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Fall Arian: Fehler in der Polizei-Arbeit? Experte analysiert Ermittlungen


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Kriminologe zum Fall Arian
"Es bestand von Anfang an eine höhere Gefährdung"

  • Markus Krause, Regio-Redakteur für Hamburg.
InterviewVon Markus Krause

Aktualisiert am 29.06.2024Lesedauer: 5 Min.
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Der sechsjährige Arian: Er wurde mehr als zwei Monate lang vermisst, ehe er tot aufgefunden wurde. (Quelle: Polizei/t-online)

Der wochenlang vermisste Arian ist tot. Ein Experte bewertet die polizeilichen Maßnahmen und spricht über die schwierige Situation der Eltern.

Zu Beginn dieser Woche hat ein Landwirt auf einem Feld bei Behrste in der Gemeinde Estorf eine Kinderleiche bei Mäharbeiten gefunden. Seit Donnerstagnachmittag herrscht Gewissheit, dass es sich um den sechsjährigen Arian handelt, der Anfang April in Elm bei Bremervörde aus seinem Elternhaus verschwand.

Karsten Bettels, ehemaliger Kriminaldirektor bei der Polizei in Niedersachsen und heute Kursleiter des International Cold Case Analysis Project (ICCAP) für das Europäische Zentrum für vermisste Kinder, Amber Alert Europe, kennt sich mit Vermisstenfällen aus. Im Interview mit t-online erklärt er, wie die Ermittlungen im Fall Arian zu bewerten sind und wie man Eltern die Nachricht vom Tod eines Kindes überbringt.

t-online: Herr Bettels, wie geht man als Ermittler in einem Vermisstenfall mit Misserfolg um?

Karsten Bettels: Das hängt davon ab, wie man das Wort Misserfolg definiert. Von 16.500 Kindern, die im Laufe eines Jahres als vermisst gelten, werden 400 bis 500 Kinder im selben Zeitraum nicht gefunden. Das belegen aktuelle Zahlen des BKA. Wenn Kinder, auch aus ganz unterschiedlichen Gründen, nicht wieder auftauchen, kann man sicherlich von Misserfolg sprechen. Denn das Ziel ist ja immer, einen Vermisstenfall aufzuklären und Licht ins Dunkel zu bringen.

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Also ist der Fall Arian kein Misserfolg?

Bei Arian war die Ausgangsposition etwas anders. Aufgrund seines Autismus bestand von Anfang an eine höhere Gefährdung. Natürlich kann man von einem Misserfolg sprechen, weil er nicht innerhalb der ersten Tage und Wochen lebend im Suchgebiet gefunden wurde. Das wird von den Ermittlern sicher auch genauso gesehen. Aber man hat jetzt Gewissheit. Der Junge wurde gefunden, wenn auch nicht lebend. Damit ist der Vermisstenfall zumindest geklärt. Jetzt muss versucht werden, sein Schicksal vor seinem Tod zu klären. Dazu gehört auch die Frage, warum die ersten Suchmaßnahmen nicht zum Erfolg geführt haben.

Der Fundort der Leiche wurde während der Suchmaßnahmen durchkämmt. Halten Sie es für möglich, dass der Junge übersehen wurde?

Ich kann keine Beurteilung zu laufenden Verfahren abgeben. Man muss abwarten, was die weiteren Feststellungen zur Chronologie der Suchmaßnahmen ergeben. Fest steht: Zu diesem Zeitpunkt herrschte eine andere Vegetation als heute, auch die Landschaft stellte sich ganz anders dar. Es ist daher eher unwahrscheinlich, dass der Junge zu diesem Zeitpunkt an dieser Stelle einfach übersehen worden ist. Im Nachhinein gibt es aber möglicherweise andere Erklärungen.

Video | Leichenfund: Polizei vermutet Zusammenhang mit Fall Arian
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Quelle: dpa

Welche denn?

Zum Beispiel, dass der Junge erst später an die Stelle gelangt ist, wo er jetzt gefunden wurde. Zu einem Zeitpunkt, als die Suchmaßnahmen schon abgeschlossen waren. Man muss jetzt die weiteren Ermittlungen und auch die abschließenden Befunde der Obduktion abwarten. Dann können vielleicht auch Aussagen getroffen werden, wie lange der Junge schon tot war, bevor er gefunden wurde. Ich werde mich nicht beteiligen mit Spekulationen und möglichen Szenarien.

Die Suchmaßnahmen haben sich immer wieder auf den Fluss Oste konzentriert. War diese Entscheidung richtig? Gefunden wurde Arian schließlich woanders.

Im Rahmen der Suchmaßnahmen und auch während der Ermittlungen werden vielfältige Szenarien überlegt worden sein. Am Anfang ging es aber um die Einleitung von Sofortmaßnahmen. Die Oste war für Arian verhältnismäßig schnell zu erreichen und gleichzeitig eine natürliche Begrenzung, die der Junge nicht überwinden konnte. Dazu wurden dort Spuren gefunden, die ihm zugeordnet wurden. Auch ist das Ertrinken bei vermissten autistischen Kinder die weitaus häufigste Unfallursache, wie Statistiken aus den USA belegen. Vor dem Hintergrund seines Krankheitsbildes bestand eine mögliche Lebensgefahr, denn schwimmen konnte der Junge mit Sicherheit nicht. Dass der Schwerpunkt auf die Oste und andere Gewässer, neben der Suche an Land, gelegt wurde, ist daher absolut sinnvoll und rational nachvollziehbar.

Studie: Vermisste Kinder mit Autismus

Laut Untersuchungen des Nationalen Zentrums für vermisste Kinder aus den USA ist Ertrinken eine der Haupt-Todesursachen bei vermissten Kindern, insbesondere bei Kindern mit Autismus. Von 1.516 vermissten Kindern mit Autismus in den USA sind zwischen 2011 und 2022 vier Prozent, also 64 Kinder, tot aufgefunden worden. In 84 Prozent der Fälle bei einem Unfalltod war Ertrinken die Ursache.

Sind im Fall Arian unterm Strich die richtigen Entscheidungen getroffen worden?

Aus meiner Sicht hat man, bezogen auf das Krankheitsbild des Jungen, sehr schnell und sehr gut reagiert. Man hat sich Kompetenzen reingeholt und sich beraten lassen von Menschen, die den Umgang mit autistischen Kindern kennen. Man wusste aufgrund eines Videos, dass der Junge das Haus eigenständig verlassen hat. Dazu kamen die Spuren an der Oste. Auf Basis der objektiven Informationen, die man hatte, wurden dann entsprechende Suchmaßnahmen entwickelt, um den Jungen möglichst schnell zu finden.

Inwieweit hätte der Einsatz von Cell Broadcasting oder von Warn-Apps wie Nina bei der Suche nach Arian helfen können?

Der Einsatz eines Cell Broadcasting oder Warn-Apps wie Nina für Sofortlagen bei vermissten Kindern, wo eine Lebensgefahr nicht ausgeschlossen werden kann, ist auch in Deutschland dringend geboten – sei es, um diese bestehende Lebensgefahr abzuwenden oder im Falle einer Straftat zusätzlich noch Hinweise aus der Bevölkerung zu erhalten, die zur Klärung der Tat beitragen können. Da kommt es auf Minuten an. In den USA wird dafür das Informationssystem Amber Alert eingesetzt.

Man muss feststellen, dass Deutschland der Entwicklung weit hinterherläuft. Allein in Europa gibt es bereits weit mehr als 20 Staaten, die ein solches System offiziell eingeführt haben. Hier gibt es also einen dringenden Handlungsbedarf.

Informationssystem Amber Alert

Amber ist ein System zur Verbreitung von Vermisstenmeldungen von Kindern in den USA. Das Alarmsystem ist nach Amber Hagerman benannt, die 1996 vermisst und später ermordet aufgefunden wurde. Der Fall wurde bis heute nicht aufgeklärt. Mit Kenia gibt es seit März dieses Jahres auch einen afrikanischen Staat, der über ein Amber Alert verfügt.

Wie überbringt man Eltern die Nachricht, dass das eigene Kind sehr wahrscheinlich tot ist?

Dafür gibt es speziell geschulte Angehörigenbetreuer, die die Kommunikation mit den Eltern übernehmen. Solche Betreuer werden möglichst schnell in die Familien gebracht, die eine Extremsituation durchmachen. Sie sorgen für die Kommunikation zwischen Polizei und der Familie, bauen Vertrauensverhältnisse auf und tauschen sich mit den Angehörigen aus, um Informationen gegenseitig zu übermitteln. Sie sind auch dafür zuständig, die Eltern aufzuklären, zu beraten und zum Beispiel von den Medien abzuschirmen. Eine Familie, die in so eine Extremsituation gerät, ist im Umgang damit verständlicherweise auch überfordert.

Wie geht es dann weiter?

Die Begleitung wird immer so durchgeführt, wie es die Angehörigen wollen. Den einen reicht es, einmal in der Woche zu telefonieren, andere möchten, dass die Betreuer nachts dort übernachten. Es sollte eine Telefonnummer geben, die die Angehörigen immer anrufen können und an deren Ende immer derselbe Kreis von Kollegen sitzt.

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Und wenn die Stunde der Wahrheit kommt?

In diesem Fall müssen diese Informationen, wie sicher sicherlich auch bei Arian, dann sofort die Eltern über die Angehörigenbetreuer erreichen. Es wäre das Schlimmste in so einem Fall, wenn Angehörige aus der Zeitung oder den Medien davon erfahren. Das kann für die Polizei auch eine Herausforderung sein, bei den heute online schnell verfügbaren Nachrichten schneller als alle anderen zu sein.

Karsten Bettels: Als Kursleiter des International Cold Case Analysis Project (ICCAP) kennt er sich mit Vermisstenfällen aus.
Karsten Bettels: Der Kriminologe kennt sich mit Vermisstenfällen aus. (Quelle: privat)

Karsten Bettels

Er war jahrelang Kriminaldirektor bei der Polizei in Niedersachsen und leitete für angehende Kommissare an der Polizeiakademie den Kurs Cold Cases. Heute arbeitet er mit Polizeihochschulen und Universitäten aus Europa, Australien und den USA im Internationalen Cold Case Analyse Projekt (ICCAP) für das Europäische Zentrum für vermisste Kinder, Amber Alert Europe, und unterstützt Ermittlungsbehörden in Cold Cases und Vermisstenfällen.

Spricht man schon vorher mit den Angehörigen über dieses Szenario?

So tragisch das Ganze ist, glaube ich, dass mit den Eltern vorher darüber geredet worden ist, dass, je länger das Verschwinden zurückliegt, Arian nicht mehr lebend gefunden wird, auch wenn man seitens der Eltern und der Polizei sich etwas anderes wünscht. Aber ich bin mir sicher, dass die Eltern durch die Polizei darauf vorbereitet wurden.

Was passiert nun, um den Fall abzuschließen?

Wir haben hier eine tragische Situation, aber wir haben auch einen Abschluss. Es steht fest, dass Arian nicht mehr am Leben ist. Die Eltern haben Gewissheit. Sie haben in der Zukunft auch einen Ort, an dem sie trauern können. Von polizeilicher Seite müssen keine weiteren Suchmaßnahmen entwickelt werden. Jetzt gilt es herauszufinden, was mit dem Kind passiert ist. Dabei werden auch die abschließenden Ergebnisse aus der Obduktion eine Rolle spielen und hoffentlich Aufklärung bringen.

Verwendete Quellen
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