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Es geht wieder: Sich vor dem Lieblingscafé auf einen Latte Macchiato treffen oder mit Freunden ein Bier trinken. Viele Berliner haben das in vollen Zügen genossen – doch manche warnen auch vor Leichtsinn.
Das Wetter hat am Freitag wieder stark berlinert: Am Abend gibt es ein paar Regenschauer – und das am ersten Tag, an dem die Außengastronomie wieder öffnen darf. Um 20 Uhr ist der Regen jedoch vergessen und schon sind die Biergärten wieder voll, zum Beispiel die "Biergartenquelle" am S-Bahnhof Tiergarten.
Am Rosenthaler Platz herrscht Gewusel. Noch hat der beliebte Ort in Mitte seine alte Form nicht wieder erreicht, aber überall stehen Leute auf dem Bürgersteig, vor den Läden. Sie rauchen, trinken, unterhalten sich und lachen. Vom Regen sind die Tische und Bänke vor dem "Oberholz" noch nass.
Vor dem vietnamesischen Restaurant "Huong que" im Weinbergsweg sind alle Tische belegt. An einem sitzen Theresa, Sina und Raul und strahlen.
"Es ist super schön, wieder so viele Menschen zu sehen auf einem Fleck. Es ist noch ungewohnt, aber wir haben es total vermisst", sagt Theresa. Ihre Freundin Sina meint: "Alle sind so freundlich, auch die Kellner. Ich habe das Gefühl, dass es alle total genießen." Erstmal wollen sie hier etwas essen. Später ziehen sie weiter, um woanders etwas zu trinken. Klingt wie ein ganz normaler Abend in Berlin – so wie früher.
Nebenan im "100 Gramm" sitzen Carolin und Robert. Auch sie sind bester Stimmung. Man fühle sich "wie neugeboren", erklärt er. Alexander, der ihnen gegenüber sitzt, sagt, er sei happy, dass das Leben in Berlin jetzt wieder ansatzweise normal wird. "Jetzt trinken wir hier was und gucken Menschen. Bisschen flirten und glotzen." Ein bisschen überfordert fühle er sich aber schon, plötzlich wieder so viele Menschen zusammen zu sehen.
- Tagesanbruch: Das nächste Corona-Problem
Weiter Richtung Weinbergspark: Drei Freundinnen verlassen die Anlage, mit Wegebier und heißem Tee. Jacqueline und Katrin sind aus Rügen angereist, um ihre Freundin Lia zu besuchen. Die ist im Lockdown aus Rügen hierhergezogen und hatte erwartet, dass hier mehr los sein würde. Aber Jacqueline glaubt, in Berlin ist selbst im Lockdown mehr los als zu normalen Zeiten in Rügen.
Im Park selbst kommen Urlaubsgefühle auf. Hier wird zu lateinamerikanischer Musik Standard getanzt. Richtung Brunnenstraße kann man den Sonnenuntergang sehen. Christoph und Peter aus Prenzlauer Berg sind hier zufällig vorbeigekommen und hängen geblieben. Lange werden sie aber nicht bleiben. "Wir wollen uns langsam wieder an das alte Leben herantasten", sagte Christoph.
Dichtes Gedränge auf der Admiralsbrücke
Die Admiralsbrücke am Landwehrkanal ist bevölkert wie zu ihren besten Zeiten. 300 bis 400 Leute sitzen hier in Gruppen, unterhalten sich und lachen. Die letzten Takte einer Band erklingen. Dann wird die Musik von der Polizei unterbunden. Es sollen nicht noch mehr Leute angelockt werden. Auch Lärmbelästigung – die Beamten sprechen von "Emissionen" – will man vermeiden.
Junge Menschen trinken Bier oder Aperol Spritz aus Plastikbechern, einige essen Pizza. Johanna, Kim, Alexandra und Anna sitzen hier zusammen. Wollen sie später noch weiterziehen? "Wir gucken mal spontan, was der Abend bringt." Eine Redewendung, die man monatelang in Berlin nicht gebrauchen konnte. Was sollte der Abend schon bringen – außer Netflix und dem x-ten Spaziergang?
Auch Anna, Heiko, Tomas, Mathilda, Carlotta und Marco treffen sich heute Abend auf der Admiralsbrücke. Es sei schön, wieder unter Leuten zu sein, sagen sie. Und dass sie all die Monate tapfer waren und nicht gefeiert haben. Hier auf der Brücke haben sie sich auch früher, vor Corona, oft getroffen. "Bester Spot in Berlin", sagt einer aus der Gruppe.
Kontrollen von Tests und Impfnachweisen halten auf
Weiter nach Kreuzberg: Das Restaurant "Freischwimmer" liegt direkt an der Spree. Es ist noch recht gut besucht, aber der große Ansturm ist für heute vorbei. "Wir waren komplett ausgebucht", sagt Nari, die hier für Personal und Business Management zuständig ist. Einige Leute mussten sie wegschicken. Auch, weil sie weniger Tische haben als früher, um den Mindestabstand einzuhalten. Am Samstag sind sie auch schon komplett ausgebucht.
"Die Stimmung ist super", erzählt Nari, "Alle Gäste sind total dankbar, dass sie hier sind und bedanken sich auch nochmal, wenn sie gehen. Das ist schon neu", sagt sie lachend.
Um den Betrieb zu gewährleisten, mussten sie das Personal kurzfristig aufstocken. Über den Winter haben sie ein paar Leuten verloren, die andere Jobs angefangen haben. Jetzt fehlte ihnen Personal. "Wir mussten in allen Bereichen Leute anstellen."
Das Kontrollieren der Tests und Impfnachweise hält auf, aber sie sehen hier ein, dass es nötig ist. "Das nehmen wir gerne in Kauf, da wir jetzt wieder Betrieb hier haben."
"Wir sind sowas von happy"
Entlang der Schlesischen Straße gibt es viele Bars und Cafés. Die Tische sind überall voll besetzt. Hier ist kaum noch ein Platz zu finden. Vor dem Clubcafé "Wendel" haben sich etliche Gäste eingefunden. Alle Tische sind belegt, einige stehen in Gruppen zusammen. Am geöffneten Fenster steht ein DJ und legt auf.
Cynthia, Susanne und Ingo strahlen. Sie wirken glücklich und entspannt. "Wir sind sowas von happy", sagt Ingo. Sie sind heute auch unterwegs, weil es ihnen wichtig ist, ihre Lieblingsläden zu unterstützen, die eine schwierige Zeit hinter sich haben.
Touristen kommen wieder in die Hauptstadt
Auf der Warschauer Brücke sieht es aus wie früher, als es noch kein Corona gab. Menschen strömen in die eine oder andere Richtung. Auch Touristen mit Rollkoffern sieht man hier jetzt wieder. Man hört sie Spanisch sprechen im Vorbeigehen.
Viele junge Leute drängen sich vor dem Fotoautomaten, der sich am Ende der Brücke befindet. Von einem Biergarten unterhalb der Brücke dringt laute Musik herauf – Oldschool-HipHop. Viele, die hier unterwegs sind, haben diesen suchenden Blick: Sie wirken nicht, als wollten sie gleich nach Hause gehen, auch wenn es bald 23 Uhr ist.
Harley, ein junger Australier, ist mit einem E-Roller unterwegs. Er kommt aus Melbourne, ist für ein langes Wochenende in der Stadt. An seiner Seite ist Pauline aus der Nähe von Kassel. Sie waren gerade etwas essen und haben überall in der Stadt "viele gute Energie" gespürt. Jetzt sind sie noch mit Freunden verabredet, die sie aber aus den Augen verloren haben.
Jemand läuft mit einem Ghettoblaster über die Brücke Richtung Kreuzberg und spielt "Kreuzberger Nächte" von den Gebrüdern Blattschuss. "Erst fang’ se janz langsam an, aber dann, aber dann."
Auch auf der Grünberger Straße ist kurz vor 23 Uhr immer noch viel los. Überall sitzen Leute vor Bars und Cafés oder stehen auf der Straße. Diese Szene zieht sich bis zur Simon-Dach-Straße.
Gefühl von Abifeier oder Semesterabschlussparty
Vor den Bars drängen sich die Leute. Abstand halten – wozu? Sina, eine Kellnerin, unkt, dass man wohl bald wieder alles zumachen muss, wenn die Leute so sorglos sind. Sie will das Ende des Alkoholausschanks um 23 Uhr hier rigoros durchsetzen. 23.15 Uhr ist ihr Ziel. Sie wird herumgehen, die Getränkereste aus Gläsern in Plastikbechern umfüllen oder es ihnen anderweitig ungemütlich machen.
Draußen ist die Stimmung ausgelassen. Immer wieder brandet sie auf, ohne dass man einen ersichtlichen Grund erkennen kann. Ein Gefühl von Abifeier oder Semesterabschlussparty liegt in der Luft. Alle sind aufgekratzt – niemand ist hier in Aufbruchsstimmung. Es ist einfach zu schön, wieder zusammen zu sein und draußen zu sitzen. Polizei ist keine in Sicht, die die Stimmung kaputt machen könnte. Sina zapft immer wieder neues Bier. Ein bisschen wollen sie und ihr Kollege die Gäste jetzt doch noch gewähren lassen.
"Man sollte sich an die Gesetze halten"
Vor dem Eisladen "Cinnamon Waffel" hingegen werden jetzt die Tische reingetragen. Geschäftsführerin Tülay sagt, der erste Tag war anstrengend. Ihre Tochter hat mit ausgeholfen, um das Kontrollieren der Tests und das Abgleichen mit dem Personalausweis zu stemmen. Sie haben hier auch schon um 11 Uhr angefangen. "Man sollte sich an die Gesetze halten", meint Tülay. "Es wird ja die nächsten Tage weitergehen. Man muss es nicht gleich am Anfang übertreiben."
Vor einem italienischen Restaurant werden die Gäste an einem 10er-Tisch gebeten, sich langsam zu verabschieden. Der Kellner sammelt am Nachbartisch die Sitzkissen von den Stühlen ein. Langsam beginnt auch hier der Feierabend. Zeit nach Hause zu gehen.
Auf dem Heimweg trifft man noch größere Gruppen am Kiosk, gut zwei Dutzend Leute, die hier noch rauchen und trinken und sich viel zu erzählen haben. Den ersten Tag mit der zurückgewonnen Freiheit will man noch nicht ziehen lassen. Lange Nächte – das können nicht nur die Menschen in Kreuzberg.
- Eigene Recherche