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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Einblick in die Berliner Notrufzentrale "Man kann oft nur sagen: 'Renn weg!'"
Wer in Berlin die 110 anruft, landet bei Mandy Göritz. Sie arbeitet in der Einsatzleitzentrale der Polizei. Mit t-online hat sie über die Belastungen ihres Jobs gesprochen und wie schön es ist, Menschen zu helfen.
Am Donnerstag in den frühen Morgenstunden wurde klar, wie wichtig die 110 ist. Ein großflächiger Ausfall in Berlin und zehn weiteren Bundesländern hatte die Notrufleitung für eine dreiviertel Stunde lahmgelegt. "Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass wichtige, gefährliche Notmeldungen nicht durchkamen", sagte ein Sprecher der Polizei. "Nach dem was wir jetzt wissen, ist aber nichts Schlimmes verpasst worden."
Die Polizei geht davon aus, dass etwa 50 Anrufer, also mehr als einer pro Minute, vergeblich die 110 wählten. Die Telekom, die für den Betrieb der Notrufnummer zuständig ist, sprach von einem Fehler bei einer Routinewartung. Es sei eine neue Software eingespielt worden, die zu dem Fehler in der Notrufleitung geführt habe, so ein Sprecher des Konzerns.
Fälschliche Notrufe in Berlin: "Kommt das öfter vor, gibt es einen Hausbesuch"
Am anderen Ende dieser Leitung sitzt Mandy Göritz. Die 28-jährige Polizeiobermeisterin arbeitet schon seit zweieinhalb Jahren in der Einsatzleitzentrale, intern ELZ genannt. Sie hat ein energetisches Auftreten, professionell. Aber wenn sie lacht, lachen ihre Augen mit.
In der ELZ sei kein Tag wie der andere. "Es rufen täglich Tausende von Leuten an, die in Not sind und sich wünschen, dass die Polizei vorbeikommt", so Göritz. Auf manche Anrufer könnte sie allerdings auch verzichten. Viele Leute hätten einfach nur Fragen, ihren Ausweis verloren oder seien einsam, erklärt sie. "Dafür ruft man aber nicht die 110 an und blockiert eine Notrufleitung."
Denn helfen muss sie immer, auch bei Banalitäten. "Das läuft ja bei uns erst mal als Notruf ein. Die müssen wir annehmen. Wir versuchen dann natürlich, das so schnell wie möglich abzuarbeiten." Wenn alle Leitungen belegt sind, kann es passieren, dass Anrufer, die wirklich in Not sind, in der Warteschleife landen.
Innerhalb von 90 Sekunden müssen Göritz und ihre Kollegen entschieden haben, ob ein Notfall vorliegt, oder nicht. Ruft jemand zu oft grundlos die 110 an, kann es allerdings Ärger geben. "Das ist eine Straftat", so Göritz. "Kommt das öfter vor, gibt es einen netten Hausbesuch oder Brief."
Fast 3.200 Anrufe – jeden Tag
Jeden Tag landen bei ihr und ihren Kollegen fast 3.200 Notrufe. Allein bis Ende diesen Oktobers waren es schon über 960.000. Einen Anrufer-Rekord gab es im Januar 2014, Blitzeis hatte zu zahlreichen Unfällen geführt. Die ELZ verzeichnete innerhalb von nur einer Stunde 466 Notrufe.
Insgesamt 270 Polizisten arbeiten in der Notrufstelle – zuständig sind sie für ganz Berlin. Je nach Uhrzeit und aktueller Lage sind zwischen 38 und 51 Positionen besetzt. Dabei wird nicht nur telefoniert. An den sogenannten Leitständen wird jeder Einsatz der Streifenwagen koordiniert. Wer welche Aufgaben betreut, wechselt regelmäßig. "Ich nehme hier nicht nur Anrufe an", so Göritz. "Am Einsatzleitpult verteile ich die Einsätze an die Funkwägen und organisiere das Ganze."
Mandy Göritz arbeitet auf beiden Positionen gerne. "Mir macht mein Beruf richtig Spaß. Allein Menschen in einer schlimmen Situation helfen zu können. Ob es jetzt das kleine Mädchen ist, das gerade weggelaufen ist und wiedergefunden wurde, oder ob es sich um einen großen Tatbestand handelt, der dir nahe gegangen ist. Wenn der Einsatz erfolgreich war, freue ich mich einfach für die Person, dass ich ihr helfen konnte. Das ist ein ganz tolles Gefühl", erklärt sie strahlend.
"Es macht dich stärker, je mehr du machst"
Von der Komplexität ihrer Arbeitsstelle war sie am Anfang überrascht. "Den Notruf entgegenzunehmen, das stellt man sich eigentlich nicht so spektakulär vor. Ist ja nur telefonieren", so Göritz.
"Aber es ist nicht nur das. Es steckt viel mehr dahinter. Du brauchst Einfühlungsvermögen, auch mal Durchsetzungsvermögen am Telefon. Du musst wissen, ob es sich nur um eine Ordnungswidrigkeit handelt oder wirklich um einen Verbrechenstatbestand. Und dazu musst du auch emotional in dem Moment drin sein. Das ist das Psychische. Es macht dich stärker, je mehr du machst."
Die Tätigkeit in der ELZ ist nichts für Anfänger. Wer hier arbeitet, muss viel Erfahrung mitbringen. Die bekommt man durch langjährigen Einsatz im Streifenwagen, oder, wie im Fall von Mandy Göritz, bei der Einsatzhundertschaft.
"Das polizeiliche Arbeiten muss man auch erst mal erlernt haben, ehe man hier hin kommt", erklärt sie. "Ich überlege ja immer selber, was würde ich jetzt in dem Moment im Funkwagen machen. Wie kann ich der Person vor Ort helfen. Aber das lerne ich nur draußen."
"Wenn etwas passiert, bin ich live dabei"
Dabei habe der Beruf auch durchaus Schattenseiten. "Es gibt Anrufe, nach denen du wirklich aufstehen und durchatmen musst", so die 28-Jährige. "Ein kleines Mädchen, das sagt, bitte helft mir, und du tust alles, was in deiner Macht steht. Du unterhältst dich so lange, bis die Kollegen da sind. Wenn da etwas Schlimmes passiert, geht einem das schon nahe", sagt Göritz. "Da bin ich live dabei und bekomme alles mit."
Der Job sei psychisch sehr anstrengend, erklärt die Polizistin. "Am Telefon hörst du nur, was die Leute dir sagen. Oft sind das Gewaltstraftaten, Sexualdelikte", so Göritz. "Manchmal ist es eine schwere Körperverletzung, wo du am anderen Ende der Leitung hörst, wie jemand zusammengeschlagen wird. Und selber erst mal nichts tun kannst." Das falle ihr wirklich schwer. "Man kann oft nicht mehr tun als zu sagen: 'Lauf weiter' oder 'Renn weg'."
Solche Schilderungen hört auch Julia Bartkowski immer wieder. Sie arbeitet seit drei Jahren als Sozialarbeiterin im psychosozialen Dienst der Polizei Berlin und ist für die Einsatzleitzentrale zuständig. Bei ihr können sich die Kolleginnen und Kollegen zu dienstlichen und auch privaten Themen beraten lassen.
Die Belastung für die Mitarbeitenden in der Einsatzleitzentrale sei sehr groß, so Bartkowski. Personalnot, Schichtpläne mit teilweise Zwölf-Stunden-Schichten und Notrufe, die eigentlich gar keine sind, würden für zusätzlichen Stress sorgen. Hinzu kommen teils psychisch sehr belastende Anrufe.
"Durchatmen, abhaken, weitermachen"
"Besonders schlimme Anrufe sind zum Beispiel Suizide, bei denen man nicht helfen konnte, aber vorher noch mit der Person gesprochen hat oder den Suizid selbst miterlebt. Oder häusliche Gewalt, wo man im Hintergrund genau hört, was passiert. Die Kolleg:innen müssen ja auch immer dranbleiben, bis jemand vor Ort ist. Und dann kriegen sie alles mit", erklärt die Sozialarbeiterin. "Die wollen ja wirklich helfen. Und können manchmal nicht. Das ist extrem belastend."
Seit März gibt es zusätzlich auch ein Einsatz-Nachsorge-Team. "Wenn ein Telefonat schiefgelaufen ist oder sehr belastend war, weil zum Beispiel ein Suizid miterlebt wurde, können auch die Mitarbeitenden der Einsatzleitzentrale diesen Dienst in Anspruch nehmen. Ich fürchte, einige wissen noch gar nicht nicht, dass es den gibt“, sagt Bartkowski.
Besonders wichtig sei es, nicht jede belastende Situation mit nach Hause zu nehmen, sagt Mandy Göritz. "Wenn ich alles mitnehmen würde, könnte ich diesen Beruf gar nicht machen. Man muss einfach damit abschließen, um das nicht in den nächsten Tag mitzunehmen. Oder in das nächste Gespräch." Denn jeder neue Anruf birgt eine neue Situation. "Durchatmen, abhaken, weitermachen."
"Die Lage kann sich innerhalb von Sekunden ändern"
Die vorherigen Emotionen hätten in dem neuen Gespräch nichts zu suchen, erklärt Göritz. "Wenn du gerade mit einer randalierenden Person zu tun hattest, einer hektischen, aufgeregten Situation und danach mit einer alten Dame sprichst, bei der eingebrochen wurde, musst du in einem Moment beruhigen, deeskalieren, im nächsten ist es schon wieder komplett anders." Beleidigungen gegen sie kämen auch immer wieder vor. "Aber das darf man gar nicht an sich ranlassen."
Auch am Einsatzleitpult gebe es belastende Situationen, die Verantwortung sei sehr groß. "Es kann immer vorkommen, dass sich Zeugen sehr verschätzen oder sich die Situation sehr schnell ändert. Gerade bei Schlägereien kann sich die Lage innerhalb von Sekunden ändern. Dann sind es anstatt zwei oder drei Personen auf einmal 30. Das kann immer eine Gefahr für die Kollegen sein, die ich da gerade hingeschickt habe. Wenn dann Kollegen verletzt werden, ist das sehr belastend", gibt die 28-Jährige zu.
- Besuch einer Einsatzleitzentrale
- Gespräch mit Julia Bartkowski