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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Dramatische Zustände der Polizei Berliner Oberstaatsanwalt schreibt über "Ende des Rechtsstaats"
Der Berliner Oberstaatsanwalt Ralph Knispel beschreibt in einem Buch dramatische Zustände bei Polizei und Justiz in Berlin. Gegenüber t-online kritisieren der Senat und eine Staatsanwältin seine Ausführungen.
Marode Telefonleitungen, veraltete Technik, genervte Staatsanwälte, die auf engstem Raum zusammengepfercht werden, Personalnotstand: Berlins Strafverfolger leiden unter dem Nötigsten. So zumindest aus Sicht von Oberstaatsanwalt Ralph Knispel, der in seinem gerade erschienenen Buch vor dem "Ende des Rechtsstaats" warnt.
Die Zustände, die der Berliner Jurist darin beschreibt, klingen dramatisch:
- Polizei und Justiz wurden im Laufe der Jahre so dermaßen "kaputtgespart", dass Straftaten in der Hauptstadt nicht mehr konsequent verfolgt werden: Bei Körperverletzung, Betrug oder Diebstählen legen die Staatsanwälte Fälle immer häufiger zu den Akten – "angeblich wegen geringer Schuld", tatsächlich aber wegen Überlastung.
- Richter in Berlin sprechen mildere Urteile, um die Verhandlung abzukürzen und nicht in Arbeit zu ertrinken. Auch bei schweren Straftaten kann monatelang kein Verhandlungstermin gefunden werden, was dazu führt, dass "in schöner Regelmäßigkeit" Mörder und Vergewaltiger auf freien Fuß kommen, weil die Fristen der Untersuchungshaft nicht eingehalten werden können.
- Die Hauptstadt glänzt mit der bundesweit niedrigsten Aufklärungsquote (44,7 Prozent). Bei manchen Delikten hat der Rechtsstaat bereits "kapituliert": Nur 3,9 Prozent der Fahrraddiebstähle können aufgeklärt werden; bei nur 2,6 Prozent der Wohnungseinbrüche kommt es überhaupt zu einem Gerichtsverfahren. Knispel schlussfolgert: "Ein Einbrecher kann also zu 97,4 Prozent davon ausgehen, unbestraft auf freiem Fuß zu bleiben."
Profiteure der Schwachstellen: Clans und Reiche
Von Schwachstellen im System profitieren vor allem die Gutbetuchten, warnt der Oberstaatsanwalt. Wer über staatliche finanzielle Mittel verfügt, kann sich den besten Rechtsbeistand leisten – und so die wunden Punkte im Justizapparat ausbeuten. Neben Wirtschaftskriminalität betrifft das auch Straftaten im Clan-Bereich.
"Wenn Mitglieder bestimmter Familien vor Gericht kommen, werden sie von einer Armee bestens geschulter Verteidiger begleitet", so Knispel auf Anfrage. Die Anwälte der Clans verwickelten die Justiz durch zahllose Anträge in eine Materialschlacht und setzen so die Staatsanwaltschaft unter massiven Druck. Denn die Anklage kann nicht beliebig lange warten, Gerichtsverfahren müssen zügig zu Ende gebracht werden.
Im Kampf gegen die Clan-Kriminalität funktioniere der Rechtsstaat schon in Teilen nicht mehr, so der Jurist. Für ein Viertel der Straftaten in diesem Bereich – Drogenhandel, Schutzgelderpressung, Prostitution, Mord und Totschlag – seien rund 15 bis 20 Familienclans verantwortlich.
Zustimmung – mit Abstrichen
Das düstere Bild, das Knispel von der Hauptstadt zeichnet, wird nicht von allen geteilt, zumindest nicht in der Schärfe. Beim Deutschen Richterbund (DRB) nennt man die kläglichen Zustände in Berlin ein "offenes Geheimnis", so die Co-Vorsitzende des Berliner Landesverbands, Katrin Schönberg, auf Anfrage. Richter und Staatsanwälte seien in der Regel technisch schlechter ausgestattet als der Durchschnittsbürger.
Doch wie tief sich das Problem in den Justizapparat hineingefressen hat, etwa im Fall der wegen Überlastung eingestellten Verfahren, könne Knispel empirisch gar nicht beurteilen, sagt Schönberg. Dazu müsste man jeden Fall einzeln überprüfen.
Auch Benjamin Jendro von der Gewerkschaft der Polizei gibt Knispel grundsätzlich recht. Die Polizei leide seit der Wiedervereinigung an einer "technischen und personellen Minderausstattung", was sich auch auf den Ermittlungserfolg auswirke. Doch sei die Lage nicht so "fatalistisch" wie Knispel sie darstelle: Der Rechtsstaat sei "ausgehöhlt", aber nicht am Ende.
Senatsverwaltung wirft Oberstaatsanwalt "PR" vor
In der Senatsverwaltung für Justiz sieht man Knispels Generalabrechnung kritisch – und am Thema vorbei. "Herr Knispel sagt das schon seit Jahren, aber die Zeiten haben sich geändert", heißt es entnervt bei der Pressestelle. Der rot-rot-grüne Senat habe in den letzten vier Jahren "226 zusätzliche Stellen für Richter*innen und Staatsanwält*innen geschaffen", so Sprecher Sebastian Brux auf Anfrage. Über eine Milliarde Euro steckten im aktuellen Haushaltsplan der Senatsverwaltung für Justiz – mehr als je zuvor in der Geschichte Berlins.
Knispels "Pauschalkritik an der Justiz" sei daher nicht nachvollziehbar. "So schlecht wie Herr Knispel den Rechtsstaat redet, ist er nicht." Es handle sich um Privatmeinung eines einzelnen Mitarbeiters der Berliner Staatsanwaltschaft, der damit "PR" für sein Buche mache.
Die Kritik will Knispel nicht stehen lassen. "Nicht ich habe PR nötig, sondern das Thema", rechtfertigt sich der Oberstaatsanwalt. Er erkenne zwar an, dass unter dem Justizsenator Dirk Behrendt – auch dank frischer Bundesmittel aus dem "Pakt für den Rechtsstaat" – immerhin neue Stellen geschaffen wurden. Doch die "Mangelwirtschaft" dauere an, auch unter dem rot-rot-grünen Senat. "Sonst hätte ich dieses Buch nicht geschrieben."
Aber ist der Rechtsstaat wirklich "am Ende", wie es der Buchtitel behauptet? "Ich stehe zu der Aussage."
"Populistische Schiene"
Kritik kommt auch aus den eigenen Reihen. Eine Berliner Staatsanwältin wirft Knispel vor, die "populistische Schiene" zu bedienen, um daraus persönlichen Profit zu schlagen. Obwohl seine Kritik teils zutreffe, etwa bei der technischen Ausstattung, habe sich die Lage in den letzten Jahren verbessert.
Teils wurde bei der Staatsanwaltschaft "über den Bedarf" eingestellt, um die kommende Pensionierungswelle abzufedern. “Ich frage mich, was nach Meinung von Herrn Knispel noch passieren soll", so Knispels Kollegin gegenüber t-online.
Dass der Rechtsstaat vor den Clans kapituliere, weist die Staatsanwältin zurück. Im Gegenteil: Verfahren im Bereich der Clan-Kriminalität würden priorisiert: "Man bekommt mehr Personal bei der Polizei, DNA-Analysen werden vorgezogen."
“So funktioniert das System”
Auch ein Berliner Strafverteidiger stört sich an Knispels "Populismus": "Wenn Verfahren politisch gewollt sind, werden sie auch angeklagt", so der Anwalt in einem Gespräch mit t-online. Das gelte vor allem bei öffentlichkeitswirksamen Fällen im Bereich der Clan-Kriminalität. Ein Problem sei vielmehr, dass es die Berliner Staatsanwaltschaft nicht hinkriege, gute Juristen zu ziehen. Vergleichsweise geringe Gehälter und ein "undurchsichtiges Beförderungssystem" würden viele Kollegen abschrecken.
Dass die Verteidiger die Verfahren absichtlich in die Länge ziehen, liege nun mal in der Natur der Sache. "So funktioniert das System. Anträge zu stellen ist ein Druckmittel der Verteidigung, was manche Prozesse eben in die Länge zieht", so der Anwalt. Manche Richter sind dafür anfälliger als andere, Verteidiger würden sich das zunutze machen. Doch auch das diene letztlich der Wahrheitsfindung. "Das hat aber nichts speziell mit Berlin zu tun."
Auch das Bild von gut bezahlten Top-Anwälten, die der Justiz überlegen seien und sich über Papierberge schleppende Staatsanwälte lustig mache, wie Knispel an einer Stelle beschreibt, möchte der Verteidiger nicht gelten lassen. Das ist "Oldschool-Knispel", das sei schon lange nicht mehr so.
- Eigene Recherche