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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Bundestagswahl 2025 Kampf um Neukölln: Kommt es zur Sensation?
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In Neukölln zeichnet sich bei der Bundestagswahl ein spannendes Rennen um das Direktmandat ab. Gleich fünf Kandidaten könnten theoretisch siegen.
Neukölln ist historisch gesehen eine SPD-Hochburg. Seit 1998 konnte nur 2009 die CDU dort triumphieren, sonst siegten immer die Sozialdemokraten. In diesem Jahr könnte die CDU zurückschlagen. Doch auch vier andere Parteien dürfen noch auf das Direktmandat hoffen. Die Kandidaten und ihre Forderungen im Überblick:
Die Favoritin
Ottilie Klein von der CDU darf sich wohl die größten Hoffnungen auf den Sieg in Neukölln machen. Sie sitzt seit 2021 im Bundestag und tritt zum ersten Mal in Neukölln an. Nachdem die CDU 2021 noch Dritte hinter SPD und Grünen wurde in Neukölln, sehen aktuelle Prognosen sie diesmal leicht vorne.
Sie sei zuversichtlich und glaube, sehr gute Chancen auf den Sieg zu haben, sagt Klein auf t-online-Anfrage. Ihre "Herzensanliegen" seien mehr Chancengerechtigkeit und die Bekämpfung von Kinderarmut. Neben sozialen Themen werde sie im Wahlkampf immer wieder auf die Sicherheitslage angesprochen. Gerade ältere Menschen hätten inzwischen Angst, sich in der Dunkelheit allein auf der Straße zu bewegen, sagt sie. Polizei und Sicherheitsbehörden bräuchten die volle Rückendeckung der Politik und die bestmögliche Ausstattung, damit sich alle Neuköllner wieder sicher fühlen könnten.
Kritisiert wird Klein in sozialen Medien und auch von der Konkurrenz immer wieder dafür, dass sie nicht in Neukölln wohnt. Der Linken-Kandidat Ferat Koçak sagt etwa, dass Klein deshalb "für die Probleme der arbeitenden Menschen in Neukölln" keine Lösungen anbieten könne. Klein sagt dazu, dass es im Wahlkampf "leider immer wieder auch ins Private" gehe und es zu Abwertungen komme. Das sei nicht ihr politischer Stil.
Der Titelverteidiger
2021 siegte Hakan Demir von der SPD mit 25,8 Prozent deutlich vor Grünen und CDU. Diesmal wähnt er sich in einem Zweikampf mit CDU-Kandidatin Klein. Erfahrungsgemäß werde es in Neukölln sehr knapp zwischen SPD und CDU, sagt er.
Als wichtigste Themen für Neukölln nennt Demir die Lebenshaltungskosten und die steigenden Mieten. Er wolle deshalb die Mietpreisbremse verlängern und gegen Tricks wie Kurzzeitmieten und möbliertes Wohnen vorgehen. Nur die Mietpreisbremse werde aber nicht reichen. "Wir brauchen in Neukölln eine Atempause", sagt der SPD-Mann. Berlin müsse Mieten deckeln dürfen. Außerdem wolle er einen Mindestlohn von 15 Euro, mehr Tarifbeschäftigung und eine Stabilisierung der Wirtschaft durch mehr Investitionen. "All das macht das Leben wieder bezahlbar", so Demir.
Die Linke macht Wahlkampf damit, dass Demir seinen Platz im Bundestag wegen seines dritten Listenplatzes auf der Landesliste ohnehin sicher habe und man ihn deshalb nicht direkt wählen müsse. Demir streitet das ab. Sein guter Listenplatz sei eine "tolle Bestätigung" seiner Arbeit, aber kein Ruhepolster. Nach aktuellen Prognosen stünden der Berliner SPD drei bis vier Sitze zu, so Demir. Weil seine Partei aber auch in Spandau und in Tempelhof-Schöneberg gute Chancen auf das Direktmandat hat, sei ein Einzug mit Listenplatz drei keineswegs sicher.
Der Außenseiter im Aufwind
Noch vor wenigen Wochen hätte wohl kaum jemand dem Linken-Kandidaten Ferat Koçak eine Chance auf das Direktmandat gegeben. Eine YouGov-Prognose Mitte Januar sah ihn noch abgeschlagen bei 9 Prozent. Seitdem hat er parallel zum Bundestrend eine Aufholjagd hingelegt. In der letzten Prognose vor der Wahl sieht YouGov Die Linke in Neukölln jetzt bei 16 Prozent und damit nur noch knapp hinter CDU, SPD und AfD. Kann Koçak gar die Sensation schaffen und das Direktmandat holen?
Koçak selbst sieht sich in einem "Kopf-an-Kopf-Rennen" mit CDU-Kandidatin Klein. Mit einem groß angelegten, per eigener App organisierten Häuserwahlkampf will Die Linke das Rennen für sich entscheiden. Nach eigenen Angaben hat man im Wahlkampf in Neukölln an 120.000 Haustüren geklopft, um Wähler zu überzeugen. "Unser Häuserwahlkampf ist der Größte, den Deutschland je gesehen hat", behauptet Koçak. Vorbild dafür dürfte Parteikollege Nam Duy Nguyen sein, der bei der sächsischen Landtagswahl mit einem Haustürwahlkampf überraschend das Direktmandat in Leipzig-Zentrum gewann. Inhaltlich betont Koçak den Kampf gegen hohe Mieten und Supermarktpreise, verspätete Busse und Bahnen und Kieze, die immer dreckiger würden.
Im Wahlkampf warb Koçak mit einer Umfrage vom Portal Wahlkreisprognose.de, laut der er knapp vor Ottilie Klein führt. Der Grünen-Kandidat Andreas Audretsch warf ihm vor, die Umfrage selbst in Auftrag gegeben zu haben. Koçak streitet das ab. Die Daten würden von der Seite von Wahlkreisprognose.de stammen. Sein Team habe einen Bezahlaccount anlegen müssen, um sie abzurufen.
Der Mann hinter Habeck
Andreas Audretsch, der grüne Direktkandidat für Neukölln, ist vor allem dafür bekannt, dass er der Wahlkampfmanager von Kanzlerkandidat Robert Habeck ist. Auch er glaubt daran, das Direktmandat gewinnen zu können. Die Stimmung im Neuköllner Wahlkampf sei "sehr gut", sagt er. Seit dem Ende der Ampel habe sich bei den Grünen "eine enorme Dynamik" entwickelt. Und auch er sieht seine Hauptkonkurrentin in Ottilie Klein. "Alle Neuköllnerinnen und Neuköllner sollen wissen: CDU verhindern heißt dieses Mal grün wählen", sagt Audretsch.
Als wichtigste Wahlkampfthemen nennt der Grüne den Kampf gegen die Klimakrise, den "Mietenwahnsinn" zu stoppen und Rechtsextremen mit Entschlossenheit entgegenzutreten.
Überschattet wurde Audretschs Wahlkampf vom Fall Gelbhaar. Gegen den Grünen Bundestagsabgeordneten Stefan Gelbhaar aus Pankow kamen im Dezember 2024 Belästigungsvorwürfe auf, die er zurückwies. Später kamen erhebliche Zweifel an den Vorwürfen auf. Der RBB musste einen Teil seiner Berichterstattung zurückziehen, weil eine der Frauen, die Gelbhaar beschuldigte, wohl gar nicht existierte. Mehr dazu lesen Sie hier. Audretsch hatte mit Gelbhaar um Platz zwei der Landesliste kandidiert, letzterer zog seine Kandidatur wegen der Vorwürfe zurück. Audretsch selbst und auch Außenministerin Baerbock betonten, dass Audretsch nichts mit einer möglichen Intrige gegen Gelbhaar zu tun habe.
Der AfD-Mann
Für die AfD kandidiert in Neukölln der gebürtige Hamburger Robert Eschricht, der seit 2023 im Berliner Abgeordnetenhaus sitzt. Der Rechte ist weitgehend unbekannt, auf Instagram folgen ihm nur gut 300 Accounts. Laut aktuellen Prognosen hat er trotzdem Außenseiterchancen auf einen Sieg in Neukölln.
Daran zu glauben scheint er selbst nicht. "Die letzten Wahlkreisprognosen zeichnen einen Trend für ein weiteres CDU-Mandat", sagt er auf t-online-Anfrage. Es sei "umso wichtiger, dass konservative und bürgerlich-patriotische Wähler ihre Stimme der AfD geben".
Als seine wichtigsten Wahlkampfthemen nennt er Sicherheit und sozialen Frieden. Neukölln leide unter "Clan-Kriminalität, illegaler Migration und sozialen Spannungen". Die Polizei müsse gestärkt und "Kuscheljustiz" beendet werden. Gleichzeitig müsse man dafür sorgen, dass Familien sich Neukölln wieder leisten könnten.
- Anfragen an Ottilie Klein, Hakan Demir, Ferat Koçak, Andreas Audretsch und Robert Eschricht
- bundeswahlleiterin.de: Neukölln-Ergebnis der Bundestagswahl 2021
- bundestag.de: Informationen über Ottilie Klein
- bundestag.de: Informationen über Hakan Demir
- bundestag.de: Informationen über Andreas Audretsch
- parlament-berlin.de: Informationen über Ferat Koçak
- parlament-berlin.de: Informationen über Robert Eschricht