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Passionsspiele in Oberammergau: Sie wollen nur spielen


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Oberammergau
Sie wollen doch nur spielen

MeinungVon Wladimir Kaminer

29.05.2022Lesedauer: 4 Min.
Oberammergauer Passionsspiele: Jesus (Frederik Mayet) zieht auf einem Esel in Jerusalem ein.Vergrößern des Bildes
Oberammergauer Passionsspiele: Jesus (Frederik Mayet) zieht auf einem Esel in Jerusalem ein. (Quelle: Oryk Haist/imago-images-bilder)

Wegen Corona fielen sie 2020 aus, nun werden die Passionsspiele in Oberammergau nachgeholt. Nicht nur, weil Jesus gut drauf ist, hat die sechsstündige Vorstellung viel Gutes, meint Wladimir Kaminer. Denn alles, was uns nicht umbringt, macht uns stärker.

Mitte Mai wurde Jesus in Oberammergau gekreuzigt, zum ersten Mal in diesem Jahr auf der großen Bühne des Passionstheaters. Ich war natürlich dabei. Ich habe bereits 2020 für das deutsche Kulturfernsehen eine Doku über das Theater gedreht. Damals wurden die Proben wegen der Corona-Seuche abgebrochen, die Menschen waren verzweifelt.

Sie hatten sich seit zwei Jahren nicht rasiert, Tausende Kostüme per Hand genäht, der Judas hatte sein Abitur verschoben, weil ihm im Dorf gesagt worden war, er könne nicht zwei derartige Projekte gleichzeitig machen: Jesus verraten und die Hochschulreife erlangen. Er entschied sich damals für die Rolle – und durfte dann nicht spielen.

(Quelle: Frank May)

Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit mehr als 30 Jahren in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Büchern gehört "Russendisko". Im Sommer 2021 erschien sein neuestes Buch "Die Wellenreiter. Geschichten aus dem neuen Deutschland".

2020 herrschte eine miese Stimmung in Oberammergau. Es schien, als hätte der Lauf der Geschichte plötzlich Halt gemacht, als sei die Uhr der Menschheit kaputtgegangen. Alle waren verunsichert: Wie geht es weiter? Wird auf diesem Planeten je wieder gekreuzigt oder sitzen wir von nun an nur noch unter Hausarrest und warten, bis der Arzt mit der nächsten Spritze kommt?

Tausende traurige Jesusse

Ich bin damals ganz allein durchs Dorf gelaufen, habe die leeren Geschäfte besucht, tausende Jesusse schauten mir von den Kruzifixen traurig hinterher, aus echtem Holz von Einheimischen geschnitzt, "Motivationsgeschenk für 92 Euro" stand darunter. Die Seuche hatte jede Motivation zunichtegemacht, niemand war da, den man mit einem Holz-Jesus motivieren konnte.

Mit dem echten Jesus-Darsteller war ich Weißwürste essen, mit Brezel und Bier. Er wirkte traurig und nachdenklich und wollte sich aus Verzweiflung die Haare abschneiden. Er glaubte nicht so recht, dass die Spiele tatsächlich 2022 stattfinden werden.

Aber nun stand er doch auf der Bühne, er weinte fast vor Stolz. Ich freute mich über Jesus und darüber, dass wir unsere Doku endlich vollenden durften. Was lange währt, wird endlich gut. Der Premierentag begann mit rotem Teppich, mit dem Ankommen der Prominenz: Ben Becker, Uschi Glas, Markus Söder waren dabei. Bereits um 11 Uhr startete der ökumenische Gottesdienst, zwei Diener Gottes, ein Priester in roter Soutane und ein Pfarrer im schwarzen Talar beteten für uns.

Die Welt ist schlecht, sagten sie, in diesen Tagen schlechter denn je. Die Menschen sind in Sünde festgefahren und haben alle Gebote vergessen, sie sollten eigentlich nicht töten und nicht rauben und sich keine anderen Götter schaffen. Aber es gibt Hoffnung, sagten der Priester und der Pfarrer. Je schlechter die Welt, umso besser die Aussicht. Denn der Tag naht, an dem wir alle das irdische Leiden hinter uns lassen und frohen Mutes Richtung Himmel aufblicken.

An dieser Stelle waren alle im Raum auferstanden und trugen inbrünstig das Vaterunser vor. Die meisten kannten es auswendig, sogar die Prominenz. Ich saß verkabelt in Reihe 33 und genoss die Vorstellung, sechs Stunden lang, mit einer dreistündigen Pause für die Mahlzeit, so viel Spaß muss sein.

Virus als Probe für die Passion

Die Dorfgemeinschaft Oberammergau gelobte vor 400 Jahren, die Geschichte der Kreuzigung von Jesus und seiner anschließenden Auferstehung alle zehn Jahre bis in alle Ewigkeit zu wiederholen, sollte die Pest-Epidemie das Dorf verschonen. Die Pest hatte das Dorf verschont, das Corona-Virus nicht.

Alle Mitspielenden mussten sich jeden Tag vor der Probe testen lassen und waren inzwischen zu der Ansicht gelangt, Gott habe das Virus extra erschaffen, um ihre Passion auf die Probe zu stellen. Einen Tag vor der Premiere wurden Maria und Petrus positiv getestet, es gab natürlich eine zweite Besetzung.

Es sind in Oberammergau für jede Rolle immer zwei Darsteller vorgesehen, weil niemand allein 100 geplante und bereits ausverkaufte Vorstellungen durchspielen kann. Der Regisseur fühlte sich trotzdem sehr unwohl dabei, so knapp vor der Premiere zwei der wichtigsten Figuren zu verlieren.

Der Judas hatte Corona bereits gehabt und litt unter Long Covid, er fühlte sich die ganze Zeit schlapp, überfordert, lustlos und verzweifelt. Zu seiner Rolle passte das eigentlich gut. Der Jesus war – Gott sei Dank – gut drauf und jederzeit bereit. Ich habe seinen siebenjährigen Sohn interviewt: „Na Junge, möchtest Du auch Jesus werden wie Papa, wenn Du groß bist?“ Der Junge wollte. Ich habe mich mit seinem Vater gut angefreundet.

Es war mein Jesus, den ich bereits vor zwei Jahren kennengelernt hatte. Den anderen kannte ich nicht. Es gab nämlich auch zwei Jesusse für die Inszenierung, einen geimpften und einen ungeimpften Jesus. Der nicht geimpfte Jesus hat sich laut Gerüchten kurz vor der Premiere zum Impfen überreden lassen. Für den geimpften war der Esel zu klein, er lief ihm zwischen den Beinen. Also wurde extra für den Fall ein katalanischer Riesenesel nach Oberammergau gebracht, ein Pferd mit Eselskopf namens Aramis.

(Quelle: privat-bilder)

Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Mit feinem Humor und spitzer Feder seziert er für t-online russische und deutsche Befindlichkeiten in seiner Kolumne "Russendisko". Für beides ist Kaminer prädestiniert, denn er kam 1967 in Moskau zur Welt und lebt seit mehr als 30 Jahren in Deutschland.

Esel zur Premiere geläutert

Von der Größe her passte Jesus nun perfekt auf Aramis, doch der Esel schien entweder nicht richtig christianisiert oder vom Teufel besessen zu sein. Er wollte Jesus nicht nach Jerusalem, sondern irgendwohin um die Ecke bringen. Zur Premiere war das Tier jedoch wie ausgewechselt.

Die Stimmung im Saal war unglaublich. Die 4.000 Zuschauer folgten der Geschichte mit großem Interesse, obwohl die meisten natürlich wussten, wie sie ausgeht. Selbst das Leiden Jesu am Kreuz hat dem Publikum in der Pause nicht den Appetit verdorben. Sie wussten, es ist nur für drei Tage, bald wird er wiederauferstehen und mit uns zusammen einen trinken.

Die Passion machte Mut. Alles, was uns nicht umbringt, macht uns stärker. Wir werden mit allem fertig, mit der Seuche und mit dem Krieg, und wir werden diesen Planeten in einem ordentlichen Zustand den Kindern überlassen, damit sie das alte Spiel aufs Neue beginnen können.

Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben die Meinung der Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.

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