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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Holocaust in Lettland "Niemand entkommt lebendig aus unserem Kessel!"
Unzählige Juden hatte die SS bereits massakriert, dann plante sie 1941 in Riga das "perfekte" Massaker im Wald von Rumbula. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird nun an die Opfer erinnern.
Mit Knüppeln werden am 8. Dezember 1941 Menschen durch die Straßen Rigas getrieben. Es sind Junge und Alte, Frauen und Männer. Noch ist es dunkel, die Straßen sind rutschig vom Frost. Wer fällt, wird mit Schlägen traktiert. Immer weiter geht es, das Ziel ist der Wald von Rumbula.
Was dort geschieht, ist bereits aus der Entfernung zu hören. Immer wieder hallen Schüsse, die Menschen werden unruhig. Flucht? Unmöglich, lettische "Schutzleute" bewachen die Menge. Beim Wald selbst passen andere auf, es sind Männer der SS. "Wir sind verloren!", dachte Frida Michelson in diesem Augenblick. "Wir"? Damit waren die Juden Rigas gemeint, die die SS am 30. November wie am 8. und 9. Dezember 1941 ermordete.
Erst bestohlen, dann ermordet
Frida Michelson, Schneiderin von Beruf, die damals noch Frīda Mihelsone hieß, entkam dem Massaker, um davon Jahrzehnte später in ihren Erinnerungen "Ich überlebte Rumbula" zu berichten. Am Eingang zum Wäldchen ließ sie sich in einem unbeobachteten Moment zu Boden sinken, die Wächter hielten sie für tot.
Während andere Totgeweihte an ihr vorbeieilten, häuften diese einen Berg über Michelson an. Es war ein Berg aus Schuhen, denn vor der Ermordung hatten die Juden alles abzugeben, was von Wert war: Geld, Gold, Kleidung. Die Deutschen mordeten nicht nur, sie stahlen auch.
Friedrich Jeckeln hieß der Mann, der diese Massenerschießung im Wald von Rumbula unweit Rigas geplant hatte. Im Töten hatte der SS-Obergruppenführer reichlich Erfahrung: Ende August 1941 hatten seine Männer mehr als 20.000 Juden beim Massaker von Kamenez-Podolsk ermordet. Der Historiker Andrej Angrick benennt Jeckeln als einen der "eigentlichen Initiatoren" des Massenmordes von Babyn Jar in Kiew Ende September 1941. Binnen zweier Tage starben damals rund 33.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder.
Aus deutscher Sicht war Babyn Jar ein Beispiel von im Wortsinne tödlicher Effizienz. Doch Jeckeln war nicht zufrieden, sah noch "Verbesserungsbedarf". Insbesondere was die Beschaffenheit des Ortes der durchzuführenden Massenerschießungen betraf. Der Wald von Rumbula erschien Jeckeln ideal, wie Andrej Angrick schreibt: "Der Boden war sandig und leicht hügelig, was das Graben erleichterte und zugleich einen gewissen Sichtschutz bot."
Ein "Spezialist" für Massenmord
Damit nicht genug. Jeckeln setzte einen "Spezialisten" für die Anlage der zukünftigen Todeszone ein. Größte Sorge war es, auf keinen Fall Raum "ungenützt" zu lassen – sollte Rumbula doch zum Grab für bis zu 28.000 Menschen werden.
Am 30. November 1941 war es so weit: Tausende Juden trieben die Helfershelfer der SS gen Rumbula, das Morden begann. Doch nicht nur lettische Juden wurden erschossen, auch aus Berlin nach Riga deportierte Juden ließ Jeckeln gleich mit umbringen. Irgendwann stellten die Mörder das Töten dann ein; schlechtes Wetter habe dafür gesorgt, so Andrej Angrick.
So ging das Massaker dann erst am 8. Dezember weiter, die sich tot stellende Frida Michelson war Augenzeugin. Einen alten Mann hörte sie beten, immer wieder fielen Peitschenschläge, weinende Menschen rannten an ihr vorbei. Unablässig fielen derweil Schüsse, stundenlang. Irgendwann lösten sie dann die Geräusche von Schaufeln ab.
Unter ihrem Berg von Schuhen hörte Frida Michelson dann, wie sich Männer in lettischer Sprache unterhielten, Handlanger der SS. "Das war perfekte Arbeit!", lobte der eine die Deutschen. "Sie haben Erfahrung“, stimmte der andere zu. Dann kamen sie auf das für sie offensichtlich Wesentliche zu sprechen: "Hoffentlich bekommen wir unseren Anteil." Auch eine deutsche Stimme hörte die Überlebende in dieser Nacht noch: "Niemand entkommt lebendig aus unserem Kessel!" Der Sprecher sollte sich irren.
Im Schutz der Nacht floh Frida Michelson vom Ort des Massakers – und überlebte. Rund 27.000 Juden waren dort insgesamt erschossen worden, die jüdische Gemeinde Rigas war nahezu ausgelöscht. Unbemerkt, wie Friedrich Jeckeln es geplant hatte, war das Massaker von Rumbula allerdings nicht geblieben: Sowohl der Rundfunk in Großbritannien wie auch der Sowjetunion berichteten bereits am 30. November 1941 davon. Und so mancher Mittäter hoffte dringend, dass den Deutschen das Kriegsglück weiter hold sein würde.
Spuren verwischen
Das war es nicht. Schon 1942 begannen die Deutschen, die Spuren ihres Vernichtungsfeldzugs gegen die Juden Europas zu verwischen, "Aktion 1005" genannt. In Rumbula wurden 1944 die Leichen der 1941 beim Massaker Getöteten exhumiert, zusätzlich diejenigen, die die Deutschen später noch dort ermordet hatten.
Häftlinge wurde gezwungen, die mehr als 27.000 Toten zu bergen und zu verbrennen. "Die Feuer brannten Tag und Nacht, ununterbrochen", zitiert Andrej Angrick einen Augenzeugen. Im Juni 1944 waren die "Arbeiten" in Rumbula dann abgeschlossen, vier Monate später stand die Rote Armee in Riga.
Frida Michelson überstand die weitergehende deutsche Besatzung ihrer lettischen Heimat, die nach der Eroberung durch die sowjetische Armee wieder Teil der UdSSR wurde. 1971 wanderte Michelson dann nach Israel aus. Ihre Erinnerungen "Ich überlebte Rumbula" sind 2020 auch in deutscher Übersetzung erschienen.
Das Entsetzen über den Massenmord von Rumbula, der den Einwohnern Rigas nicht verborgen geblieben war, bewegte den Letten Žanis Lipke dazu, Widerstand gegen die Nationalsozialisten zu leisten. Lipke, der eigentlich Hafenarbeiter war, rettete mit anderen Helfern mehr als 50 Juden vor der Verfolgung durch die SS, heute ehrt die Žanis-Lipke-Gedenkstätte in Riga seine Taten. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird sie während seines Besuchs in Lettland am 15. und 16. Februar aufsuchen.
- Eigene Recherche
- Frida Michelson: Ich überlebte Rumbula, Hamburg 2020
- Andrej Angrick: "Aktion 1005". Spurenbeseitigung von NS-Verbrechen 1942 - 1945, 2 Bände, Göttingen 2018
- Fritz Bauer Bibliothek Buxus Stiftung: Žanis Lipke