Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Freizeitparks als zweite Heimat Dieser Kölner fuhr bereits 552 Achterbahnen in 16 Ländern
Jürgen Nießen hat ein außergewöhnliches Hobby: Achterbahnen fahren. Der Kölner hat bereits 552 verschiedene Bahnen in 16 europäischen Ländern getestet und dokumentiert.
Empfindlichen Menschen dürfte sich schon beim Zugucken der Magen umdrehen. Beispiel "Red Force", die höchste Achterbahn Europas im spanischen Salou. "Man wird von null auf 180 Stundenkilometer in fünf Sekunden beschleunigt", erzählt Jürgen Nießen: "Und zwar senkrecht auf 112 Meter." Abruptes Abbremsen auf dem Scheitelpunkt, dann irrsinnig-senkrechtes Abwärtsrauschen 112 Meter in den Abgrund. "Nach 40 Sekunden ist alles vorbei."
Jürgen Nießen sitzt in seinem Wohnzimmer im neunten Stock eines Hochhauses in Köln-Zollstock. Ein paar Modell-Lokomotiven erinnern hier an seinen Job bei der Deutschen Bahn. Dass er in seiner Freizeit leidenschaftlich gern in Schienenfahrzeuge mit weitaus größerem Spaßfaktor steigt als eine S-Bahn mit 45-minütiger Verspätung, gibt die Einrichtung nicht zu erkennen. Doch Jürgen Nießen hat bereits 552 verschiedene Achterbahnen in 16 europäischen Ländern ausprobiert. Und zwar meistens "Hands up", also ohne sich festzuhalten: "Der Kick ist dann noch größer."
Als Mitglied des "Freundeskreises Kirmes und Freizeitparks" hat der 54-Jährige sein Hobby längst professionalisiert. 2011 hat sich der gelernte Lokführer dem Verein angeschlossen, der Fahrten zu den verrücktesten Fahrgeschäften organisiert.
Der Achterbahn-Experte darf manchmal schon vorher testen
Manchmal dürfen die Mitglieder Neuheiten schon vor der offiziellen Eröffnung testen. Kürzlich etwa konnten sie "Voltron Nevera" im Pre-Opening ausprobieren, eine ganz neue Katapult-Achterbahn im Europapark Rust. 2,2 Sekunden Schwerelosigkeit und sieben Über-Kopf-Elemente inklusive. Ganz frisch sind auch Jürgen Nießens Eindrücke aus dem Thorpe Park in England. Hier steht "Hyperia", mit 72 Metern Großbritanniens höchste Achterbahn. Dabei handele es sich um die klassische Bauart, erklärt der Experte: Die Wagen werden einen Berg hochgezogen, um den Rest der Fahrt aus eigenem Schwung zu bestreiten. Andere Hersteller generieren ihren Antrieb aus elektromagnetischen Wanderfeldern, wie es bei "Voltron Nevera" der Fall ist. "Jede Bahn hat ihre Vor- und Nachteile", sagt Jürgen Nießen. Einen Favoriten habe er nicht. Aber insgesamt steigen seine Ansprüche: "Es muss extremer werden, um noch einen Kick zu haben."
Austausch mit der Achterbahn-Community
Vor jeder Fahrt tauscht sich die Community über Neuheiten aus. Wenn Jürgen Nießen zum ersten Mal eine Achterbahn besteigt, hat er den Streckenverlauf bereits im Kopf. "Aber wenn man sie selbst fährt, ist das natürlich etwas anderes, eine neue Bahn ist immer mit Aufregung verbunden." Die Anspannung vor der ersten Fahrt, die Schwerelosigkeit, die für wenige Sekunden entsteht, wenn die Waggons parabelförmige Hügel passieren, die mehrfachen Loopings – der Kölner kann sich auch nach ungezählten Fahrten noch wie ein Kind freuen, wenn er den Sicherheitsbügel in Stellung bringen darf. Dieses magische Gefühl stellte sich bei ihm erstmals mit drei Jahren ein. Anfang der 1970-er Jahre nahm ihn sein Vater mit in den Vergnügungspark Tivoli in der Riehler Rheinaue. Dort stand damals eine Achterbahn vom Typ "Wildcat 65": "Da muss ich mir ein Achterbahn-Virus eingefangen haben."
Die Homepage coaster-count.com registriert rund 8.100 Achterbahnen, die weltweit in Betrieb sind. Dazu zählen sowohl stationäre als auch reisende Konstruktionen. Deutschland kommt auf 374 fahrbereite Bahnen. In den USA sind es 1.303, in China sogar 1.726. Möglichst viele verschiedene davon getestet zu haben, ist ein Sport in der Fangemeinde: Auf der "Coaster Count"-Rangliste ist die Reihe der Nutzer mit mehr als 800 unterschiedlichen Achterbahn-Besuchen lang. Ganz oben steht ein gewisser George mit weit über 3.000 Fahrten. Homepage-Gründer Volker Sauer schätzt die internationale Szene auf rund 5.000 Hardcore-Fans mit mehr als 500 unterschiedlichen Bahnen auf dem Konto. Jürgen Nießen gehört also längst zur Achterbahn-Elite. Voraussetzung dafür ist natürlich eine robuste Gesundheit, die er ohne Frage hat: Die berühmt-berüchtigte "Black Mamba" im Phantasialand fuhr er zwölfmal hintereinander. Jüngere Fans schafften noch mehr.
Was ist eine Achterbahn – und was nicht?
Die Fachwelt diskutiere kontrovers, was noch als Achterbahn gilt und was nicht, sagt der Kölner. Sogenannte Butterfly-Pendelbahnen, bei denen der Wagen eine Steigung hochgezogen wird, um dann aus eigener Kraft auf einer u-förmigen Strecke auszupendeln, würden nicht von allen anerkannt. Jürgen Nießen jedoch sieht es nicht so eng. Er kann fast überall seinen Spaß haben, vor allem in Gemeinschaft Gleichgesinnter. In Polen stürmte er mal mit zehn Freunden eine Kinderachterbahn mit Drachenkopf und fuhr immer wieder johlend im Kreis. Solche Aktionen kämen immer wieder vor: "Die Kinder gucken dann immer dumm aus der Wäsche."
Besonders ehrgeizige Clubmitglieder sind ganz scharf darauf, sämtliche Achterbahnen eines Landes ausprobiert zu haben. "Bei Neueröffnungen packen sie dann sofort die Koffer", sagt Jürgen Nießen, der auch hier eher zur entspannten Fraktion gehört. Aber seinen Radius erweitern will er schon. Mit seiner Frau wird er 2025 Urlaub in den USA machen. Auf dem Programm stehen Las Vegas, San Francisco und Los Angeles. Und so mancher Vergnügungspark am Wegesrand. Angst um seine Gesundheit habe er übrigens nicht. Achterbahnen seien trotz einiger Zwischenfälle relativ sicher: "Das größte Risiko ist, mit dem Auto zum Freizeitpark zu fahren."
- Gespräch mit Jürgen Nießen
- Telefonat mit "Coaster Count"-Geschäftsführer Volker Sauer