Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Historiker über Corona-Krise "Bei Impfstoffen hat Deutschland einen fatalen Fehler gemacht"
Mühsam kämpft sich Deutschland durch die Corona-Krise. Historiker Philipp Osten erklärt, welche Fehler gemacht wurden. Und warum die Politik mehr auf die Wissenschaft hören sollte.
t-online: Professor Osten, seit mehr als einem Jahr leidet Deutschland mittlerweile unter der Corona-Pandemie. Nun drohte kurzfristig Anfang April für ein paar Tage die fast vollständige Stilllegung des öffentlichen Lebens, um die dritte Welle zu brechen. Was lief schief in der deutschen Strategie?
Philipp Osten: Eine zentrale Schwierigkeit besteht darin, dass wir noch nicht einmal die zweite Welle überstanden haben.
Impfstoffe gegen das Coronavirus standen in bemerkenswert kurzer Zeit zur Verfügung, nur wird in Deutschland quälend langsam geimpft aufgrund der geringen Menge an Vakzinen.
Die Entwicklung der Impfstoffe war ohne Frage schnell und effektiv. Das Problem bestand am Ende des letzten Jahres aber tatsächlich darin, welche Strategie bei den Impfungen zu verfolgen war: Impft man zunächst die durch das Virus besonders gefährdeten Gruppen? Oder die Menschen, die das Virus besonders stark durch ihre Mobilität verbreiten?
Bei Corona sind dies jeweils die Alten und die Jungen.
Genau. Da man am Anfang nicht wusste, ob die Impfstoffe tatsächlich eine Übertragung unterbinden, priorisierte man die Impfung der vulnerablen Gruppe, um möglichst viele Leben zu retten. Aus wissenschaftlicher Sicht war es eine absolut vernünftige Entscheidung.
Mangelware ist Impfstoff aber auch heute noch in Deutschland, erst recht, wenn man das Impftempo in Israel, Großbritannien und den USA betrachtet.
Betrachten wir doch einmal, was gut gelaufen ist in Deutschland: Binnen kürzester Zeit wurden im ganzen Land Impfzentren errichtet, in denen viele Tausende jeden Tag geimpft werden könnten. Aber: Bei den Impfstoffen hat Deutschland einen fatalen Fehler gemacht. Genau wie die Europäische Union. Man wollte abwarten, welches der sich in Entwicklung befindlichen Vakzine das beste wäre. Nun stellt sich heraus, dass alle Impfstoffe effektiv schützen, zudem machen Studien große Hoffnung, dass sie auch die Übertragung des Virus eindämmen. Jetzt wäre es eigentlich sinnvoll, möglichst schnell Alt und Jung zu impfen.
Philipp Osten, Jahrgang 1970, ist Medizinhistoriker. Er leitet seit 2017 das Institut für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Zugleich ist Osten Direktor des Medizinhistorischen Museums Hamburg. Der Wissenschaftler ist Experte für die Geschichte der Seuchen wie der Gesundheitsaufklärung.
Womit wir wieder bei den zu wenig beschafften Vakzinen wären. Die Europäische Union wäre also klüger beraten gewesen, sich große Kontingente aller Impfstoffhersteller zu sichern – egal, zu welchem Preis?
Europa hat bei den Impfstoffen an der falschen Stelle gespart. Das muss man klar sagen: Es hätte viel mehr Geld in Impfstoffe gesteckt werden müssen. Auch zu deutlich höheren Preisen, falls notwendig. Denn ein Problem mit dem Coronavirus wurde außer Acht gelassen ...
... die Mutationen?
Richtig. Das Coronavirus mutiert. Biologisch gesehen ist es ein normaler Vorgang, aber er birgt erhebliche Risiken für uns Menschen. Daher ist es sehr wichtig zu impfen: Je weniger Krankheitsfälle es gibt, desto weniger Mutationen kursieren. In Großbritannien war ein Mensch knapp 150 Tage an Covid-19 erkrankt gewesen, er litt an einer Immunschwäche. Während dieser Zeit sind zehn Mutationen des Virus allein bei dieser Person festgestellt worden. Eine davon war die Variante N501Y, deren Untertyp auch als britische Mutation bekannt geworden ist.
Eben diese Mutation sorgt in Deutschland für große Befürchtungen.
Und das zu Recht. Aber man muss bedenken, dass die Bezeichnung britische Mutante allein daher stammt, weil in Großbritannien früh und auch umfassend nach Mutationen gefahndet worden ist. So wurde B.1.1.7 entdeckt. In Deutschland haben das fast nur Universitätskliniken getan. Selbstverständlich ist es aber auch hierzulande zu Mutationen gekommen, aber berüchtigte Varianten wurden hier nicht so früh entdeckt.
Die Neigung des Coronavirus zur Mutation macht dann aber eine zügige globale Bekämpfung des Erregers nötig.
Impfnationalismus ist in der Tat bedenklich. Denn Mutationen können das Virus harmloser, aber auch gefährlicher machen. Beispielsweise, wenn Impfstoffe sich als weniger effektiv oder gar als wirkungslos erweisen könnten. Allerdings haben wir auch Glück: Das Coronavirus neigt weit weniger zur Mutation als der Grippeerreger.
Wie lange werden das Coronavirus und seine Mutanten uns noch zu schaffen machen – wie lautet Ihre Einschätzung?
Die Menschheit wird Corona nicht loswerden. Die Liste der Krankheiten, mit der wir uns plagen, hat einen neuen Eintrag bekommen. Oder anders gesagt, Covid-19 wird mit hoher Wahrscheinlichkeit endemisch werden.
Bitte erklären Sie das näher.
Immer größere Teile der Weltbevölkerung werden in den kommenden Monaten und Jahren gegen das Coronavirus geimpft werden. Nach einiger Zeit wird es allerdings wieder Menschen geben, die über keinen Immunschutz verfügen – dies könnten vorwiegend Kinder sein. Covid-19 könnte also eine Kinderkrankheit werden. Allerdings wird die Medizin die Erkrankung aller Wahrscheinlichkeit nach im Griff haben, saisonale Impfungen gegen Corona und Impfungen für Kinder würden zur Normalität.
Nun erwerben die Menschen auf zwei Arten Immunität gegen Krankheiten: durch Infektion und durch Impfungen. Was ist im Fall von Corona effektiver?
Dazu gibt es erste Erkenntnisse. Es sieht tatsächlich so aus, dass die Geimpften im Vorteil gegenüber denjenigen sind, die die Krankheit durchlaufen haben.
Woran liegt das?
Die Impfstoffproduzenten haben die Vakzine so hergestellt, dass sie das Immunsystem höchst effektiv auf die Abwehr einer Coronavirus-Infektion vorbereiten.
Wir haben viel über Impfstoffe gesprochen, Deutschland erwehrt sich der Pandemie bislang aber eher mit mehr oder weniger konsequenten Lockdowns: Wie effektiv ist diese Maßnahme?
Die Reduzierung von sozialen Kontakten ist ein seit Urzeiten bewährtes Mittel zur Eindämmung von Krankheiten. Zugleich ist die Schließung von Schulen das effektivste Instrument zur Seuchenbekämpfung. Vom epidemiologischen Standpunkt aus gesehen, müsste das Land im Lockdown bleiben, bis zwei Drittel der Menschen geimpft sind. Ich weiß um den enormen sozialen und wirtschaftlichen Preis.
Und nicht zuletzt ist der politische Preis hoch, angesichts der Versäumnisse von Bund und Ländern.
Das ist wahr.
Nun sollte nach Willen der Ministerpräsidentenrunde "Ruhe" etwa am Gründonnerstag die Corona-Lage etwas beruhigen, so durch die Schließung von Lebensmittelgeschäften. Wie lautet Ihre Einschätzung zu der jetzt abgesagten Maßnahme?
Die Öffnung der Supermärkte nur am Karsamstag wäre genau der falsche Schritt gewesen. Eigentlich müssten die Öffnungszeiten für solche Läden freigegeben werden, damit sich die Kunden darin maximal über den Tag verteilen. Und nicht zu bestimmten Zeiten ballen. Die Absage der sogenannten Osterruhe war sicher ein Musterbeispiel vertrauensbildender Kommunikation. Dabei hätte ein möglichst umfassender Lockdown die kurzfristige Wirkung strenger Eindämmungsmaßnahmen belegen können. Das Hin und Her zeigt: Die Lücke zwischen Maßnahme und Durchsetzbarkeit ist größer geworden.
Viele Menschen im Land sind der Lockdowns und des Stillstands müde. Wie groß ist das Vertrauen in Politik und Wissenschaft noch?
Die Menschen haben genug von den Lockdowns, das ist unstrittig. Für die Politik kann ich nicht sprechen, aber das Vertrauen in die Wissenschaft ist nach wie vor hoch. Was die Forschung in der letzten Zeit geleistet hat, ist enorm.
Welche Lehren werden wir aus der Corona-Krise ziehen?
Hoffentlich wird es mehr als nur eine Lehre sein. Tatsächlich haben wir festgestellt, dass Impfstoffe in relativ kurzer Zeit entwickelt und produziert werden können. Das Genom des Coronavirus hatte China ja bereits im letzten Jahr sehr schnell zur Verfügung gestellt, damit konnte die Entwicklung sehr beschleunigt werden.
Es dauerte allerdings seine Zeit, bis sie die Zulassung erhielten.
Das hat auch seine Berechtigung, denn die Prüfverfahren brauchen ihre Zeit. Nebenwirkungen der Vakzine müssen ausgeschlossen werden. Aber um auf den eigentlichen Punkt zurückzukommen: Der Bereich der Pflege innerhalb der Medizin sollte eine deutliche Aufwertung erfahren, dazu müsste unsere Volkswirtschaft deutlich verbesserte Strukturen zur Bekämpfung einer erneuten Pandemie aufbauen und unterhalten.
Wo wir gerade bei Lehren aus der Corona-Krise sind: Während in Deutschland weiter Stillstand herrscht, werden insbesondere zu Ostern zahlreiche Flieger von hier gen Mallorca aufbrechen. Was halten Sie davon?
Nichts. Die österlichen Mallorca-Reisen sind zum Symbol politischen Versagens geworden. Man muss es deutlich sagen: Manche, die nach Mallorca reisen, werden nicht zurückkehren. Wahrscheinlich jedenfalls. Einige werden Infektionen nach Spanien tragen, andere sich dort infizieren. Tests hin oder her. Und zwei Wochen nach Ostern werden wir die Mallorca-Flüge auch bei den Inzidenzwerten in Deutschland deutlich zu spüren bekommen. Wegen der Flugreisen ist es nur wenigen Menschen zu vermitteln, dass sie nicht in abgeschiedenen Ferienwohnungen hierzulande Urlaub machen dürfen.
Das wiederum ist ein politisch sehr umstrittenes Thema.
Sie sagen es. Viele Entscheidungen basieren nicht auf wissenschaftlicher Expertise. Sie folgen politischem Kalkül. Langfristig ist das keine kluge Strategie.
Professor Osten, vielen Dank für das Gespräch.
- Telefonisches Gespräch mit Philipp Osten