Stärker als heutige Spitzensportlerinnen Steinzeit-Frauen waren wahre Muskelwunder
Schwaches Geschlecht? Von wegen: In der Frühzeit besaßen Frauen richtige Muskelberge an den Oberarmknochen. Größere als die heutiger Spitzensportlerinen. Die Erklärung ist simpel.
Unsere Vorstellung von Männer- und Frauenkörpern in der Jungstein- und Bronzezeit ist meist recht simpel gehalten. Die Männer trugen Schwarzenegger-gleiche Bizepse zur Schau, geformt und gestählt durch Jagd, Landwirtschaft und Hausbau. Frauen dagegen waren eher zart, allerhöchstens hatten sie schwielige Hände vom Körbeflechten. Dieses Muster entspricht aber keineswegs der Realität, wie eine internationale Forschergruppe um die Anthropologin Alison Macintosh von der University of Cambridge nun herausfand.
Die Frauen waren in den ersten 6.000 Jahren nach dem Sesshaftwerden keinesfalls das schwache Geschlecht. Im Gegenteil: Während die Männer bei den Arbeiten an Haus und Hof im Laufe der Zeit zunehmend an Muskelmasse abbauten, hatte die durchschnittliche prähistorische Frau weiterhin eine stärkere Armmuskulatur als heutige weibliche Ruder-Champions.
Spurensuche in der Vergangenheit
Für ihre Studie verglichen die Forscher Oberarm- und Oberschenkelknochen von mittel- und südosteuropäischen Frauen aus der frühen Jungsteinzeit (5.300 bis 4.600 vor Christus), der frühen und mittleren Bronzezeit (2.300 bis 1.450 vor Christus), der Eisenzeit (850 vor bis 100 nach Christus) sowie dem Frühmittelalter (800 bis 850 n. Chr.). Die Stärke der Knochen sowie deren Form verraten viel über die Muskeln, die einst an ihnen befestigt waren, auch wenn diese selber schon lange vergangen sind.
Zum Vergleich scannten Macintosh und ihre Kollegen die Knochen von lebendigen Sportlerinnen der Universität, darunter Mitglieder des berühmten Ruderclubs, der jedes Jahr gegen die Boote der Oxford University antritt, sowie Fußballerinnen und Läuferinnen. Auch Sportmuffel nahmen sie in die Kontrollgruppe mit auf.
Grenzen der Belastung
Das erstaunliche Ergebnis: Die jungsteinzeitlichen Frauen hatten zwar nur etwa so starke Oberschenkelknochen wie die Ruderinnen, dafür aber im Durchschnitt 11 bis 16 Prozent stärkere Armknochen. Noch deutlicher unterschieden sich die Frauen aus der Bronzezeit von ihren heutigen Geschlechtsgenossinnen. Ihre Armknochen waren zwar nur um etwa 9 bis 13 Prozent stärker, ihre Beinknochen aber rund 12 Prozent schwächer.
Wie bewegten die Frauen sich, um derart kräftige Oberarme zu bekommen? Was für Arbeiten mussten sie verrichten? Allein schon die Belastung der Spitzenruderinnen liegt an der Obergrenze dessen, was machbar ist: Das Top-Team der University of Cambridge trainiert intensiv zweimal am Tag und rudert in der Woche eine Strecke von insgesamt 120 Kilometern.
Herbeischleppen von Futter und Wasser
Die Frauen in der Jungstein- und Bronzezeit bewegten sich definitiv anders. Sie bestellten die Felder noch weitgehend per Hand, was einen erheblichen Kraftaufwand erforderte. "Zu den Aufgaben, die Frauen verrichteten, gehörten mit aller Wahrscheinlichkeit auch das Herbeischleppen von Futter und Wasser für die Tiere, die Verarbeitung von Milch und Fleisch sowie von Häuten und Wolle zu Textilien", ergänzt Mactintosh. Das alles aber taten die Männer auch – und die hatten früheren Studien zufolge zwar auch kräftige Oberarme, jedoch nicht in dem Maße wie die Frauen.
Eine Tätigkeit aber gab es, die wahrscheinlich reine Frauensache war: das Verarbeiten von Korn zu Mehl. Dafür arbeiteten die Frauen mit sogenannten Sattelmühlen. Sie legten die Körner in eine Mulde auf einen großen Lagerstein, dann quetschten sie das Getreide mit einem Mahlstein so lange, bis es zu Mehl zerrieben war. Je mehr Druck sie dabei auf den Mahlstein ausübten, desto besser zerrieben die Körner.
Belastung ähnlich zum Rudern
Da jeweils nur eine kleine Menge Getreide verarbeitet werden konnte, verbrachten die Frauen viele Stunden an der Sattelmühle. "In den wenigen Gesellschaften, in denen heute noch das Mehl mit der Sattelmühle gemahlen wird, nutzen die Frauen sie bis zu fünf Stunden am Tag", berichtet Macintosh. "Die wiederholte Armbewegung, die beim Aneinanderreiben dieser Steine gemacht werden muss, hat die Arme vermutlich in ähnlicher Weise belastet, wie die anstrengende Vor- und Rückbewegung beim Rudern", mutmaßt sie.
Es ist das erste Mal, dass speziell die Knochen von Frauen auf ihre Arbeitsbelastung hin untersucht wurden. Denn Frauenknochen reagieren anders als die Knochen von Männern auf starke Belastung. So konnte eine Studie vor drei Jahren deutlich zeigen, dass – wie zu erwarten – die Belastung der Beine deutlich abnahm, als die Europäer das Jagen und Sammeln zunehmend zu Gunsten des Ackerbaus aufgaben.
"Wie intensiv, vielschichtig und schwer die Arbeiten waren"
Entsprachen die Oberschenkelknochen eines Mannes in der Jungsteinzeit noch denen eines modernen, voll austrainierten Crossläufers, nahm die Stärke immer mehr ab, bis sie in der späten Eisenzeit (um 385 vor Christus) nur noch der eines heutigen durchschnittlichen Nicht-Sportlers entsprach. Die Oberschenkelknochen von Frauen aus denselben Friedhöfen aber zeigten keinen so deutlichen Unterschied – obwohl auch sie mit Sicherheit beim Jagen und Sammeln mehr Kilometer zurücklegten als auf einem heimischen Hof.
Dieser Unterschied, begründen die Forscher in ihrem Aufsatz, sei im speziellen weiblichen Hormonhaushalt begründet. Um also die Belastung von Frauen in der Vergangenheit zu untersuchen, muss man ihre Knochen nicht mit denen der Männer ihrer Zeit, sondern mit denen moderner Frauen vergleichen. "Erst wenn wir die Knochen dieser Frauen in einen frauenspezifischen Kontext stellen, beginnen wir zu sehen, wie intensiv, vielschichtig und schwer die Arbeiten waren, die sie verrichteten", sagt Macintosh. "Sie zeigen uns die verborgene Geschichte der Frauenarbeit über Jahrtausende hinweg."