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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Gewalt gegen Frauen "Er durfte nicht wissen, dass ich ausziehe"
Eine Frau verlässt ihren Partner und hat vor ihm so viel Angst, dass sie sich nur noch unter Polizeischutz in die eigene Wohnung traut. In solchen Fällen sollten Frauenhäuser nicht die einzige Lösung sein, fordert ein Kölner Streetworker.
Vor der offenen Tür eines Mehrparteienhauses irgendwo in Köln steht ein uniformierter Polizist. Eine Frau in karierter Bluse biegt zu Fuß in die Straße ein, schaut sich kurz um und geht auf ihn zu: "Guten Tag! Ich glaube, Sie sind wegen mir hier". Der Polizist deutet ein knappes Nicken an. Aus einem Wagen steigen weitere Beamte mit nüchterner Miene. Moralische Unterstützung ist nicht ihre Aufgabe, sie sind hier, um für Ordnung zu sorgen.
Den Weg, der vor der Frau mittleren Alters liegt, muss sie nicht ganz alleine gehen. Denn es kommt noch eine weitere Person hinzu: Streetworker Roman Friedrich. Über eine Bekannte hat die Frau, die hier Marina heißen soll, Kontakt zu ihm bekommen. Er tauscht sich kurz mit ihr aus, sie nickt, streicht sich mit zitternder Hand über die Stirn, dann geht es gemeinsam ins Haus hinein.
In einer der Wohnungen steht bereits die Tür offen. Hier wartet der Mann, mit dem sie hier gewohnt hat. Aus Angst vor seinen unberechenbaren Wutanfällen hat sie ihn wenige Wochen zuvor verlassen, konnte dabei aber nichts mitnehmen: "Er durfte nicht wissen, dass ich ausziehe. Er hat mir immer gedroht für den Fall, dass ich das tun würde", sagt sie. Nun ist verabredet, dass sie unter Polizeischutz die wichtigsten ihrer persönlichen Dinge zusammensuchen darf.
Spuren des Lebens in Müllsäcken und Kisten
Womit sie nicht gerechnet hat, ist das Bild, das sich ihr bietet: Ein Zimmer ist komplett gefüllt mit Kisten und prallen Müllsäcken, aus denen hier und da Kleidung, Kosmetika und andere zusammengeworfene Spuren eines Lebens hervorschauen. Mit verschränkten Armen und versteinerter Miene steht Marinas früherer Partner im Flur. Leise wechselt sie mit ihm ein paar Worte. "Er sagt, er hat alles von mir eingepackt", sagt Marina mit zitternder Stimme und schaut zu Roman.
Der guckt sich ratlos um: Für einen ungeplanten Umzug wird das kleine Auto, mit dem er hier ist, nicht reichen. "Ich weiß nicht, wo ich die Sachen lassen soll", murmelt Marina. Sie hat nach der Trennung noch keine eigene Wohnung gefunden und lebt zurzeit in einem Frauenhaus.
Für lange Überlegungen ist keine Zeit. Sie kann, was ihr Ex als ihren Besitz zusammengestellt hat, jetzt herausholen oder für immer darauf verzichten. Die Einsatzkräfte bleiben stumm. Ihre Aufgabe ist es lediglich, eine gewaltsame Auseinandersetzung zu verhindern. Seufzend packt Marina einen der Säcke. Streetworker Roman lädt sich eine Kiste auf. Gemeinsam tragen sie die Überbleibsel vom früheren Leben der frisch getrennten Frau in den schmalen Hausflur.
"Ist das alles?", fragt nach einer Dreiviertelstunde einer der Polizisten: "Wenn wir jetzt gehen, können Sie nicht wieder in die Wohnung". Marina nickt. Die Wohnungstür fällt ins Schloss. Die Polizisten machen sich auf den Weg zu ihrem Wagen. Es gab keine Handgreiflichkeiten, ihr Einsatz ist beendet.
Jetzt ist es an Marina, für den Verbleib ihres Besitzes eine Lösung zu finden. Sie telefoniert, ebenso Roman Friedrich. Schließlich hat sie einen Transporter organisiert und er am Stadtrand von Köln einen Keller ausfindig gemacht, in dem die Dinge erst einmal zwischengelagert werden können.
"Was mir wichtig war, fehlt trotzdem"
Einige Stunden später sitzen beide erschöpft in der Abendsonne. Was heute erledigt werden konnte, ist geregelt. "Ich war geschockt, als ich in die Wohnung kam. Er hat so viel gepackt, aber beim ersten Durchsehen vorhin habe ich schon gesehen: Was mir wichtig war, fehlt trotzdem", meint Marina.
Dann erzählt sie, wie sie ihren Mann 2015 über das Internet kennengelernt und sich in ihn verliebt hat. "Als meine Mutter gestorben ist, hat er mich sehr unterstützt und ich war ihm dankbar dafür". Später habe sich aber herausgestellt: "Der Mann, den ich kennengelernt habe, und der Mann, mit dem ich später gelebt habe, waren zwei verschiedene Persönlichkeiten. Er hatte immer häufiger Wutausbrüche, hat mich auf offener Straße angeschrien und beleidigt: 'Du bist dumm, du bist nichts, ich bin dein Besitzer und du hast hier nichts zu sagen.' Je mehr Menschen es mitbekommen haben, desto besser hat er sich gefühlt. Für mich war es schrecklich, ich habe mich sehr geschämt."
Um weniger von ihrem Mann abhängig zu sein, wollte Marina arbeiten gehen. Doch auch das habe er boykottiert, indem er die staatliche Unterstützung, von der beide lebten, komplett auf sein Konto habe laufen lassen. "Er hat mir gedroht, mich fertigzumachen und mir meine Papiere wegzunehmen. Er hat Sachen an die Wand geworfen, auch körperlich drohende Gesten gemacht. Ein paar Wochen später wäre die Situation wahrscheinlich völlig eskaliert", glaubt sie. Denn: "Nachdem ich schon längst mit ihm verheiratet war, fragte mich seine erwachsene Tochter, ob er mich schlägt. Sie sagte, ihre Mutter habe er auch geschlagen."
Wann immer sie allein die Wohnung verließ, habe er eine Erklärung verlangt, wo sie hinging. Umso schwerer sei es für sie gewesen, unbemerkt die Trennung in die Wege zu leiten. Gelungen ist es ihr schließlich durch die Hilfe einer Freundin, deren Nummer sie bei der Frauenberatungsstelle hinterlassen durfte: So erfuhr sie nach langem Warten von einem Frauenhaus außerhalb Kölns, in das sie übergangsweise einziehen konnte.
"Frauenhäuser sind nicht die einzige Lösung"
Der Mangel an Frauenhausplätzen ist ein bekanntes Problem in Köln. Mit dem geplanten Bau eines dritten Frauenhauses soll das besser werden. "Durch meine Arbeit kriege ich immer wieder mit, dass es viel zu wenige Frauenhausplätze in Köln gibt", bestätigt Roman Friedrich, der sich als Mitglied der CDU-Fraktion der Bezirksvertretung Chorweiler sowie des Jugendhilfeausschusses der Stadt auch politisch mit dem Thema befasst.
Trotzdem findet er: "Frauenhäuser sind der letzte Ausweg, aber nicht die einzige Lösung. Wir brauchen eine neue Form der Wertevermittlung, damit die Männer umdenken – und zwar in allen Kreisen. Würde man mehr in die Prävention stecken, dann bräuchte man gar nicht so viele kostspielige Plätze in Frauenhäusern."
Marina lebte mit ihrem Mann von Sozialhilfe, doch Roman Friedrich kennt viele Fälle von Frauen aus ganz unterschiedlichen Kreisen, die es ebenso schwer hatten. "Einige sind auch sehr gut situiert. Gewalt gegen Frauen ist ein Problem in der Mitte der Gesellschaft, das muss man beim Namen nennen", sagt er und berichtet von einer Akademikerin, die das Land verlassen hat, nachdem ein hochrangiger Politiker sie erst sexuell belästigt und ihr dann das Leben schwer gemacht habe. Friedrich: "Da hat man als Frau keine Chance. Es gibt keine Instrumente gegen solche Leute. Und das ist nur einer von vielen Fällen, die mich beschäftigen und wütend machen. Gewalt gegen Frauen betrifft alle Bevölkerungskreise."
Prävention sollte so wichtig sein wie Kampf gegen Corona
Aktuell eskaliere infolge der Pandemie die häusliche Gewalt noch mehr als bislang. "Was wir brauchen, ist viel mehr qualifizierte psychologische Beratung – und zwar auch für die Männer, damit sie umdenken. Es gibt viel zu wenige Beratungsstellen, und die werden von vielen nicht gerne in Anspruch genommen", kritisiert Friedrich.
Er würde sich wünschen, dass die Gewaltprävention zum Schutz von Frauen so vorangetrieben würde wie die Bewältigung der Pandemie: "Wenn es an Impfwilligkeit mangelt, gibt es ganz schnell viele Mittel, um das Impfen mit kreativen Methoden zu popularisieren. Ich habe selbst gerade so ein Projekt bewilligt bekommen, das war so unkompliziert wie nichts zuvor. Genauso müssen wir es mit kreativen Strategien in unserer Gesellschaft etablieren, psychologische Beratung nicht negativ aufzufassen". Das sei effiziente Prävention.
Denn hätte Marinas Mann gelernt, seine Unzufriedenheit anders als durch die Gewalt gegen seine Frau zu bewältigen, hätte der Weg der beiden womöglich anders verlaufen können.
- Eigene Beobachtungen
- Gespräch mit Marina (Name der Redaktion bekannt)
- Gespräch mit Streetworker Roman Friedrich