmel von Glasgow am 15. Mai 2002. "Sie haben uns enorme Probleme bereitet", atmete der damalige Trainer von Real Madrid auf. "Sie haben große Teile des Spiels kontrolliert. Es war eine intensive Partie, und sie haben ihr Bestes gegeben. Und in den letzten Minuten hätten sie fast noch den Ausgleich erzielt."
Wer sich an das Finale der Champions League heute vor 20 Jahren erinnert, der wird unweigerlich auch an das Wort "fast" denken, so, wie es Del Bosque sagte. Gerade hatten seine Madrilenen zum neunten Mal die Königsklasse gewonnen – und mussten beim 2:1 im Hampden Park in der schottischen Hauptstadt tatsächlich eine furiose Drangphase des Gegners überstehen, die fast die komplette zweite Halbzeit andauerte. Ein Geniestreich von Zinédine Zidane hatte bereits in der 45. Minute den 2:1-Endstand besorgt, der Größte unter den großen Spielmachern schweißte eine Hereingabe von Roberto Carlos mit einem irrsinnigen Volley aus 16 Metern links oben ins Netz.
Es bedurfte aber schon einer Glanztat des genialen Franzosen, die "Galaktischen" wirkten an jenem Abend die meiste Zeit doch enttäuschend von dieser Welt.
Das Schicksal schlug gleich drei Mal zu
Denn auf dem saftig grünen Geläuf hatte Bayer Leverkusen den größten Auftritt seiner Vereinsgeschichte. Einen Moment lang im Sommer 2002, da konnte das Zentrum des Weltfußballs auch an der Wupper verortet werden, in einer Stadt, deren überregionale Bekanntheit sie einzig einem ansässigen skandalerprobten Chemie- und Pharmakonzern verdankt.
Und vielleicht hätte die Saison 2001/2002 auch zum Startschuss einer jahrelangen Dominanz der Werkself werden können – wenn da nicht das Schicksal gleich drei Mal unbarmherzig zugeschlagen hätte.
Mit vom neuen Trainer Klaus Toppmöller zeitweise entfesseltem Offensivfußball pflügte Leverkusen durch die Spielzeit. Nicht nur liefen Spieler in unerhörter Regelmäßigkeit zu Höchstform auf, die zum damaligen Zeitpunkt unstrittig das Prädikat "Weltklasse" verdienten. Michael Ballack, Lucio, Zé Roberto (im Finale gesperrt), Oliver Neuville oder Bernd Schneider. Dazu ein junger Dimitar Berbatov und Ulf Kirsten in der vorletzten Saison seiner Karriere..
Auch Akteure aus der mit nicht ganz so viel Talent beschiedenen Riege wie Carsten Ramelow, Jens Nowotny (im Finale verletzt) oder Diego Placente spielten, verteidigten, grätschten und balleroberten gegen große Namen, als hätte ihnen niemand gesagt, dass ihnen da desöfteren auch mal höchste Prominenz gegenüberstand. Toppmöller hatte ein verschworenes Team geformt.
Sogar das Old Trafford applaudierte
Zuvor verzweifelten in der Königsklasse schon unter anderen der FC Barcelona, Juventus Turin, der FC Arsenal, der FC Liverpool und Manchester United an dieser widerborstigen Mannschaft vom Rhein. Nach dem 2:2 im Halbfinal-Hinspiel applaudierten sogar die United-Fans im Old Trafford dieser so packend aufspielenden Elf.
Und sie wurde doch nicht belohnt. Fast Meister – sie wurde Zweite hinter Borussia Dortmund, mit einem Punkt Rückstand. Trotz eines rauschhaften 4:0 gegen den Spitzenreiter am 24. Spieltag. Dann fast Pokalsieger – sie wurde Zweite nach einem 2:4 im Finale gegen den FC Schalke 04. Und nun fast Champions-League-Sieger. "Vizekusen" war geboren.
Die Endspielniederlage in Glasgow geriet zum Sinnbild einer mitreißenden und doch tragischen Saison. Torschüsse, Ballbesitz, Eckbälle – überall lag Bayer vorne. Und doch stand am Ende dieses 1:2. Auch, weil Ballack in der Schlussphase aus aussichtsreicher Position verzog. Auch, weil Berbatov einen Kopfball vier Minuten vor Ende nicht zu verwerten vermochte. Auch, weil in der Nachspielzeit noch der aufgerückte Torwart Jörg Butt, dann Yildiray Bastürk und erneut Berbatov weitere Chancen vergaben.
Und auch, weil währenddessen der in der 68. Minute für den verletzten César Sanchez eingewechselte 20-jährige Real-Ersatztorwart ein ums andere Mal mit wahnwitzigen Paraden den Ausgleich oder gar Schlimmeres für die Spanier verhinderte. Im Saisonverlauf hatte er seinen Stammplatz an Sanchez verloren und ergriff nun seine Chance zum Comeback. Über ein Jahrzehnt lang würde er seinen Posten danach nicht mehr abgeben. Sein Name: Iker Casillas. "Das war der schlimmste Tag meiner Karriere", erklärte Toppmöller nach der Partie, und wer ihn nicht verstehen konnte, entlarvte sich selbst als gefühlloser Eisschrank.
Das zwischenzeitliche 1:1 für die Werkself im Hampden Park erzielte übrigens Lucio. Anderthalb Monate später wurde der Brasilianer in Yokohama mit der "Seleção" Weltmeister. Und das durch ein 2:0 im Finale gegen Deutschland. Auf DFB-Seite auf dem Platz: Bernd Schneider, Carsten Ramelow, Oliver Neuville. Im deutschen Kader dazu: Der gelbgesperrte Michael Ballack und Jörg Butt. Sie wurden wieder nur Zweite.