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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Eine Nacht in Berlin und Köln Wie Blaulichtfotografen das Verbrechen jagen
Sie schlagen sich die Nächte um die Ohren, um ganz nah dran zu sein am Verbrechen: Blaulichtfotografen. Wenn es in Berlin oder Köln knallt oder kracht, sind Morris Pudwell und Vincent Kempf zur Stelle. t-online hat die beiden bei ihrer Nachtschicht begleitet.
Die Suche nach Blaulicht beginnt für Morris Pudwell um 19 Uhr auf einem Parkplatz zwischen einem Wäldchen und der Spree. Es vergeht keine Minute, bis ein Hinweis Pudwell auf die Stralauer Allee nach Berlin-Friedrichshain lotst. Auf Anhieb findet er den Unfall. "Nicht mal jemand verletzt. Ist halt nichts", meckert der 39-Jährige und wendet sich von der verbogenen Stoßstange ab. Schnell springt Pudwell in sein schwarzes Auto, denn er jagt schon dem nächsten Tipp hinterher.
An der Wuhlheide kurbelt er um 19.23 Uhr das Fenster hinunter, schnuppert nach verbranntem Holz. In der Ferne sieht er, wie eine Feuerleiter wieder zurückgekurbelt wird. Fehlalarm – also nichts wie weg. "Das war wieder so ein Phantom, dem man hinterherjagt." Der Tipp kam aus seinem Netzwerk. Woher genau, darüber spricht Pudwell nicht. Vielen Tipps, die er auf einem seiner zwei Handys bekommt, geht er gar nicht erst nach.
"Ich habe einen Blick für alles Merkwürdige und Kriminelle"
Seit einigen Jahren ist Morris Pudwell fast jede Nacht auf der Straße und hetzt Polizei und Notarzt nach. Inzwischen spüre er, welche Fotos sich verkaufen. "Am besten, man sieht eine Flamme. Schön ist es auch, wenn es eine Straftat ist." Am Tatort schätzt er sekundenschnell ein, ob sich Fotos lohnen oder nicht. "Ich habe einen Blick für alles Merkwürdige und Kriminelle", sagt er. Mal sieht er verdächtige Nummernschilder im Vorbeifahren oder erkennt Drogendeals, die nur Sekunden dauern. Der Parkplatz an der Spree ist Pudwells Basis. Von hier ist er schnell an allen Hotspots der Hauptstadt.
In Köln läutet ein schriller Klingelton um 19.37 Uhr das nächste Ziel für Vincent Kempf ein. In Pulheim brennt ein Palettenstapel, direkt an einem Gebäude. Kempf macht sich auf den Weg, ganz entspannt. Irgendwann habe ihm ein Kollege gesagt, wenn man entspannt hinfahre und vor Ort nichts mehr aufzunehmen sei, sei es keine interessante Story. Er hält sich an die Geschwindigkeitsbegrenzungen, hält bei Rot. "Dass es in unserem Job um Geschwindigkeit geht, ist schon richtig", sagt er. "Aber ich bringe wegen eines guten Bildes sicherlich keine Mitmenschen in Gefahr. Das ist es nicht wert".
23 Minuten später kommt Kempf in Pulheim an. Das Feuer ist schon gelöscht, Rauchschwaden klettern die Fassade des gefährdeten Gebäudes hoch. Insgesamt 25 Einsatzkräfte der Pulheimer und Brauweiler Feuerwehr plus zwei Polizeistreifen haben den Bereich abgesichert und sind mit letzten Aufräumarbeiten beschäftigt. Schon beim Vorbeifahren weiß der Fotograf, dass die Fahrt das Benzin nicht wert war.
"Hierfür brauche ich nur meine kleine Kamera", sagt er und greift in seinen Kofferraum. Ein paar Fotos vom Einsatzort und ein Gespräch mit dem Pressesprecher der Pulheimer Feuerwehr später fährt er wieder los.
Was andere als einen glücklichen Umstand ansehen würden, bedeutet für Vincent Kempf als Blaulichtfotograf keinen guten Abend. "Aber das ist halt manchmal so", sagt der 24-Jährige. Ein Job, der von Verbrechen, Unfällen und Bränden lebt, braucht eben genau das. Wenn nichts passiert, hat Kempf nichts in der Hand, was er an Nachrichtensender und Zeitungen verkaufen kann.
Die nächste halbe Stunde verbringt er damit, durch die Stadt zu fahren und nach Aufträgen zu suchen: Die Venloer Straße runter, an den Ringen vorbei, über die Zülpicher Straße – Orte in Köln, die an den Wochenenden bekannt dafür sind, Einsatzorte zu sein. "Die meisten Einsätze hier sind jedoch nur Betrunkenen geschuldet", sagt er. Einen wirklichen Nachrichtenwert bieten solche Vorfälle selten. Es sind Messerstechereien, Razzien und Unfälle, auf die er wartet. Das sei es, worüber die Menschen informiert werden wollen.
Fotos von Verdächtigen in Handschellen
In Berlin geht es für Morris Pudwell interessanter weiter: Zurück an seiner Basis kommt für ihn der erste Hinweis der Nacht, der seine Neugier weckt. In der Pannierstraße in Neukölln soll es zwei Verletzte geben. Um 19.51 Uhr parkt er hinter einem Dienstwagen der Polizei, klatscht sein Presseschild aufs Armaturenbrett und eilt auf die Beamten zu. Während ein Polizist Flatterband um den Tatort zieht, huscht Pudwell zwischen Zivilbeamten und Schaulustigen herum und hält fest, was erkennen lässt, dass hier eine Straftat begangen wurde. Er fotografiert die Verdächtigen in Handschellen, die Verletzten sind schon im Rettungswagen.
"Presse vor Ort" nuschelt ein Polizist im Scherz in sein Funkgerät, als er Pudwell sieht, und lacht. "Aber nicht fotografieren, wenn ich eine rauche", fügt er hinzu. Mit den Berliner Polizisten spricht der Reporter im Dialekt. Viele kennen ihn. Mit Blick auf die ermittelnden Beamten vermutet er, dass es sich hier um einen Streit zwischen Clan-Familien handeln könnte. Später ist auch von einem Messerstich in den Oberschenkel die Rede. "Das verkauft sich immer gut", freut sich Pudwell. Mit diesem Wissen wartet er noch eine Stunde am Tatort, um den Abtransport der Verdächtigen einzufangen.
"Berlin ist ein Drecksloch"
Von dort fährt der 39-Jährige um 21.47 Uhr die Hotspots in Neukölln und Kreuzberg ab. Hermannplatz, Görlitzer Park, Kottbusser Tor. Hier kennt er die Straßen wie ein Taxifahrer. An fast jeder Ecke hat er schon Verhaftungen abgelichtet. Seit seiner Geburt lebt er hier im Süden Berlins. Doch von der Stadt ist er schon lange nicht mehr begeistert. "Berlin ist ein Drecksloch. Ich würde am liebsten raus aus der Stadt. Aber das passt nicht zu meinem Job."
Im Görlitzer Park sieht er ein Löschfahrzeug. Eines von vielen heute Nacht. Im Januar brennen gerne mal Tannenbäume auf der Straße. Nichts für Pudwell, und in den Görlitzer Park gehe er nachts sowieso ungern. Für seine drei Jahre alte Tochter halte er sich aus den gefährlichsten Geschichten raus. Auch auf Demos mache er keine Fotos mehr. Die Rigaer Straße meide er, seit er dort beinahe durch einen Steinwurf verletzt worden sei.
Um 23.11 Uhr rast er Richtung S-Bahnhof Rummelsburg. "Person unter Zug" ist Pudwells Hinweis: "Könnte eine Straftat sein", mutmaßt er. Noch vor den Rettungskräften ist er an den Gleisen, lässt aber alle Fahrzeuge passieren, bevor er aussteigt. Rasch spricht ihn ein Polizist an, redet von Suizidversuch. Für Pudwell das Signal zu gehen. Suizide sind für ihn uninteressant.
"Fotos von Leichen sind ein No-Go"
Unterdessen erzählt Vincent Kempf von seiner wichtigsten Regel: Wenn er vor den Sanitätern oder Feuerwehrkräften am Unfallort ankommt, helfe er, anstatt die Kamera auszupacken. Als Teenager trat er der Jugendfeuerwehr bei, lernte, wie er sich an Unfallorten verhalten muss. Heutzutage nicht zu helfen, könne er nicht mit sich vereinbaren.
"Kommt so was vor, war es das dann auch mit der Story für mich." Hilfe leisten und dann Fotos schießen? "Das geht gar nicht", obwohl ihm durchaus bewusst sei, dass nicht jeder seiner Kollegen dazu in der Lage ist.
Er halte Abstand, lasse die Einsatzkräfte ihre Arbeit machen, bevor er zur Tat schreite, sagt Kempf. Dabei weiß er genau, was er fotografieren kann und was nicht. "Fotos von Leichen oder verletzten Menschen sind ein No-Go", sagt er. In anderen Städten werde das anders gehandhabt, "da hält man auch gerne mal drauf", in Köln aber gelte ein ungeschriebenes Gesetz, dass man so etwas nicht mache. Woran das liegt, wisse er selbst nicht. "Vielleicht sind die Menschen in Köln einfach anständiger als anderswo."
In der öffentlichen Wahrnehmung setze man seinen Beruf oft mit Voyeuren gleich. Damit habe er ein Problem: Immerhin bestimme die Nachfrage das Angebot, nicht er und seine Kollegen.
Ein Fall, der ihm im Gedächtnis blieb
Dem meisten begegne er mit Distanz. Doch ein Unfall an der Grenze von Troisdorf zu Köln habe ihn lange Zeit nicht losgelassen: Ein 56-jähriger Autofahrer kam von der Fahrbahn ab und erwischte zwei Passanten: den eigenen Sohn und Enkel. "Als ich am Unfallort ankam, war das einfach nur schrecklich", erinnert sich Kempf. "Was ist das bitte für ein unglücklicher Zufall?"
Auf dem Heimweg habe er mit Freunden sprechen müssen – etwas, was er sonst nicht oft mache. "Dieser Unfall hat mich wirklich schockiert." Alle drei haben überlebt. Aber: "Überleben bedeutet ja nicht immer, dass die Betroffenen nach 24 Stunden aus dem Krankenhaus entlassen werden." Dieses Unwissen beunruhige ihn manchmal. Oft recherchiere er, was aus den Unfallopfern geworden ist, auch wenn er dafür keinen Lohn sieht: "Es beruhigt und interessiert mich einfach", sagt Kempf.
Morris Pudwell begegnet alldem eher mit Sarkasmus: "Ich bin immer da, wenn jemand einen richtigen Scheißtag hat." Er erzählt von Wiederbelebungen, verbrannten Leichen und Kindermördern. "Ich habe schnell gemerkt, dass mir das nichts ausmacht. Oder ich brauche in zehn Jahren große Hilfe", sagt er. Humor braucht man auf der Straße, meint der Berliner.
Absurde Gedanken beim Warten auf eine Story
Kurz vor Mitternacht, zurück am Spreeufer. Wenn er nichts zu tun hat, schaut Pudwell TikTok-Videos oder hört Radiosender, die auch nachts einen Moderator im Studio haben. "Dann fühlt man sich nicht so allein." Wenn der Himmel klar ist, fotografiert er mit seinem Teleobjektiv den Mond. Manchmal kommt am Parkplatz ein Rentner vorbei, dem er seine Energydrinkdose in die Hand drückt.
Heute hört er nur eine Motorsäge im Wald heulen. Wahrscheinlich holt jemand Holz für den Kamin, "aber vielleicht zersägt er auch seine Ehefrau", fantasiert Pudwell. "Das sind so die Gedanken, die man sich macht, wenn man auf etwas wartet." Am liebsten hätte er um diese Zeit ein brennendes Auto zum Fotografieren.
0.54 Uhr. Vincent Kempf ist des Wartens müde und dreht seine Runde durch die Stadt. Aufgrund der Pandemie ist weniger los, die Kölner Ringe sind kaum bevölkert und bieten nicht mehr als Geschichten über das übliche Trink-Klientel – die interessanten Nachrichten bleiben aus. Also sucht er. Vergebens.
Eine Tankstelle als letzter Stopp
In Berlin eilt Morris Pudwell um 2.03 Uhr noch einmal nach Neukölln in die Weserstraße. Nur ein brennender Weihnachtsbaum. Wenn nichts passiert, zieht er sich nach Hause zurück. Falls er doch noch einen lukrativen Einsatz wittert, startet er von dort aus. Hinweise kommen von Freunden bei der Feuerwehr, Polizisten, die Missstände mitteilen möchten, und aus Facebook-Gruppen. Polizeifunk abhören geht seit 2016 nicht mehr: "Alles digital inzwischen", erklärt Pudwell. Immer wieder zieht er ein Handy aus der rechten Brusttasche, dann das zweite aus der linken Brusttasche seiner Winterjacke. "Lohnt alles nicht."
Auch Kempf setzt auf ein breites Netzwerk sowie die Presserufe von Feuerwehr und Polizei. Doch in dieser Nacht bleibt es ruhig. Nachdem er mit seiner ereignislosen Tour durch die Stadt fertig ist, steuert er eine Tankstelle an der Siegburger Straße an. Er kauft sich zwei Brezeln und setzt sich in seinen Wagen. Dass er jetzt, mitten in dieser kalten Nacht in Köln herumsteht und nur wartet, komme selten vor. Meistens warte der 24-Jährige zu Hause, vertreibe sich die Zeit mit Videospielen, bearbeite Videos für seinen YouTube-Kanal oder treffe Freunde.
"Wenn ich mit Freunden unterwegs bin und etwas Wichtiges reinkommt, fahren wir auch schon mal zusammen zu den Einsatzorten", sagt er. "Die haben für das, was ich mache, Verständnis und finden es manchmal auch recht spannend."
Dieser Abend bleibt für Kempf alles andere als das. Es ist eine Nacht, die ihn nicht viel abliefern lässt. Für Pudwell nimmt sie ein erfolgreiches Ende: Um 4.56 Uhr lockt ihn die Meldung eines brennenden Autos noch einmal auf den Mehringdamm in Kreuzberg. Flammen sieht er keine – dafür zwei Autowracks. Die Bilder erscheinen einige Stunden später in der Berliner Lokalpresse.
- Reporter und Fotografen vor Ort in Berlin und Köln