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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Tritt das Worst-Case-Szenario ein? Tuchel: "Das glaubt mir ja auch keiner mehr"
Der FC Bayern muss im Meisterkampf mit Leverkusen einen überraschenden Rückschlag hinnehmen. Damit ändern sich die Vorzeichen grundlegend. Dem Rekordmeister droht das Worst-Case-Szenario.
Aus der Allianz Arena berichtet Julian Buhl
Thomas Müller zeigte den Reportern in den Katakomben der Allianz Arena eindrucksvoll, wie schnell er Situationen zu erkennen weiß. Als Werder Bremens Niklas Stark nach dem 1:0-Auswärtscoup beim FC Bayern mit einer Soundbox aus der Kabine kam und auf der gegenüberliegenden Seite durch die Mixed Zone lief, nutzte Müller den Überraschungsmoment kurzerhand zur Flucht. "Jetzt merkt ihr, wem der Sieg wichtig war", sagte er und beendete damit sein Interview, während der Ballerman-Hit "Dicht im Flieger" und dessen dröhnenden Bässe den Raum erfüllten.
Müller war schon an der Ausgangstür angekommen, als er für t-online dann doch noch einmal stehenblieb. Die Frage nach der nun komplett veränderten Ausgangsposition im Titelduell mit Bayer Leverkusen konnte und wollte der Vizekapitän des Rekordmeisters schließlich nicht unbeantwortet lassen.
Müller: "Die Realität ist jetzt eine neue"
"Der Spieltag war natürlich eine Katastrophe für uns im Meisterschaftskampf", sagte Müller t-online. "Die Situation, die Realität ist jetzt natürlich eine neue."
Die sieht nämlich so aus, dass die Münchner nach ihrem Patzer nun nicht mehr aus eigener Kraft Meister werden können und zwingend auf Patzer ihres Titelrivalen hoffen müssen. Denn während Bayern unerwartet gegen Bremen verlor, gewann Leverkusen trotz zweimaligen Rückstands noch durch einen Treffer in der Nachspielzeit mit 3:2 in Leipzig.
Sollte es der von Chefcoach Xabi Alonso angeführten "Werkself" am Ende tatsächlich gelingen, ihre erste deutsche Meisterschaft zu gewinnen, dürfte dieser 18. Spieltag im Rückblick möglicherweise den entscheidenden Wendepunkt dafür markieren. Nach dem hat Bayer jetzt nämlich sieben Punkte Vorsprung auf die Bayern.
Selbst wenn die ihr Nachholspiel am Mittwochabend gegen Union Berlin sowie das direkte Duell am 10. Februar gewinnen sollten, wäre Leverkusen also immer noch mit einem Punkt Vorsprung Tabellenführer – und Bayern müsste auf weitere Ausrutscher der in dieser Saison noch ungeschlagenen Leverkusener Mannschaft hoffen.
"Wir haben es nicht mehr in der eigenen Hand, das stimmt", sagte Bayerns Vorstandsboss Jan-Christian Dreesen t-online. "Die ersten 70 Minuten haben wir einfach langweiligen Fußball gespielt", so der 56-Jährige weiter: "Bremen hat gespürt, dass heute was geht gegen uns und verdient gewonnen." Bayern habe dagegen "nicht die Einstellung gezeigt, die man zeigen muss. Du musst halt arbeiten, beißen und dich anstrengen." All das tat Bayern am Sonntagnachmittag aber nicht.
Leverkusen präsentiert sich Bayern-like
Auch Leverkusen, so zumindest Dreesens Hoffnung, werde sicherlich noch die ein oder andere "Schwäche zeigen". Deren letzten beiden Spiele seien schließlich "ja auch nicht so souverän" gewesen. Das Alonso-Team gewann die Partien (1:0 in Augsburg und 3:2 in Leipzig) allerdings trotzdem noch in der Nachspielzeit – fast schon Bayern-like. Genau auf diese Art und Weise haben die Münchner in der Vergangenheit schließlich bereits so manchen Sieg und sogar Titel geholt.
Ex-Bayern-Kapitän Michael Ballack bei DAZN sagte dazu: "Das sind die Spiele, mit denen du am Ende eben auch Meisterschaften gewinnst, wenn du zurückblickst." Dreesen ist sich trotzdem sicher: "Es ist noch nichts verloren, wenn wir uns zusammenreißen, uns auf unsere Stärken besinnen." Er verwies auf die noch "lange Saison".
Zur neuen Realität des Dauerchampions der vergangenen elf Jahre gehört aber auch, dass die Bayern in Leverkusen nun einen ernstzunehmenden und historisch guten Herausforderer haben, was im vergangenen Jahrzehnt so nicht mehr der Fall war.
48 Punkte, die Leverkusen nach 18 Spieltagen gesammelt hat, schaffte bislang nur der Rekordmeister selbst: In der Saison 2013/14 (50 Zähler) und 2015/16 (49) jeweils unter Pep Guardiola. Darüber hinaus auch noch in bislang 27 Pflichtspielen der Saison ungeschlagen zu bleiben, ist vor Bayer noch keiner anderen deutschen Profi-Mannschaft gelungen.
Neuer: "Wir sind der Jäger und das muss in die Köpfe"
Zumindest Bayern-Kapitän Manuel Neuer ist sich der Stärke des Gegners bewusst. "Wir sind auf jeden Fall gewarnt und wissen, was Leverkusen gerade für einen Lauf hat und deshalb dürfen wir das nicht unterschätzen", mahnte Neuer. "Wir müssen den Ernst der Lage erkennen, dass wir nicht vorne stehen. Wir sind gerade der Jäger und das muss in die Köpfe", so der Torhüter nach dem enttäuschenden Auftritt gegen Werder.
Jeder müsse verstehen, "dass wir nichts zu verschenken haben und dass wir unsere Hausaufgaben einfach erledigen müssen". Stattdessen habe er auf dem Platz aber "so ein bisschen das Selbstverständnis vermisst".
Dass das der Mannschaft zum wiederholten Mal in dieser Saison passiert ist, gibt auch Chefcoach Thomas Tuchel zu denken – erst recht nach dem Kurztrainingslager in Portugal, mit dem er sein Team eigentlich auf die großen Ziele in der Rückrunde einschwören wollte.
Sein Team habe "gespielt, als würden wir mit zehn Punkten führen und hätten am Dienstag noch ein Champions-League-Spiel. Wir wollten ein Bundesligaspiel zwischen Übermut und Schongang runterreißen." Dass es stattdessen aber um alles und möglicherweise sogar eine Vorentscheidung in der Meisterschaft ging, war der Mannschaft jedenfalls nicht anzumerken.
Tuchel: "Das glaubt mir ja auch keiner mehr"
Deshalb habe er auch "keine Lust mehr, zu sagen, dass wir gut trainieren", sagte Tuchel sarkastisch: "Das glaubt mir langsam ja auch keiner mehr." Der leblose und harmlose Auftritt seiner Elf in den ersten 70 Minuten könne "niemals unser Anspruch sein. Das geht gegen jedes Gesetz von Leistungsentwicklung und Leistungssport".
Mit der in beide Richtungen ins Extrem ausschlagenden Wellenbewegung der Leistungskurve seiner Mannschaft hat Tuchel in dieser Spielzeit nicht zum ersten Mal zu kämpfen. Den in der Champions League meist souveränen Auftritten folgten bereits mehrere folgenschwere Rückschläge.
Mit ihrem desolaten Auftritt weckten die Bayern nun schlimme Erinnerungen an das Pokal-Aus bei Drittligist Saarbrücken (1:2), die 1:5-Klatsche in Frankfurt und das mit 0:3 verlorene Supercup-Finale gegen Leipzig bei der Saisonouvertüre in München.
Dieses Problem konnte Tuchel bislang nicht lösen
Alles ernüchternde Erlebnisse, die keinesfalls zum Selbstverständnis und den Ansprüchen des Rekordmeisters passen. Sollten noch weitere folgen, dürfte die ohnehin angespannte Stimmungslage in München noch weiter kippen, die Mannschaft und auch Tuchel dabei in den Fokus rücken. Denn auch er hat es noch immer nicht geschafft, diese rätselhaft schwachen Partien abzustellen, die in der vergangenen Saison noch viel häufiger zu beobachten waren, ebenso wenig wie die offensichtliche Verunsicherung des Teams, die dabei immer wieder zutage tritt.
Das sollte nun schnellstmöglich gelingen. Ansonsten droht dem Rekordmeister am Ende das Worst-Case-Szenario: eine komplett titellose Saison. Damit würden die Münchner dann endgültig in einer neuen Realität landen, einer aus ihrer Sicht ziemlich unangenehmen: einer Zeitenwende.
- Reporter vor Ort
- Gespräche in der Mixed Zone mit Thomas Müller, Jan-Christian Dreesen und Manuel Neuer
- Aussagen von Thomas Tuchel von der Pressekonferenz und bei DAZN
- Aussagen von Michael Ballack bei DAZN