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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Clan-Aussteigerin erneut auf der Flucht "Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich dieses Buch nie geschrieben"
Die Clan-Aussteigerin Latife Arab ist erneut auf der Flucht vor denen, die sie zum Schweigen bringen wollen. Ein brutaler Racheakt lässt sie zweifeln, ob der Preis für ihre Freiheit nicht zu hoch ist.
Latife Arab hat Angst. "Wenn mir etwas zustoßen sollte, bitte schreiben Sie darüber", sagt sie, als sie nach dem Interview die t-online-Redaktion verlässt. Falls es ihrer Familie gelingen sollte, sie zu töten, habe sie jetzt noch rechtzeitig die Wahrheit sagen können. Das sei ihr wichtig. Dann geht sie hinaus, allein, auf sich gestellt. Die Welt da draußen ist gefährlich für sie.
Sie zahlt für ein Leben in Freiheit einen hohen Preis. Unter dem Pseudonym Latife Arab hat die zierliche Frau im März 2024 im Heyne-Verlag ein Buch über ihr Leben in einer kriminellen Großfamilie in Deutschland veröffentlicht. Darin geht es um brutale Gewalt gegen Frauen und Mädchen, um kriminelle Machenschaften und Arabs zahlreiche Versuche, sich aus dem Clan zu befreien. Im Jahr 2009 gelingt ihr schließlich mit ihren Kindern die Flucht aus der Familie.
Seitdem lebt die mittlerweile 44-Jährige unter einer neuen Identität an einem unbekannten Ort. Doch Arab ist in einer Welt aufgewachsen, in der ihre Entscheidung als Verrat gilt und mit Blutrache bestraft wird. In ihrem Buch beschreibt sie, wie sie im Jahr 2015 aufgespürt und in einem Wald fast zu Tode geprügelt wurde. Danach gelang es ihr, wieder unterzutauchen. Im September 2024 – nach der Buchveröffentlichung – wurde sie schwer verletzt, mit Benzin übergossen und auf dem Parkplatz des Unfallkrankenhauses Marzahn abgelegt. Sie sagt, dass sie die Angreifer erkannt habe, sie hätten arabisch gesprochen.
Erste Warnung kurz nach der Buchveröffentlichung
Als die drei Männer Latife Arab im September in ein Auto zerrten und würgten, hätten sie darüber diskutiert, ob sie sie von einer Brücke werfen sollten, um ihren Tod wie einen Selbstmord aussehen zu lassen, berichtet sie. Warum sie sich dagegen entschieden, weiß Arab nicht. Auch nicht, warum sie sie mit Benzin übergossen, aber nicht angezündet haben. "Ich hörte noch das Zippo-Feuerzeug klappern", sagt sie. Dann sei sie ohnmächtig geworden.
Woher die Männer wusste, wo Arab sich versteckt, ist unklar. "In den Medien steht immer 'die Clan-Aussteigerin', aber man kann nie wirklich aus dem Clan aussteigen", sagt sie. Der Clan sei ihr immer einen Schritt voraus.
Bereits kurz nach der Veröffentlichung ihres Buches habe sie die erste Warnung erhalten, dass ihre Angehörigen herausgefunden hätten, dass sie hinter dem Pseudonym steckt und man sich an ihr rächen werde, erzählt sie. Damals ahnte sie noch nicht, was ihr drohte.
Latife Arab muss sich verstecken
Latife Arab wollte mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit gehen, um anderen Mut zu machen, sich aus gewalttätigen Clanstrukturen zu befreien. Doch es sei naiv gewesen, daran zu glauben, dass es jeder schaffen könne, sagt sie heute.
Arab habe sich zwar von ihrer Familie lösen können, aber von einem selbstbestimmten Leben ist sie immer noch weit entfernt. Am 11. Oktober gelangten ohne ihr Zutun Informationen über den jüngsten Angriff auf sie an die Öffentlichkeit. "Kurz nach dem ersten Medienbericht wurde ich am Telefon von einem Unbekannten bedroht", erzählt Arab.
In den Medien steht immer 'die Clan-Aussteigerin', aber man kann nie wirklich aus dem Clan aussteigen.
Latife Arab
Der Mann warf ihr vor, mit der Polizei kooperiert und damit die Familie belastet zu haben. Daraufhin musste sie aus ihrem Zuhause fliehen, kam in mehreren Frauenhäusern unter und fand schließlich selbstständig eine Schutzeinrichtung, in der sie bis heute lebt.
Latife Arab hat zwar mit der Polizei gesprochen, aber nicht die Namen ihrer Angreifer genannt. Grund dafür war eine Bedingung, die Arab aufstellte, der die Polizei nicht nachkommen wollte. Jetzt macht sie der Behörde schwere Vorwürfe. Lesen Sie hier mehr dazu.
Verlag widerspricht Arabs Schilderungen
Enttäuscht ist sie nicht nur von der Polizei, sondern auch vom Heyne-Verlag, der ihr Buch "Ein Leben zählt nichts – als Frau im arabischen Clan" herausgegeben hat. "Hätte ich gewusst, dass ich nach der Veröffentlichung des Buches von meiner Familie, den Behörden und dem Verlag so abgestraft werde, hätte ich es nie geschrieben", sagt Arab. Ihr Beispiel sende ein fatales Signal an alle, die von Gewalt betroffen sind. Den Clans werde signalisiert, dass sie damit durchkämen und der deutsche Staat machtlos gegen sie sei, sagt sie.
Ihr Eindruck sei, dass der Verlag die brutalen Schilderungen in ihrem Buch nicht wirklich ernst genommen habe. Niemand habe wirklich damit gerechnet, dass Arab nach der Veröffentlichung erneut in Lebensgefahr geraten könnte. "Als mir dann wirklich etwas Schlimmes passiert ist, haben sie mich allein gelassen. Ich fühle mich verraten", sagt die Mutter von vier Kindern.
Ein eventuell bestehendes Restrisiko wollte sie ausdrücklich in Kauf nehmen.
Sprecherin des Heyne-Verlags
Der Heyne-Verlag teilte auf Anfrage von t-online über eine Sprecherin mit, man habe wegen der laufenden polizeilichen Ermittlungen bislang keine öffentliche Stellungnahme bezüglich der Autorin abgegeben. Dass der Verlag die Gefährdungslage von Latife Arab unterschätzt habe, weist die Sprecherin zurück. Das Thema Sicherheit sei vom Verlag vor der Veröffentlichung mehrfach angesprochen worden. Die Autorin habe versichert, dass sie in Kontakt mit der Polizei stehe und das Risiko für sie kalkulierbar sei. "Ein eventuell bestehendes Restrisiko wollte sie ausdrücklich in Kauf nehmen, um auf ihre Situation und die anderer Menschen in einer vergleichbaren Lage aufmerksam zu machen", so die Sprecherin.
Der Verlag widerspricht auch Arabs Behauptung, er habe sich nach dem Angriff von ihr abgewandt. "Der Verlag unterstützt seine Autorin selbstverständlich weiterhin", heißt es in der Antwort.
Latife Arab macht weiter
Trotz der ständigen Gefahr bereut Latife Arab ihre Flucht bis heute nicht. "Jeder Tag, den ich in Freiheit überlebe, ist ein guter Tag. Jeder Tag in Freiheit lohnt sich", sagt sie mit tiefer Überzeugung in der Stimme. Sie habe nicht alle Grausamkeiten ihrer Familie überlebt, um jetzt ihre Mission aufzugeben.
Sie möchte das öffentliche Interesse an ihrer Person nutzen, um denjenigen eine Stimme zu geben, die kein selbstbestimmtes Leben führen können. Sie hat erlebt, dass sich nach der Veröffentlichung ihres Buches viele Menschen mit ähnlichen Geschichten an ihren Verlag gewandt haben. Es ging um Zwangsheirat, religiösen Fanatismus, die Erniedrigung von Frauen und Mädchen, um Kinder, die für ihre Familien zu Kriminellen werden, um ein brutales Patriarchat, das nicht infrage gestellt werden darf – und um Lehrer, Nachbarn und Bekannte, die wegschauen.
Latife Arabs Hoffnung: "Dass meine Worte bei denen ankommen, die etwas zu sagen haben, die etwas bewirken können." Ihr Wunsch ist es, eines Tages eine eigene Organisation gründen zu können, um Betroffenen den Weg in ein selbstbestimmtes Leben zu ebnen.
- Gespräch mit Latife Arab
- Schriftliche Antwort von einer Pressesprecherin des Heyne-Verlags