Knochenfunde im Sand Australiens erstes Massaker
Einen Massenmord richtete ein Kaufmann 1629 unter schiffbrüchigen Männern, Frauen und Kindern auf einer Insel vor Australien an. Anhand neu entdeckter Knochen rekonstruieren Forscher das Verbrechen.
Die Besiedlung Australiens durch die Europäer ist kein schönes Kapitel in der Geschichte des Kontinents. In den ersten 80 Jahren ihrer Anwesenheit schickten die Engländer fast ausschließlich Sträflinge dorthin – und mit ihnen tödliche Krankheiten wie die Pocken. Die wohl schlimmste Episode europäischer Gewalt auf australischem Boden lag da allerdings schon lange zurück. Im Sommer 1629 starben auf der kleinen Insel Beacon Island vor der Westküste Australiens mindestens 125 Männer, Frauen und Kinder. Die Opfer kamen aus den Niederlanden, ebenso wie ihre Mörder. Noch immer finden Archäologen ihre Knochen im Sand. Und die erzählen von dem Albtraum, der damals auf dem Eiland zur furchtbaren Realität wurde.
Am 4. Juni 1629 lief die "Batavia", ein Ostindienfahrer der niederländischen Verenigde Oostindische Compagnie (VOC), auf das Morning Reef, rund 65 Kilometer vor der Küste unweit der heutigen Stadt Perth. An Bord befanden sich 316 Menschen: Männer, Frauen, Kinder und ein Abteilung Soldaten. 40 Passagiere ertranken bereits beim Versuch, an Land zu schwimmen. Doch die Sicherheit, in der die Überlebenden sich wähnten, war trügerisch. Auf der Insel, auf der sie gestrandet waren, gab es weder Trinkwasser noch - bis auf ein paar vereinzelte Seelöwen und Vögel - irgendwelche Nahrung.
Systematischer Massenmord
Kommandant Francisco Pelsaert machte sich gemeinsam mit einigen Männern in einem kleinen Boot auf, um Hilfe zu holen. Die Verantwortung für die Überlebenden gab er Jeronimus Cornelisz, einem Händler aus Haarlem. Doch kaum war das Schiff mit Pelsaert verschwunden, begann Cornelisz auf Beacon Island eine Schreckensherrschaft.
Schon lange hatte er geplant, mit dem Gold und Silber an Bord des Schiffes ein neues Leben fernab der holländischen Heimat zu beginnen. Als Erstes konfiszierte er sämtliche Waffen sowie die knappen Essens- und Wasservorräte, die von der "Batavia" gerettet werden konnten. Da der Proviant bei Weitem nicht für alle Überlebenden reichte, begann Cornelisz systematisch mit der Ermordung derjenigen, die ihm nicht weiter nützlich sein konnten.
Sterben musste, wer alt, schwach oder nicht unterwürfig war. Seine Schergen gerieten schnell in eine Art Blutrausch: "Niemand konnte sie stoppen", schrieb 2002 der Historiker Mike Dash in seinem Buch "Batavia's Graveyard". "Die kleinste Entschuldigung reichte ihnen aus, um ihre Opfer zu ertränken, erschlagen, erwürgen oder erstechen, auch Frauen und Kinder." Nur eine kleine Gruppe von Frauen verschonte Cornelisz - damit er und seine Männer sie immer wieder vergewaltigen konnten.
Die ersten Spuren des Massakers fand der Fischer "Pop" Marten1960, als er südlich seiner Hütte Müll verscharren wollte. Die herbeigerufenen Archäologen gruben daraufhin in der näheren Umgebung vier Skelette aus. In den Neunzigerjahren Jahren kamen noch einmal sechs weitere hinzu, die übereinandergeworfen in einem Massengrab lagen.
"Nun 15 Tote auf Beacon Island"
Die jüngste Fundserie der Archäologen auf der Insel begann dann 2015 mit einem Zahn, den Seevögel aus dem Boden freigekratzt hatten. Als die Ausgräber die Stelle näher untersuchten, entdeckten sie in rund 1,50 Metern Tiefe ein Skelett und zwei Musketenkugeln. Der Tote scheint noch jugendlich gewesen zu sein. Ein Zahn aber fehlte ihm seltsamerweise nicht, also mussten dort noch mehr liegen. Die Archäologen gruben weiter - und fanden wenige Zentimeter entfernt drei weitere Skelette. "Damit haben wir nun 15 Tote auf Beacon Island", berichtet Jeremy Green vom Western Australian Museum.
Sein Kollege, der Anthropologe Daniel Franklin vom Centre for Forensic Science der University of Western Australia in Perth, arbeitet daran, den lieblos verscharrten Toten ihre Geschichte wiederzugeben – und möglicherweise sogar ihren Namen. Zumindest für die sechs Toten aus dem großen Massengrab hat er eine Idee. Drei der Toten waren Männer, möglicherweise auch ein vierter Jugendlicher. Bei den beiden anderen handelt es sich um Kinder, eines fünf bis sechs Jahre alt, das andere hatte sein erstes Lebensjahr noch nicht beendet.
An keinem der Skelette fand Franklin jedoch Anzeichen von Gewalt: keine Knochenbrüche, keine Schnittlinien von scharfen Klingen. Lediglich ein tief durch den Oberkiefer bis in die Nasenhöhle gedrückter Zahn an einem der Schädel könnte von einem brutalen Schlag dorthin befördert worden sein.
Aus den historischen Berichten ist bekannt, dass Cornelisz um den 10. Juli 1629 herum vier kranken Männern die Kehle durchschneiden ließ, damit sie keinen weiteren Proviant mehr verbrauchen konnten: dem Kanonier Passchier van den Enden, dem Zimmermann Jacop Hendricxsz, dem englischen Soldaten Jan Pinten und einem Kabinenjungen. Die Meuterer baten Cornelisz zunächst noch, Hendricxsz zu verschonen, denn er sei ein guter Zimmermann und damit potentiell wertvoll.
"Ein Wendehals und außerdem halb lahm"
Doch Cornelisz gewährte keine Gnade, sei er doch "ein Wendehals und außerdem halb lahm". Eines der Skelette trägt tatsächlich Spuren einer Entzündung am linken Schienbein, "die ihm möglicherweise Schmerzen und Einschränkungen in der Bewegung verursachte", beobachtete Franklin. Weiterhin könnte der Jugendliche unter den Toten der 15- bis 16jährige Kabinenjunge gewesen sein. Ob den Männern tatsächlich die Kehlen durchtrennt wurden, lässt sich nach knapp 400 Jahren nicht mehr feststellen – die entsprechenden Halswirbel sind in allen Fällen bereits zu stark vergangen.
Und sogar für das ältere Kind fand Franklin einen passenden Vermerk in den Akten. Nur zwei Tage vor der Hinrichtung der Männer strangulierten Cornelisz' Schergen die sechsjährige Tochter des Passagiers Hans Harden - gut möglich, dass ihr kleiner Körper mit in das Massengrab geworfen wurde. So fehlt nur noch der Name des jüngsten Opfers. Eine schwierige Suche: Manche Kinder ließ Cornelisz töten, weil ihn ihr Weinen störte. Ein Junge musste sterben, weil ein Meuterer die Schärfe seiner Klinge testen wollte.
Leichen in die See geworfen
Derzeit arbeitet Franklin an den neusten Funden aus den vergangenen beiden Jahren. "Wir sind erstmal dabei, die fragilen Knochen zu stabilisieren", erzählt er. "Danach können wir mit den näheren Untersuchungen beginnen." Auch wenn die Archäologen noch viele weitere Tote unter dem Sand von Beacon Island vermuten, werden sie niemals alle finden. Denn nur die ersten Opfer begruben die Meuterer. Am Ende aber warfen sie die Leichen einfach nur noch in die See.
Im Oktober 1629 kehrt Kommandant Pelsaert mit einem Rettungsschiff zum Wrack zurück und beendet Cornelisz' Schreckensherrschaft. Ein Teil der Meuterer, unter ihnen Cornelisz, wurde noch vor Ort aufgeknüpft. Statt als Held gefeiert zu werden, musste Pelsaert sich für die vielen Toten verantworten. Ein niederländisches Gericht warf ihm vor, das Geschehen auf Beacon Island durch falsche Entscheidungen erst ermöglicht zu haben, und konfiszierte sein Vermögen. Kein Jahr später starb auch er als gebrochener Mann.
- Eigene Recherchen