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Historiker zum Ende des 2. Weltkriegs: "Es ging darum, zu überleben"


Zweiter Weltkrieg
"Den meisten Menschen ging es darum, zu überleben"

InterviewVon Marc von Lüpke und Florian Harms

Aktualisiert am 08.05.2020Lesedauer: 12 Min.
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Historische Aufnahmen: Wie Deutschlands verbrecherischer Krieg begann und sich zur Tragödie des 20. Jahrhunderts entwickelte. (Quelle: t-online)

Deutschland lag in Trümmern, dennoch gingen die Kämpfe des Zweiten Weltkriegs bis zum 8. Mai 1945 weiter. Der Historiker Ulrich Herbert erklärt, warum Soldaten und Zivilisten so lange weitermachten.

Fast sechs Jahre lang hatten Deutschland und die Wehrmacht Krieg geführt, Millionen Menschen waren in ihm umgekommen. Am 8. Mai 1945 schwiegen dann die Waffen, die Wehrmacht kapitulierte bedingungslos. Bis zum Schluss hatte das nationalsozialistische Regime die Kontrolle behalten, SS und Gestapo Verbrechen begangen.

Wie dies möglich war, erklärt der Historiker Ulrich Herbert im folgenden Interview. Er erläutert auch, warum viele Soldaten den Kampf so lange trotz aussichtsloser Lage fortsetzten. Ein Gespräch über Terror, Überlebenswillen und die Lehre, die wir aus dem Zweiten Weltkrieg ziehen sollten:

t-online.de: Professor Herbert, im Frühjahr 1945 lagen zahlreiche deutsche Städte in Trümmern, die alliierten Armeen rückten unaufhaltsam vor. Warum kämpfte das nationalsozialistische Deutschland trotzdem bis zum bitteren Ende?

Ulrich Herbert: Auf die Frage gibt es keine einfache Antwort. Fangen wir mit der Wehrmacht an: Welche Alternativen zum Kämpfen hätte es denn gegeben? Die Soldaten standen unter Befehl, ihnen blieb gar nichts anderes übrig, als bis zum Schluss weiterzumachen. In der letzten Kriegsphase kam es zwar vermehrt zu Desertionen, auf die die zuständigen Stellen aber mit äußerster Brutalität reagierten.

In Form von Hinrichtungen.

Es gibt Berichte von Flüchtlingen aus dieser Zeit. Darin wird geschildert, wie diese Menschen auf ihrem Weg nach Westen deutsche Soldaten an Bäumen aufgehängt sahen – mit einem Schild um den Hals "Ich bin ein Deserteur". Der Terror des Regimes richtete sich in dieser Phase auch gegen die eigenen Soldaten. Also kämpften sie weiter und hofften zu überleben.

Aber es war doch sicher nicht ausschließlich die Angst, die so viele Menschen weiterkämpfen ließ?

Es gab gewiss auch zahlreiche fanatisierte Soldaten, die dem Gegner möglichst lange Widerstand leisten wollten. Übrigens auch Einheiten von Hitlerjungen. Im Osten war vor allem die Angst vor der Roten Armee ausschlaggebend, dass viele Einheiten bis buchstäblich zum Ende kämpften.

Ulrich Herbert, geboren 1951, lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Der Historiker ist Experte für deutsche Zeitgeschichte, insbesondere für die Zeit des Nationalsozialismus. Herberts Studien, etwa zum NS-Juristen Werner Best wie zur Ausländerpolitik, sind Standardwerke. 2014 erschien sein Buch "Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert".

Wie verhielt es sich bei der deutschen Zivilbevölkerung?

Das ist bei Millionen Menschen schwer auf einen Nenner zu bringen. Den meisten Menschen ging es vor allem darum, den Krieg zu überleben. Dass sie sich ernähren konnten. Die meisten Betriebe haben ja bis zum Schluss weitergearbeitet, dadurch hatten die Menschen ein Einkommen und die Möglichkeit, sich Lebensmittel zu besorgen. Denn die Lebensmittelkarten waren an den Betrieb gebunden. Die meisten versuchten, sich so viel Normalität wie möglich zu erhalten.

Normalität im Ausnahmezustand?

Je chaotischer das Leben durch die Luftangriffe und je näher die Fronten schließlich rückten, desto drängender wurden die elementaren Fragen: Essen, Wohnen, Familie, Kinder. Und schließlich gab es in der Schlussphase des Krieges Millionen Deutsche, bei denen all das eben gefährdet war.

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Sie meinen beispielsweise die Flüchtlinge und Vertriebenen?

Ja, insgesamt mehr als 12 Millionen Menschen, die versuchten, irgendwie in den Westen zu kommen. Und auch andere große Teile der übrigen Bevölkerung lebten nicht mehr da, wo sie eigentlich hingehörten. In den großen Städten waren vor allem Frauen und Kinder in weniger "luftgefährdete" Gebiete evakuiert worden. Ebenso ganze Betriebe, Schulen.

Kommen wir auf den dominierenden Mann des NS-Regimes zu sprechen: Adolf Hitler hatte sich 1945 in seinen Bunker in Berlin zurückgezogen, während sein "Drittes Reich" Tag für Tag dem Untergang entgegentaumelte. Wie war es um den Geisteszustand des Diktators bestellt, der "das letzte Aufgebot" in einen sinnlosen Kampf schickte?

Ich misstraue allen Berichten und Analysen, die Hitlers Entscheidungen auf schwindende Geisteskräfte zurückführen. Hitlers Befehlsgewalt war bis zum Schluss unumstritten. Selbst in hochrangigen Kreisen der Wehrmacht, wo ja keine Dummköpfe saßen, wurde die intellektuelle Präsenz des "Führers" durchaus bewundert. Seine schrecklichen Befehle der letzten Phase waren Ausdruck seiner Ideologie, nicht seines gestörten Geisteszustands.

Die Forschung ist sich hinsichtlich der Bedeutung Hitlers für das NS-Regime aber unschlüssig.

In den Jahren nach dem Krieg wurde Hitler allein für alles verantwortlich gemacht. Das entlastete alle anderen. Dieses Bild des "Hitlerismus" ist dann revidiert worden; das "Dritte Reich" war keine Ein-Mann-Diktatur. Andererseits darf man nicht übersehen, welch überragende Bedeutung Hitler für die Politik des Regimes, für den Krieg und für die NS-Verbrechen besaß. Er war keine Marionette in den Händen anderer.

Das Überleben der Deutschen scheint Hitler am Ende des Krieges wenig interessiert zu haben. Er erließ unsinnige "Haltebefehl" und ordnete die Zerstörung der Infrastruktur an.

Hitler war überzeugt, dass es nach der Niederlage keine Zukunft mehr für das deutsche Volk geben werde und solle, das sich ja in diesem Krieg als das schwächere erwiesen habe. Solche Befehle waren dann die Inszenierung des totalen Untergangs. Das bezog auch seinen eigenen Untergang mit ein. Als das Ende nahte, folgte er seinem eigenen Mythos. Er wollte als Soldat gesehen werden, der wie schon im Ersten Weltkrieg aufopferungsvoll bis zum Schluss an der Front gekämpft habe. Tatsächlich schoss er sich eine Kugel in den Kopf.

Gehen wir noch etwas weiter zurück. Wie gelang es der NSDAP und den Behörden überhaupt in der letzten Phase des Krieges, Kontrolle und Moral der Bevölkerung aufrechtzuerhalten?

Einerseits durch die Gewährleistung eines, soweit wie möglich, normalen Lebens durch funktionierende Verwaltung, Lebensmittelzuteilung, Reparatur der bei Luftangriffen zerstörten Häuser und Ähnliches. Andererseits richtete sich der NS-Terrorapparat in den letzten zwei Kriegsjahren wieder verstärkt gegen die Deutschen selbst. Das lässt sich etwa an der Zahl der vollstreckten Todesurteile ablesen. Angst, Terror und Gewalt spielten also eine wichtige Rolle, warum das System bis zum Schluss relativ stabil blieb.

Und wie verhielt es sich mit der Moral in der Bevölkerung?

Die "Moral" hing während des Krieges in starkem Maße von der Lebensmittelversorgung ab. Im Frühjahr 1942 hatten die Behörden angesichts der Ausweitung des Krieges eine sehr maßvolle Kürzung der Lebensmittelrationen geplant. Daraufhin meldeten die Inlandsgeheimdienste, dass sich die Moral der Deutschen wie nie zuvor seit Kriegsbeginn verschlechtert habe.

Tatsächlich hat das Regime bis zum Schluss sehr darauf geachtet, die Versorgung auf einem hohen Niveau zu halten.

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Eine Entwicklung wie 1918, als vor allem die Arbeiterschaft gegen unzureichende Ernährung und dann gegen den Krieg insgesamt protestierte, sollte unbedingt verhindert werden. Man darf aber nicht vergessen, dass die meisten der nach Deutschland gelieferten Lebensmittel aus den von Deutschland besetzten Ländern stammten, die Lebensmittel für das Reich produzieren mussten. Vor allem im Osten herrschte Hunger, damit die Deutschen essen konnten.

Wie wirkten sich die alliierten Luftangriffe auf die Moral aus? Sie führten den Menschen vor Augen, dass das Regime sie nicht schützen konnte.

Natürlich verschlechterten schwere Bombenangriffe die Moral immer wieder. Allerdings ist es dem NS-Regime durch seine Propaganda teilweise gelungen, die Wut auf die sogenannten "anglo-amerikanischen Terrorpiloten" abzulenken. Das führte sogar zu Lynchaktionen, wenn alliierte Flieger über deutschem Territorium abgeschossen worden waren. Aber es gelang dem Regime doch, lange Zeit so etwas wie Normalität aufrechtzuerhalten. Noch 1943 waren zum Beispiel in Berlin zahlreiche Cafés und Tanzlokale geöffnet.

Das passt nicht so recht in das Bild, das heute viele Menschen vom Zweiten Weltkrieg haben.

In der Tat. Goebbels beschwerte sich mehrfach lautstark darüber, dass die "Cafehausbesucher auf dem Kurfürstendamm" so täten, als ginge sie der Krieg nichts an. Aber die Menschen wollten, soweit es ging, ihr gewohntes Leben führen. Auch wenn Berlin und die anderen Städte immer mehr zu Trümmerlandschaften wurden.

Kommen wir noch einmal auf die Propaganda zu sprechen. Wie groß war ihre Wirkung tatsächlich?

Natürlich war bekannt, dass die Presse gelenkt und zensiert war. Aber gelesen hat man die Zeitung dann doch. Wenn wir heute ein solches Blatt aufschlagen, kann man kaum glauben, dass die Berichte damals irgendeinen Überzeugungswert besessen haben.

Nicht wenige haben "Feindsender" gehört, um die Wahrheit zu erfahren, etwa die britische BBC.

Das war durchaus riskant und wurde schwer bestraft. Dennoch taten es viele, um genauere Informationen etwa über den Kriegsverlauf zu erhalten, gerade in der letzten Kriegsphase. Gleichwohl war die Wucht der Informationslenkung durch Radio und Zeitungen so groß, dass es schwer war, sich dem gänzlich zu entziehen.

Lange Zeit konnte die Propaganda tatsächlich von realen Siegen der Wehrmacht berichten. Ab wann aber war der Krieg für Deutschland tatsächlich nicht mehr zu gewinnen?

Vermutlich von Beginn an, spätestens seit dem Herbst 1941.

Also nach der Niederlage vor Moskau nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion?

Ja, die Umstellung auf einen langen Abnutzungskrieg musste die deutschen Kapazitäten überfordern, allen Erfolgen der Wehrmacht und der Nutzbarmachung der Industrien des besetzten Europas zum Trotz. Und nach dem Kriegseintritt der USA Ende 1941 musste man nur die Rüstungskapazitäten Großbritanniens, der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion zusammenzählen, um zu wissen, dass die Deutschen diesen Krieg nicht gewinnen konnten.

Ein wichtiger Punkt: Warum gab es nicht mehr Widerstand?

Erstens war der Terrorapparat des Regimes professionell und effektiv. Die Gestapo war sich relativ sicher, dass es seit 1935/36 keine ernsthaften Widerstandsgruppen mehr in Deutschland gab. Das traf wohl auch zu. Und zweitens wurde das Regime von mindestens der Hälfte der Bevölkerung positiv bewertet, zwischenzeitlich waren es vielleicht sogar zwei Drittel. Es gab also einen erheblichen Konformitätsdruck.

Bleibt noch der Widerstand aus den eigenen Reihen.

Ja, es ist kein Zufall, dass der am besten organisierte Widerstand ausgerechnet aus den Leitungsfunktionen des Regimes kam.

Wir sprechen über die Männer des 20. Juli 1944.

Damit rechneten die Verfolgungsbehörden des Regimes am wenigsten. Dabei nutzten Stauffenberg und seine Mitverschwörer aus der Wehrmacht die verbreitete Angst der NS- Führung vor einem möglichen Aufstand der mehr als sieben Millionen ausländischen Zwangsarbeiter im Land. Die Militärbehörden hatten einen Plan zur Niederschlagung eines solchen Aufstands erarbeitet, mit dem Namen "Unternehmen Walküre". Dieser Plan wurde dann von den Verschwörern des 20. Juli genutzt, um das Regime zu stürzen. Vergeblich, wie wir wissen.

Warum aber haben überhaupt so viele Militärs Hitler bis zum Schluss die Treue gehalten?

Zum einen stimmte ja ein Großteil der militärischen Führung mit Hitlers Kriegsplänen überein. Zum anderen war den Offizieren die soldatische Pflichterfüllung geradezu mit der Muttermilch eingetrichtert worden. Und das galt lange Zeit auch für diejenigen, die Hitler zunehmend kritisch gegenüberstanden. Viele der Mitverschwörer des 20. Juli waren ja lange begeisterte Anhänger des Nationalsozialismus gewesen. Staufenberg ist ein gutes Beispiel dafür: Erst als er fürchtete, dass Hitlers Politik zur Zerstörung Deutschlands führen würde, entschloss er sich zum Handeln.

Im Jahr 1918 hatte die 3. Oberste Heeresleitung im Ersten Weltkrieg beschlossen, den Kampf aufzugeben. Warum war dies 1945 keine Option für die Generäle?

Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff als Spitze der 3. Obersten Heeresleitung im Ersten Weltkrieg hatten damals vor allem einen Hintergedanken: ein funktionsfähiges Heer für die Nachkriegszeit zu bewahren.

Für einen neuen Krieg?

Jedenfalls, um ein Machtfaktor zu bleiben, im Innern wie nach außen. 1945 war das anders, niemand in den höheren Militärkreisen machte sich Gedanken darüber, ob man nach dem Untergang noch ein funktionsfähiges Heer brauchen würde.

Noch einmal: Woher aber stammt diese „Kampf-bis-zum-Ende“-Mentalität, die der Wehrmacht und den Deutschen zugeschrieben wurde?

Zum einen bezweifle ich das im Hinblick auf den Großteil der Bevölkerung. Die Menschen hatten ganz andere Sorgen, vor allem: den Krieg zu überleben. Und den meisten Soldaten blieb gar keine Wahl, es war ja nicht ihre Entscheidung, dass sie bis zum Schluss weiterkämpfen mussten. Anders ist das sicherlich bei den Einheiten der Waffen-SS. Die kämpften tatsächlich bis zum Untergang, auch ihrem eigenen. Aber diese "Kampf-bis-zum-Ende"-Mentalität, von der Sie sprachen, ist auch ein Mythos, da ist viel Wagner und Nibelungenmythos dabei.

Am 30. April 1945 beging Hitler schließlich Selbstmord. Wie reagierten die Deutschen auf diese Nachricht?

Aus biografischen Aufzeichnungen wissen wir, dass gerade viele jüngere Deutsche über die Nachricht von Hitlers Tod deprimiert und verzweifelt waren. Andere wiederum waren erleichtert: Gott sei Dank! Weil sie hofften, dass der Krieg nun rasch zu Ende gehen würde. Und natürlich war der Tod des Diktators für alle überlebenden Opfer des Regimes, für die KZ-Häftlinge, die Zwangsarbeiter, die inhaftierten Regimegegner eine beglückende Nachricht.

Neben der Wehrmacht funktionierte auch der nationalsozialistische Mordapparat bis in die letzten Tage des Krieges. Eine Situation, in der durchaus absehbar war, dass die siegreichen Alliierten die Täter zur Verantwortung ziehen konnten. Wie erklärt sich die fortgesetzte Gewalt?

Das ist gut untersucht. Ich möchte das Beispiel des Sauerlands nennen. Dorthin hatten sich zu Kriegsende zahlreiche Zwangsarbeiter aus dem zerstörten Ruhrgebiet geflüchtet, um die Befreiung abzuwarten. Die Gestapo und verschiedene deutsche Einheiten haben das bemerkt. Und das Letzte, was sie taten, bevor sie ihre Uniformen und Abzeichen wegwarfen, war: diese Menschen zu erschießen, Tausende von ihnen, in den letzten Tagen oder Stunden des Regimes. Ebenso bei den "Todesmärschen" der KZ-Häftlinge, bei denen die SS-Wachmannschaften viele Tausende Häftlinge erschossen – und sich dann irgendwie verdrückten. Die Funktionäre des Terrors funktionierten bis zum Schluss. Das spricht für Fanatismus und Enthemmung. Aber offenbar glaubten sie auch an die Notwendigkeit einer absurden Form von "Ordnung". Allerdings kommt bei manchen Verbrechen noch ein anderer Faktor zum Tragen.

Welcher?

Viele Angehörige von SS und Gestapo haben gar nicht damit gerechnet, den Krieg zu überleben. Sie waren durchaus überrascht, dass mit ihnen nach der Niederlage nicht einfach kurzer Prozess gemacht wurde und sie die Nachkriegszeit überhaupt lebendig erreichten. Als sie aber dessen gewahr wurden, trumpften sie nach ein paar Jahren wieder auf und wollten wieder Karriere machen.

Gerade vor dem Hintergrund der Verbrechen, die SS und Wehrmacht im Krieg im Osten begangen hatten: Was erwarteten die Deutschen vom Kriegsende?

Damals kursierte das Bonmot: "Genieße den Krieg, der Frieden wird fürchterlich." Viele Menschen fürchteten sich vor der Rache der Sieger. Denn viele kannten ja die Berichte oder auch nur die Gerüchte über das Wüten der deutschen Truppen im Osten und über die Ermordung der europäischen Juden.

Was war in der Bevölkerung bekannt über das Ausmaß der Verbrechen?

Das ist unterschiedlich. Und hing auch damit zusammen, ob eine Familie Angehörige im Fronteinsatz hatte: Nach Hause kommende Soldaten waren die wichtigsten Informationsquellen über die Ereignisse im Osten. Aber vieles stand ja sogar in der Zeitung, etwa wenn Goebbels in der Zeitung "Das Reich" davon schrieb, dass jetzt im Osten mit den Juden abgerechnet werde. Interessant ist, dass offenbar viele Deutschen überzeugt waren, die Luftangriffe seien die Rache der Juden für das, was die Deutschen ihnen angetan hatten.

Was natürlich auch ein Beleg für den Antisemitismus ist.

Ja, denn offenbar hielten sie "die Juden" für so mächtig, dass sie die Luftangriffe oder gar die Kriegsführung der Alliierten insgesamt organisierten. Auch über das Vorgehen von SS und Wehrmacht in der Sowjetunion war vielen doch vieles bekannt, oder sie hatten doch mindestens die Gerüchte gehört. Deswegen fürchteten sie die Rache der Roten Armee – und die NS-Propaganda tat alles, um diese Angst zu befördern.

Die Zivilbevölkerung war in der letzten Phase des Krieges ohnehin in einer schwierigen Lage.

Man muss bedenken: Deutschland war ja 1918 nicht besetzt worden. Es gab keine Erfahrungen, was geschehen würde, wenn jetzt fremde Soldaten kamen. Und in dieser Situation hat es dann oft tatsächlich so etwas wie eine "Stunde Null" gegeben.

Ein sehr umstrittener Begriff.

Zurecht, weil er, jedenfalls im Westen, die Kontinuität von sozialen Strukturen übertüncht. Aber gemeint ist doch etwas anderes. In vielen Orten hatten Offiziere von Wehrmacht und SS, manchmal auch Parteifunktionäre bis wenige Stunden vor der Kapitulation noch das Kommando geführt und jeden mit dem Tode bedroht, der sich ergeben wollte. Dann waren die Nazi-Chargen plötzlich verschwunden, Hitlerbilder wurden verbrannt, Uniformen versteckt, Orden vergraben. Dann folgten Stunden der Herrschaftslosigkeit, geprägt von gespannter Ruhe und Angst. Und die Bevölkerung wartete mit Bangen auf die Ankunft der ersten fremden Soldaten.

Wie lange dauerte diese "Stunde Null"?

Manchmal nur ein paar Stunden, manchmal länger. Für die Zivilisten war es eine sehr gefährliche Situation. Bürger, die etwa versuchten, die Zerstörung ihres Ortes zu verhindern und mit den alliierten Truppen zu verhandeln, wurden oft noch in buchstäblich letzter Stunde von den Nazis erschossen. Ebenso diejenigen, die zu früh die weiße Fahne heraushängten. Taten sie es zu spät, liefen sie Gefahr, von Soldaten den Alliierten beschossen werden.

Was geschah nach der Einnahme eines Ortes durch die Alliierten?

Die einrückenden Einheiten errichteten meist sehr schnell neue Strukturen, setzten neue Amtsträger ein, vor allem Bürgermeister, und versuchten, Infrastruktur und Versorgung der Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Im Osten war das Einrücken der Roten Armee mit massiven Übergriffen verbunden, nicht zuletzt mit Vergewaltigungen, allein in Berlin spricht man von mehr als 100.000 Fällen. Die Nazis, derer man habhaft wurde, kamen in Internierungslager. Das waren nach Kriegsende immerhin mehr als eine Million Personen.

Mit all Ihrem Wissen, das Sie über den Zweiten Weltkrieg angehäuft haben: Welche Lehre können wir heute aus dieser Katastrophe ziehen?

Um zu erkennen, dass man keine Kriege führen und Menschen nicht umbringen soll, muss man nicht einen solchen furchtbaren Krieg erlebt haben. Aber dass Nationalismus zu katastrophalen Folgen führt, dass Rechtsstaat und Gewaltenteilung mehr sind als Parolen aus dem Politikunterricht, das sind ganz gewiss Lehren aus diesen Ereignissen. Und auch, dass die Schrecken des Krieges und der deutschen Besatzung in der Erinnerung der europäischen Völker nach wie vor präsent sind, sollten wir als Deutsche wissen.

  • 75 Jahre Ende Zweiter Weltkrieg: Alle Artikel in der Übersicht

Professor Herbert, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Telefonisches Gespräch mit Ulrich Herbert
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