Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Krawalle an Silvester So macht sich der Staat lächerlich
Reflexhaft werden nach den Gewaltexzessen an Silvester die Rufe nach einem Böllerverbot laut. Dabei sollte sich der Staat lieber sein eigenes Versagen eingestehen.
Ich habe gerade ein ganz übles Déjà-vu. Pünktlich zum Jahreswechsel fordern viele ein Böllerverbot. Mal wieder. Angesichts der Bilder von pyrotechnisch aufgemotzten Straßenschlachten, widerlichen Attacken auf Rettungs- und Sicherheitskräfte und stumpfem Vandalismus, soll es ein Bann richten. Wenn die Knallerei aufhört, löst sich das Problem von allein, glauben manche wohl. Doch ein Böllerverbot ist großer Blödsinn, weil es lediglich die Symptome beseitigen würde. Nicht aber die Ursachen.
Der Ruf nach strengen Restriktionen zeigt vielmehr die Hilflosigkeit der Politik, dem eigentlichen Problem beizukommen. Und zwar schon seit Langem. Es liegt zu einem großen Teil in der unzureichenden Integration bestimmter Milieus. Es liegt aber auch im staatlichen Versagen in der Bildungs-, Jugend- und Sicherheitspolitik. Beide Entwicklungen müssen uns Sorgen machen – nicht nur einmal im Jahr.
Klar, die Ermittlungsergebnisse der Behörden nach den Ausschreitungen in Berlin und anderswo sind abzuwarten, aber angesichts dessen, was bisher bekannt ist, wird dabei mit großer Wahrscheinlichkeit herauskommen, was auch bei ähnlichen Vorfällen schon herauskam, nämlich dass überdurchschnittlich viele der Krawallmacher aus Problembezirken stammen, in denen der Respekt vor dem Staat und seinen Institutionen nicht besonders ausgeprägt ist. Man könnte auch sagen, in denen der Staat Mühe hat, als Ordnungsmacht überhaupt noch in Erscheinung zu treten.
Es braucht endlich eine fundierte Integrationspolitik
Berlin-Neukölln ist so ein Bezirk. Hier war die Verachtung von Vertretern öffentlicher Institutionen und die Lust am Zerstören allgemeinen Eigentums in der Silvesternacht wie schon in früheren Jahren besonders groß. Spötter nennen Neukölln eine No-Go-Area. Das ist falsch. Der Bezirk ist äußerst lebenswert, ein buntes Gemisch verschiedener Menschen und Kulturen, in einem positiven Sinne aufregend und inspirierend. Aber Neukölln ist eben auch: ziemlich kaputt.
Wer hier jeden Tag durch die Straßen geht, der ist zum Teil mit erschütternder Armut, ausuferndem Drogenkonsum und einem Hauch von Anarchie auf den Straßen konfrontiert. Für viele hier sind Regeln dazu da, gebrochen zu werden. Die Polizei hat häufig nur noch das Sagen, wenn sie in Mannschaftsstärke anrückt, prominente Clans tanzen den Behörden schamlos auf der Nase herum und feiern ihren kriminellen Lifestyle auch noch auf Instagram, Stichwort Tigerbaby. Das wiederum inspiriert andere Jugendliche, es ihnen gleichzutun, nach dem Motto: Wenn der Staat so hilflos auftritt, wie er das tut, dann machen wir eben unsere eigenen Regeln. Das Ergebnis ist in der Silvesternacht zu besichtigen gewesen.
Es braucht kein Böllerverbot. Es braucht eine fundierte, nachhaltige und vor allem mutige Integrationspolitik. Dieselben Politiker und ihre Parteien, die nun nach einem Böllerverbot rufen, sollten sich fragen, welche Perspektive sie den Menschen in den Vierteln, in denen die Gewalt (nicht nur) an Silvester dermaßen eskaliert, überhaupt geben können? Und was sie von ihnen fordern wollen? Integration ist schließlich keine Einbahnstraße. Es muss klar sein, dass der Staat keine Almosen verteilt, sondern von jedem Einzelnen auch etwas verlangt: nämlich den Willen, sich zu integrieren.
Ausdruck tief sitzender Demokratieverachtung
Das gilt übrigens vollkommen unabhängig von den gängigen Zuschreibungen, die der "Milieu"-Begriff vielerorts hervorruft. Es geht hier nicht in erster Linie um migrantisch, muslimisch, osteuropäisch, orthodox, katholisch, links oder rechts. Sondern darum, den jungen Männern (und es sind fast überwiegend junge Männer) und ihren Familien eine klare demokratische Orientierung zu geben, ihnen Angebote zu konstruktiver Selbstverwirklichung und Mitbestimmung aufzuzeigen und ihnen zugleich klare Grenzen zu setzen. Sonst macht sich der Staat lächerlich.
Erst wenn wir die Menschen in diesen wenig privilegierten Randbezirken und mit ihren unterschiedlichen sozialen Milieus ernst nehmen, können wir die Gewaltventile dauerhaft schließen. Dazu gehört auch das Pochen auf die Einhaltung demokratischer Spielregeln. Attacken auf Lehrer, Polizeibeamte, Feuerwehrleute oder Rettungssanitäter dürfen nicht als Bagatelle abgetan und achselzuckend hingenommen werden – bis zum nächsten Jahreswechsel.
Neukölln könnte bald überall sein
Deswegen fordern manche nun härtere Strafen. So erwartbar, so wirkungslos. Bräsiger Law-and-Order-Populismus mag gut für die Umfragen sein, das Problem löst er nicht. Schon jetzt ist die Justiz vielfach damit überfordert, die bestehende Gesetzeslage durchzusetzen, und auch dabei dient Berlin mal wieder als abschreckendes Beispiel. Wenn der Staat aber strukturell versagt, was sollen da härtere Strafen bringen?
Wer Straftaten begeht, aber nicht zur Rechenschaft gezogen wird, kann aus seinem Fehlverhalten kaum die richtigen Schlüsse ziehen. Für viele der Gewaltbereiten und Systemverächter ist der Staat ohnehin nur noch ein Hanswurst, der bei der erstbesten Gelegenheit stiften geht. Und so einer hat nach der Logik der Straße keinen Respekt verdient.
Da die organisierten und ritualhaft eskalierenden Gewaltexzesse an Silvester aber nicht nur Ausdruck einer tief sitzenden Demokratieverachtung, sondern auch einer fundamentalen individuellen Verunsicherung sind, muss der Staat als solcher wieder attraktiv werden. Unser Gemeinwesen muss wieder eine demokratische Überzeugungs- und Durchsetzungskraft entwickeln, die es in den vergangenen Jahren in viel zu vielen Bereichen der Gesellschaft und nicht zuletzt auch der Politik eingebüßt hat.
Unsere Parlamentarier sollten sich daher weniger Gedanken um ein Böllerverbot machen. Sondern darüber, wie sie jene Bürger erreichen und überzeugen können, die sich dem demokratischen Konsens zunehmend verweigern. Und zwar nicht nur jene mit sogenanntem Migrationshintergrund. Ein Umsteuern in der Jugend- und Integrationspolitik, aber auch im Bereich innere Sicherheit wäre ein dringend benötigter Anfang. Sonst könnte Berlin-Neukölln bald überall sein. Nicht nur an Silvester.