Zwei Monate Suche nach Arian "Damit eine Warnapp funktioniert, muss sie freiwillig sein"
Immer wieder verschwinden in Deutschland Kinder. Zuletzt bewegte der Fall von Arian aus Niedersachsen viele Menschen. Kann das Handy künftig bei der Suche helfen?
Seit mehr als zwei Monaten ist der sechsjährige Arian aus dem niedersächsischen Bremervörde verschwunden. Nun könnte es bald traurige Gewissheit geben: Ein Landwirt hat eine Kinderleiche entdeckt, wenige Kilometer vom Wohnort des Jungen entfernt, die Polizei hält es für sehr wahrscheinlich, dass es sich dabei um Arian handeln könnte. Eine Obduktion soll die Identität des Kindes bestätigen.
Doch hätte der autistische Arian, der nicht spricht und wohl nicht auf Fremde reagiert, schneller gefunden werden können? Auch das wollen Ermittler nun herausfinden und dazu die Suche rekonstruieren. Ein Vorschlag, der jetzt in der Politik diskutiert wird: Die Technik für Warnnachrichten auf dem Handy, mit denen auf Katastrophen und Unwetter hingewiesen wird, könnte auch für die Suche nach Vermissten eingesetzt werden.
"Es ist ein absoluter Albtraum, wenn Kinder vermisst werden, und wir müssen alles tun, damit sie schnell gefunden werden", sagt Marcel Emmerich t-online, der Obmann der Grünen im Innenausschuss des Bundestags. Der sogenannte Cell Broadcast (mehr Informationen dazu hier) werde schon erfolgreich bei Hochwasserwarnungen eingesetzt. "Warum nicht auch bei vermissten Kindern? Wenn so ein Suchaufruf per SMS oder Nina-App helfen kann, dann sollten Länder und Bund das gemeinsam angehen."
Andere Länder suchen per Handymeldung
Laut dem Europäischen Institut für Telekommunikationsnormen ist es kein Problem, Vermisstenmeldungen über Cell Broadcast zu versenden. In anderen europäischen Ländern ist das schon Praxis. Grünen-Politiker Emmerich sagt, das zeige: "Es ist technisch machbar, die Zahl der Meldungen überschaubar und wenn wir dadurch nur ein vermisstes Kind mehr finden und es sicher nach Hause bringen, ist das schon ein Erfolg."
Anders als bei Warnungen über Nina muss für eine Meldung über Cell Broadcast keine App installiert werden. Der SPD-Innenpolitiker Ingo Schäfer tendiert jedoch eher zu einer Lösung über die Nina-Warnapp: "Jede technische Lösung, die dabei hilft, vermisste Kinder schneller zu finden, sollte jetzt geprüft werden", sagt Schäfer t-online. Die Nina-Warnapp eigne sich deswegen gut, weil sie Nutzern erlaube einzustellen, welche Meldungen sie bekommen.
Nutzer sollten aus Schäfers Sicht auswählen dürfen, ob sie über vermisste Kinder oder etwa nur über Unwetter und Katastrophen informiert werden wollen. "Damit eine Warnapp funktioniert und von möglichst vielen genutzt wird, muss sie freiwillig sein", sagt Schäfer. Sonst würden Nutzer die App deinstallieren, um keine unerwünschten Benachrichtigungen mehr zu erhalten.
CDU-Politikerin sieht "Amber Alert" aus den USA als Vorbild
CDU-Innenpolitikerin Nina Warken begrüßt, dass das Innenministerium die Nutzung der Nina-Warnapp für die Vermisstensuche prüft, äußert aber auch "Zweifel am Mehrwert". Schließlich warne die App nur jene, die sie aktiv herunterladen. Für denkbar hält sie, Hersteller von Betriebssystemen und Smartphones zu verpflichten, Apps wie Nina vorzuinstallieren. Allerdings fehle dafür derzeit eine rechtliche Grundlage auf Bundesebene.
"Aus meiner persönlichen Sicht wäre daher ein System ähnlich des amerikanischen 'Amber Alerts' sehr viel sinnvoller, das weit umfassender wirkt", so Warken, die Parlamentarische Geschäftsführerin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist. In den USA können Behörden über das Amber-Alert-System in allen oder in ausgewählten Bundesstaaten Suchaufrufe starten, die dann auf Radiostationen und Verkehrsinformationstafeln erscheinen.
"Beide Systeme müssen insbesondere mit Blick auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und den Datenschutz genauestens geprüft werden", fordert Warken. Es handle sich um eine Diskussion, "die unbedingt geführt werden sollte".
Bundesamt befürwortet Ausweitung
Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) steht der Idee einer technischen Ausweitung aufgeschlossen gegenüber. "Das BBK befürwortet grundsätzlich eine solche Vorgehensweise", sagt eine Sprecherin t-online. "Da es sich bei der Suche von Vermissten nicht um Warnungen handelt, wäre im Austausch mit den für diese Fälle verantwortlichen polizeilichen Stellen eine Anpassung des Bundeswarnsystems erforderlich." Ziel müsse sein, dass Warnmeldungen und polizeiliche Meldungen nicht verwechselt werden können.
Das Bundesinnenministerium und das Bundeskriminalamt (BKA) arbeiten einem Bericht des WDR zufolge schon daran, die Nina-Warnapp technisch für Vermisstenmeldungen vorzubereiten. Da die Bundesländer einer solchen Erweiterung zustimmen müssen, plant das sächsische Innenministerium dem WDR zufolge eine entsprechende Initiative für das nächste Ländertreffen.
Polizei und Helfer suchten vergeblich
Arian verschwand am 22. April. Die Polizei ging davon aus, dass das autistische Kind sein Zuhause in Bremervörde eigenständig verließ, und leitete eine große Suche ein. Einsatzkräfte und Freiwillige suchten rund eine Woche lang Tag und Nacht nach dem Kind. Der Polizei zufolge haben die Einsatzkräfte 53 Quadratkilometer zu Land, zu Wasser und aus der Luft abgesucht – eine Fläche von mehr als 7.500 Fußballfeldern. Zeitweise waren bis zu 1.200 Helfer beteiligt.
Anschließend entschieden Polizei und Innenministerium, sich auf konkrete Hinweise zu fokussieren. Die Polizei richtete eine Ermittlungsgruppe mit einem fünfköpfigen Team von Experten für Vermisstenfälle ein. Die Einsatzkräfte prüften Hunderte Hinweise, gingen Spuren nach und stellten Hypothesen auf, was Arian widerfahren sein könnte.
Die Kinderleiche, bei der es sich mutmaßlich um Arian handelt, fand letztlich am Montagnachmittag ein Landwirt beim Mähen am Rande einer Wiese. Warum sie nicht früher gefunden wurde, wollen die Ermittler nun ebenfalls klären.
Zahlen des Bundeskriminalamts zufolge wurden vergangenes Jahr 16.471 Kinder als vermisst gemeldet. Die Zahlen bewegen sich in den vergangenen Jahren etwa auf dem gleichen Niveau, zwischen 14.454 (2021) und 18.125 (2019) vermissten Kindern pro Jahr. Die meisten Fälle werden im Laufe eines Jahres aufgeklärt. Am Ende bleiben rund 500 Fälle pro Jahr ungeklärt. Manche davon sind es seit Jahrzehnten.
- Eigene Recherchen
- wdr.de: Vermisste Kinder: Warn-App NINA könnte bald bei Suche helfen
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa