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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Prozess gegen Babysitter Als die Details verlesen werden, verlassen die Zuschauer den Saal
Mehrere Zuschauer verlassen den Gerichtssaal – so schauderhaft sind die Details. Doch Marcus R., angeklagt wegen hundertfachen Missbrauchs, räumt die Vorwürfe ein.
Brille, freundliches, gepflegtes Gesicht und dunkelblonde kurze Haare. Marcus R., der jünger aussieht als 45, wirkt tatsächlich wie der nette Kerl von nebenan. Oder eben wie der fürsorgliche Babysitter, für den er sich im Internet ausgab. Aber Marcus R. wollte sich nicht um die Kinder kümmern. Er wollte sie missbrauchen. Und das hat er laut Anklage auch in 124 Fällen getan.
Zwischen 2005 und 2019 soll R. zahlreiche Kinder in Köln und andernorts sexuell missbraucht haben, beim Großteil der Fälle kam es zur Penetration. Zudem fertigte er Bild- und Videomaterial seiner Taten an, tauschte die Aufnahmen im Internet mit anderen Pädokriminellen. Über einen solchen Chat wurden 2021 die Ermittler auf R. aufmerksam. Ein Spezialkommando nahm ihn im Dezember letzten Jahres in seinem Wohnhaus in Wermelskirchen fest. Nun hat vor dem Landgericht Köln der Prozess gegen ihn begonnen.
53 Seiten dokumentieren den Missbrauch
Rund zwei Stunden lang dauert es, bis die Anklageschrift verlesen ist. Zwei Stunden, in denen in Saal 7 der zweiten Großen Strafkammer fassungsloses Schweigen herrscht. 53 Seiten lang ist der Text, und er zeugt von den seelischen Abgründen des Angeklagten, von dem Sadismus und der Verachtung menschlichen Lebens, die in seinen Taten zum Ausdruck gekommen sind.
Während die Anklageschrift verlesen wird, unterbricht Richter Christoph Kaufmann einmal den Vortrag der Staatsanwältin, damit ein 15-jähriger Zuhörer den Saal verlassen kann. Im Laufe der zwei Stunden folgen ihm weitere Besucher des Prozesses nach draußen.
Als die Staatsanwaltschaft die einzelnen Missbrauchstaten im Detail verliest, sitzt Marcus R. da. Mit geradem Rücken, den Blick auf die Anklageschrift vor sich gewandt. Nur manchmal schließt der Angeklagte die Augen oder blickt auf zur Staatsanwaltschaft. Ansonsten bleibt der kleine, schlanke Mann im hellen Hemd und dem blauen Kapuzenpullover regungslos. Und stumm. Er lässt seine Verteidiger Simon Kantz und Christian Lange für sich sprechen.
Einige Opfer nur wenige Wochen alt
Nur einmal hören die Anwesenden die Stimme des Mannes, der Kinder in 124 Fällen schwer misshandelt und missbraucht hat. Dann nämlich, als ihn Richter Christoph Kaufmann nach seinem Familienstand fragt. "Verheiratet", sagt Marcus R. da, seine Stimme ist leise und ebenso unscheinbar wie sein Äußeres. Er und seine Frau haben 2018 geheiratet, gemeinsam in einem Neubau in Wermelskirchen-Tente gewohnt. Da war er schon dreizehn Jahre lang in pädokriminellen Kreisen aktiv.
Es fällt schwer, diesen Mann mit den Taten in Verbindung zu bringen, die die Staatsanwaltschaft in einem unendlich erscheinenden Kraftakt verliest. Von 2005 bis 2019 hat Marcus R. zahlreiche Kinder und Heranwachsende missbraucht. Die Fälle ereigneten sich unter anderem in Köln, Rösrath und Solingen. Einige Opfer waren erst wenige Wochen oder Monate alt, Säuglinge, Kleinkinder und geistig behinderte Heranwachsende, die R. oft über Jahre hinweg missbrauchte. Auch das damals einjährige Kind einer Frau ist darunter, mit der R. kurzzeitig liiert war.
Schlafmittel und Sexspielzeug
In manchen Fällen betäubte der heute 45-Jährige, der in Frechen geboren wurde, seine Opfer mit Schlaf- oder Schmerzmitteln. Häufig setzte R. bei seinen Missbrauchstaten auch Sexspielzeug oder medizinische Werkzeuge sowie Reizstromgeräte zur elektronischen Stimulation der eigenen und fremder Geschlechtsorgane ein. Er ejakulierte in Joghurtbecher und urinierte in Trinkflaschen, ließ seine ahnungslosen Opfer davon trinken. Andere Handlungen fallen noch schockierender aus.
Oder er beging den Missbrauch zusammen mit anderen Männern, ermutigte sie über Chat und Webcam dazu, sich an ihren jüngeren Brüdern oder ihren Töchtern zu vergehen. "Ich hab noch nie so etwas Geiles gesehen", kommentiert R. etwa die Taten eines anderen Mannes im Netz, der einen kleinen Jungen missbraucht. Es sind Sätze, die nur schwer zu ertragen sind.
Diese Webcam-Übertragungen filmte R. ebenso mit wie seine eigenen Taten. Er dokumentierte das unaussprechliche Leid, das er seinen Opfern antat, gab den Videos vielsagende Titel. Allein deren Wiedergabe würde das Moralempfinden verletzen. Bei seiner Festnahme stellten die Ermittler fünf Millionen Bild- und Videodateien sicher, die den sexuellen Missbrauch von Kindern zeigen. Eine "blinde Datensammelwut", nennt R.s Verteidiger Christian Lange das.
Anklage: "Eine Gefahr für die Gesellschaft"
"Wegen eines Hanges zu erheblichen Straftaten ist der Angeklagte eine Gefahr für die Gesellschaft", schließt die Staatsanwaltschaft die Anklage. Und auch hier zeigt Marcus R. keine Regung, die Mimik ist ausdruckslos. Noch immer sagt er nichts. Stattdessen ergreifen nun seine Verteidiger das Wort für ihren Mandanten, verkünden in einer Stellungnahme, dass Marcus R. die gegen ihn erhobenen Vorwürfe einräume.
Was in der Anklageschrift geschrieben steht, ist also genau so passiert. Das Unvorstellbare ist Wirklichkeit. Nur "Chef einer Organisation, die organisierten Kindesmissbrauch" betrieben hat, möchte Marcus R. nicht gewesen sein. Schließlich sei jeder selbst für seine Taten verantwortlich, nicht er allein. R. will ein kurzfristiges Schmerzensgeld an die Geschädigten zahlen. Auch wenn das Leid, das er verursacht hat, nicht mit Geld aufzuwiegen sei.
"Er ist nicht mehr das Monster, vor dem sich alle fürchten müssen"
"Unser Mandant möchte mit dieser Vergangenheit abschließen und damit aufräumen", verkündet Rechtsanwalt Christian Lange, richtet sich dann an die Pressevertreter im Saal. "Oft wurde der Angeklagte in den Medien als Monster beschrieben", sagt Lange. "Und mit Blick auf die eben gehörte Anklage mag das auch nicht ganz unzutreffend sein."
Dennoch, so fährt der Verteidiger fort, säße heute ein anderer Mensch im Gerichtssaal, die Taten seien schließlich zum Großteil schon lange her. "Er ist nicht mehr das Monster, vor dem sich alle fürchten müssen", sagt Lange am Ende des Statements. Zudem hätten sein Geständnis und die Dokumentation seiner Taten dazu beigetragen, dass viele der Fälle überhaupt erst ans Licht gekommen seien. Das müsse in die "Gewichtung mit einfließen", fordert Lange, erntet ein ungläubiges Raunen von den Besucherplätzen.
Verhandlung wird fortgesetzt
Nach der Stellungnahme der Verteidigung hat Anwalt Christian Lange nur noch eine letzte Frage an den Richter. Ob er seinem Mandanten an den kommenden Verhandlungstagen etwas zu trinken mitbringen dürfe, möchte er wissen. Mit Blick auf die Apfelschorle auf dem Tisch des Anwalts und einige Taten des Angeklagten erwidert der Richter: "Solange es sich bei dieser gelben Flüssigkeit wirklich nur um Limonade handelt, ist das in Ordnung."
Dann erheben sich die beiden Verteidiger und jener Mann, der kein Monster mehr sein will. Marcus R. zieht sich seinen Mund-Nasen-Schutz über, seinen Kapuzenpullover und verlässt mit seinen Anwälten den Saal. Ein Gefangenentransporter wird ihn zurück in die JVA Köln in Ossendorf bringen. Bereits am Mittwoch geht die Verhandlung weiter.
Der Prozess ist erst der Anfang
Bereits im Vorfeld des Prozessauftakts hatte die Verteidigung angekündigt, dass Marcus R. die ihm zur Last gelegten Vorwürfe gestehen werde. So habe er sich schon in Untersuchungshaft kooperativ gezeigt und der Polizei bei den Ermittlungen zu weiteren Tatverdächtigen geholfen.
Denn Marcus R. ist nur ein Täter von vielen. Nachdem die Polizei den 45-Jährigen im Dezember 2021 verhaftet hatte, konnte sie Verbindungen zu anderen Pädokriminellen in ganz Deutschland und sogar im Ausland aufdecken. So seien weitere Tatverdächtige auch in Kanada und Großbritannien ansässig. Insgesamt laufen derzeit 133 Ermittlungsverfahren gegen Beschuldigte, die mutmaßlich dem sogenannten Missbrauchskomplex von Wermelskirchen angehörten.
Der groß angelegte Prozess gegen Marcus R. ist auf 25 Verhandlungstage angesetzt. Das Urteil wird für Ende Februar erwartet.
- Reporter vor Ort