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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Experte über Corona-Crash "Die Reaktion der Deutschen war ein Desaster sondergleichen"
Das Coronavirus erschüttert die Wirtschaft. Nie zuvor in der Geschichte gab es eine vergleichbar schwere Krise. Wie schwer, das erläutert Historiker Adam Tooze. Und auch, welche Fehler gemacht worden sind.
Das hat es nie zuvor gegeben, große Teile der Weltwirtschaft stehen still. Schuld ist das Coronavirus, zu dessen Bekämpfung die Menschen Abstand zueinander halten müssen. Mit schwerwiegenden Konsequenzen.
Adam Tooze ist aus diesem Grund ein gefragter Mann in dieser Zeit, sein Telefon klingelt in einem fort, wie er berichtet: Denn Tooze ist einer der führenden Wirtschaftshistoriker, wie kaum jemand sonst hat er die Weltfinanzkrise von 2008/09 erforscht. Im Gespräch erklärt der Forscher, wie schlimm die derzeitige Krise wirklich ist. Und warum sie sich nicht mit den großen Crashes der Vergangenheit vergleichen lässt.
t-online.de: Professor Tooze, Sie beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit Wirtschaftsgeschichte. Hat es jemals etwas Vergleichbares zur Corona-Krise gegeben?
Adam Tooze: Nein. Wir erleben eine Krise epischen Ausmaßes. Nehmen Sie die reinen Zahlen: Bis zu 70 Prozent der Weltwirtschaft stehen gerade in verschiedenen Formen unter Verschluss, China mit eingerechnet. Ein solcher Einbruch ist einmalig in der Geschichte.
Sie leben und arbeiten in New York, dem Epizentrum der Pandemie in den USA. Wie ergeht es Ihnen dort?
Es ist eine verunsichernde Erfahrung, sich jetzt in den USA aufzuhalten. Man erlebt hier die Inkompetenz und Unschlüssigkeit der amerikanischen Politik in einer ungewohnten Direktheit.
Sie spielen auf den US-Präsidenten an?
Donald Trump ist wirklich ein hoffnungsloser Fall – und zweifelsohne ein schlimmer Präsident. Aber jetzt kann einem Trump fast leidtun. Zwei bis drei Tage bekommt er den seriösen Staatsmann hin, dann macht er wieder irgendwelche populistischen Aussagen.
Es ist aber in der Tat eine verzwickte Situation.
Natürlich. Die eine Hälfte der Berater sagt ihm, er müsse dies tun, damit die Lage nicht völlig eskaliert. Die andere sagt ihm, er dürfe genau jenes nicht tun, damit es nicht richtig schlimm wird.
Adam Tooze, Jahrgang 1967, lehrt Zeitgeschichte an der Columbia University in New York und ist Direktor des dortigen European Institute. Der Brite ist Experte für Wirtschaftsgeschichte, Toozes letztes Buch "Crashed. Wie zehn Jahre Finanzkrise die Welt verändert haben" ist ein Standardwerk.
Hätten Sie sich jemals erträumen lassen, was gerade passiert?
Nein. Es ist absolut erstaunlich, dass wir das gemacht haben. Diese Umweltaktivisten von Extinction Rebellion, die ja genau einen solchen wirtschaftlichen Stillstand aus Klimaschutzgründen gefordert haben, wurden für unseriös erklärt. Und das aus guten Gründen. Nun haben wir es getan, um dieses gravierende Gesundheitsproblem zu lösen.
Sprechen wir einmal über den Beginn der Corona-Krise. War die jetzige Pandemie eine Katastrophe mit Ansage?
Das Coronavirus war jedenfalls ganz sicher kein "Schwarzer Schwan"…
… also ein unvorhersehbares Ereignis, wie es in der Finanzsprache heißt.
Richtig. Es gab ja allein seit der Jahrtausendwende immer wieder Warnschüsse: SARS oder etwa die Schweinegrippe. Und nicht nur deshalb steht das Stichwort "Pandemie" seit langer Zeit ganz weit oben auf den Listen der Institutionen, die uns vor möglichen Risiken warnen sollen.
Tatsächlich waren es aber vor allem die Wirtschaft und die Finanzwelt, die als erstes auf die Nachrichten aus China in Bezug auf die neue Krankheit reagierten.
Es ist wirklich faszinierend: Ich habe mir die Berichterstattung in "Financial Times" und "Wall Street Journal" angesehen in Bezug auf das Coronavirus. Das fing ganz früh um den 23. Januar dieses Jahres herum an. Und die Märkte haben entsprechend sensibel auf die Nachrichten aus China reagiert. Warum? Weil Wuhan und Hubei in der Wirtschaftswelt keine unbekannten Größen sind. Dort sind fast zehn Prozent der chinesischen Automobilindustrie angesiedelt. Und Chinas Autoindustrie ist eben die größte der Welt.
Richtig ernst wurde es aber erst später an den Märkten.
Fatal wurde es am 22. Februar mit den Ankündigungen aus dem vom Coronavirus geplagten Italien. Ab diesem Moment kollabierte die Stimmung an den Märkten und es gab einen Riesenrutsch in Richtung Staatsanleihen.
Und damit in eine relative Sicherheit.
Richtig, vor allem in Form von US-Staatsanleihen.
Wurde im Westen zu langsam auf die Bedrohung reagiert?
Schauen Sie auf die Fakten: Die chinesische Regierung in Beijing hat Mitte Januar erkannt, wie ernst die Lage war – und binnen einer Woche reagiert. Die internationalen Märkte zogen dann wiederum Ende Januar nach. Die Politik im Westen brauchte hingegen noch gut sechs Wochen.
Verschiedene Gesundheitsbehörden warnten aber bereits durchaus zuvor.
In Deutschland habe ich die Entwicklung nicht exakt verfolgt, aber in den USA ging dann bei der CDC…
…den Centers for Disease Control and Prevention…
…quasi alles schief. Selbst Trumps persönliche Berater wie Peter Navarro schlugen Alarm, aber der Präsident wollte das Risiko nicht ernst nehmen. Die einzige Maßnahme, die ihm recht war, war ein Einreisestopp für Ausländer aus China. Das passte ins nationalistische Schema. Amerikaner waren aber ausgenommen.
Südkorea oder auch Taiwan gelten heute als Vorbild bei der Bekämpfung der Epidemie.
Völlig zu Recht. Diese Staaten haben sicher auch deshalb viel früher und effektiver gehandelt, weil sie in der jüngeren Vergangenheit konkrete Erfahrungen wie etwa bei MERS 2015 erworben haben. Und wir im Westen müssen nun schmerzhafte Erfahrungen machen, was passiert, wenn man bei solch einer Pandemie nicht schnell genug reagiert. Denn dann gibt es sehr schnell keine guten Optionen mehr. Es ähnelt in seiner Logik der Klimakrise. Nur eben im Zeitraffer.
Bitte erklären Sie das näher.
Greta Thunberg hat uns zwölf Jahre Zeit prophezeit, um die schlimmsten Folgen des Klimawandels noch abwenden zu können. Beim Coronavirus hatten wir plötzlich nur zwölf Tage Zeit. Wir haben aber fast zwei Monate gezögert und stehen nun vor einem gewaltigen Scherbenhaufen.
Wie groß ist dieser Scherbenhaufen bislang genau?
Riesig. Mir fallen nur wenige Beispiele aus der jüngeren Geschichte ein: Etwa der Zusammenbruch der Wirtschaft des Deutschen Reiches am Ende des Zweiten Weltkriegs. Oder der der sozialistischen Wirtschaftssysteme nach 1990. Wobei diese Ereignisse jeweils nicht von globalem Ausmaß waren, so wie es jetzt der Fall ist. In der Weltwirtschaft erleben wir einen beispiellosen Einbruch. Und Europa befindet sich dabei noch in einer relativ komfortablen Position.
Wie meinen Sie das?
In Deutschland etwa ist der Lockdown zumindest halbwegs sozial abgemildert. Zum Beispiel durch Kurzarbeit und Arbeitslosengeld. In den USA dagegen haben 17 Millionen Menschen ihren Job innerhalb von drei Wochen verloren und es werden noch mehr. Und das in einem Land, in dem die Arbeitslosenversicherung nicht einmal diese Bezeichnung verdient. Oder nehmen sie Indien. Dort spielten sich apokalyptische Szenen ab. Millionen flüchten in ihre Dörfer zurück. In China wiederum verdunkelt die Statistik, dass rund 200 Millionen Wanderarbeiter durch das Coronavirus ihre Arbeit verloren haben.
Bleiben wir kurz bei den USA als größter Volkswirtschaft der Welt. Wie schlägt sich das Land in der Krise Ihrer Meinung nach?
Die USA machen jetzt einen Crashtest durch. Was geschieht, wenn man eine Gesellschaft – mit hoher Abhängigkeit vom Dienstleistungssektor und sehr geringer Arbeitsplatzsicherheit – einem solchen Schock aussetzt? Das ist sehr schwer abzuschätzen. Die Experten bei den großen Banken, denen alle denkbaren Informationsströme zur Verfügung stehen, wissen es auch nicht. Ihre Schätzungen für die USA bewegen sich jedenfalls in Größenordnungen, die man sich kaum vorstellen kann: Von anfangs drei Prozent Verfall des Bruttosozialprodukts für das ganze Jahr 2020 gerechnet, sind sie jetzt locker bei zehn angekommen. Genauso weiß auch niemand, wie hoch die Arbeitslosenzahlen steigen werden. 25 Prozent? 30 Prozent? Das sind furchterregende Werte.
Und das in einem Wahljahr.
Genau. Es wird ja nicht nur der Präsident neu gewählt, sondern der Kongress noch dazu.
Zumindest die Märkte haben sich wieder etwas beruhigt.
Die Leistungen der Zentralbanken zur Stabilisierung sind wirklich beachtlich. Wir haben jetzt seit Wochen etwa in den USA Arbeitslosenzahlen, die das Schlimmste befürchten lassen. Aber die Märkte haben es mit einiger Gelassenheit aufgenommen.
Stichwort Zentralbanken: In der Eurozone sorgt die Europäische Zentralbank mit massiven Ankäufen von Anleihen für eine gewisse Stabilität, das Thema Corona-Bonds, also gemeinsame Schuldverschreibungen der Euro-Länder, sorgt aber weiter für Streit. Deutschland und die Niederlande lehnen sie kategorisch ab.
Die Reaktion der Deutschen und Niederländer war ein Desaster sondergleichen. In Italien etwa wird der rechtspopulistische Lega-Chef Matteo Salvini diese unsolidarische Haltung nach der Corona-Krise genüsslich ausschlachten. Darüber sollte man sich in Deutschland im Klaren sein. Warum sollte er die Gelegenheit auch nicht nutzen? In zwei, drei Jahren wird es in Europa dann aber eigentlich erst besonders interessant.
In welcher Hinsicht?
Italien etwa muss dringend seine Wirtschaft stimulieren. Was nur durch neue Schulden möglich ist. Wenn es dann aber in ein paar Jahren heißt, dass Italien nun Schulden in Höhe von rund 150 Prozent des Bruttosozialprodukts aufgetürmt hat, wären Konsequenzen fällig. Und zwar durch eine strikte Sparpolitik. Die für die Wirtschaft aber wiederum fatal wäre. Also müsste dringend eine Klärung her. Zumal Deutschland ja auch seine Schuldenbremse wegen der Corona-Krise suspendiert hat.
Haben Sie Hoffnung auf eine solche Einigung? Bislang geriert sich Deutschland als unnachgiebig in solchen Fragen.
Mit dem Kompromiss in der Eurogruppe vom 9. April wurden alle wichtigen Entscheidungen vertagt. Aber möglich ist alles. Nehmen Sie den amerikanischen Kongress. Selbst da haben Republikaner und Demokraten es geschafft, sich auf ein Zwei-Billionen-Dollar-Hilfspaket zu einigen.
Die Corona-Krise ist die schwerste, aber nicht die erste Wirtschaftskrise in der Geschichte. Gibt es Parallelen, aus denen wir lernen können?
Die Reaktion der Finanzmärkte auf das Coronavirus hat eine gewisse Ähnlichkeit zur Weltfinanzkrise vor gut zehn Jahren. Die Vertrauensbasis wurde damals wie heute massiv gestört; und zwar das Vertrauen der Anleger, dass ihre Anlage Ertrag bringen wird. Warum sollte auch sonst jemand Kredit geben? Im Markt für Währungen hat Misstrauen in die Zukunft Mitte März 2020 zu einer panikartigen Liquidierung an den Märkten geführt und der Flucht in den Dollar. Der Rückfluss vor allem aus den Schwellenländern hat gefährliche Ausmaße angenommen. Bisher haben mehr als 90 Länder beim IWF Finanzierungsbedarf angemeldet – das ist fast die Hälfte der Länder der Welt.
Was folgte noch?
In den schlimmsten Momenten in der zweiten und dritten Märzwoche waren selbst amerikanische Staatsanleihen betroffen, die für die Stabilität der internationalen Finanzmärkte von zentraler Bedeutung sind. Zeitweise steigerten sich die Stabilisierungskäufe der US-Zentralbank auf bis zu knapp 90 Milliarden am Tag! Mir wurde berichtet, dass die Fed bei einzelnen Banken in einer einzelnen Transaktion 50 Milliarden Staatsanleihen gekauft hat – wir reden hier über Störungen epischen Ausmaßes!
Neben der schweren Krise von 2008/09 ist das Jahr 1929 bis heute traumatisch. Bis weit in die Dreißigerjahre hinein erschütterte die damals entstandene Weltwirtschaftskrise den Globus. Können wir heute eine Lehre aus dieser Katastrophe ziehen?
Vor allem gibt es einen wichtigen Unterschied in wirtschaftlicher Hinsicht zur Corona-Krise: Wir haben uns heute ganz bewusst dafür entschieden, die Wirtschaft in einem nie dagewesenen Ausmaß stillzulegen. Um der gesundheitlichen Bedrohung durch das Coronavirus zu begegnen. Das war bei den vorherigen Abstürzen an den Börsen und Wirtschaftskrisen ganz anders. Auch beim Schwarzen Donnerstag 1929.
Also keine Lehre aus der Geschichte?
Doch, aber es ist eher ein Appell. Und zwar an die demokratischen Politiker der Welt: Vergesst nicht die Menschen in Schwellen- und Entwicklungsländern, die von dieser Krise hart getroffen werden! Denn wenn nicht die Demokraten und Liberalen vernünftig auf diese Krise reagieren, werden es mit großer Sicherheit Demagogen tun. Kein Land darf dafür bestraft werden, in der Krise die richtigen Entscheidungen gefällt zu haben. Für Europa besteht in der Krise aber auch eine Chance.
Welche wäre dies?
Ideal wäre es natürlich, wenn die europäischen Staaten sich untereinander solidarisch stützen würden. Später könnten alle Europäer stolz darauf sein, auf einem Kontinent zu leben, der für alle seiner Bürger in dieser Krise da war.
Halten Sie es für möglich, dass die Politik den Stillstand in der Zukunft bereuen wird?
Gute Frage. Wir werden jedenfalls lange darüber nachdenken müssen, warum wir auf diese Weise reagiert haben. Als Historiker verdaue ich dies alles gerade noch.
Professor Tooze, vielen Dank für das Gespräch.
Korrektur: In einer früheren Version hieß es, die US-Zentralbank hätte bei Stabilisierungskäufen bis zu 90 Billionen pro Tag gekauft, tatsächlich sind es Milliarden. Wir haben den Fehler korrigiert und bitten, ihn zu entschuldigen.
- Telefonisches Gespräch mit Adam Tooze