Krieg in der Ukraine Der Stellungskrieg ist wohl vorbei
Russlands Armee erzielt in der Ukraine zunehmend Geländegewinne. Was das für den weiteren Verlauf des Krieges bedeuten könnte.
Russland bringt neues Tempo in den Ukraine-Krieg: War in den vergangenen Monaten von einem Stellungskrieg die Rede, verzeichnet der Aggressor Russland nun immer mehr Geländegewinne. So konnten russische Truppen in den vergangenen Wochen Erfolge in den ostukrainischen Städten Wuhledar und Welyka Nowosilka erzielen.
Dabei rücken sie so schnell vorwärts wie im gesamten Jahr 2023 nicht. Von den selbstgesteckten Zielen hingegen ist Russland noch weit entfernt. Immerhin plant Präsident Wladimir Putin seit dem Einmarsch in die Ukraine vor mittlerweile fast drei Jahren die Besetzung großer Regionen. Die Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) leitet daraus drei mögliche Szenarien ab, wie der Angriffskrieg gegen die Ukraine weiter verlaufen könnte.
Russland verzeichnet Geländegewinne
Die Ausgangslage: Das ISW beruft sich auf Angaben von Militärbloggern und geolokalisierte Aufnahmen, wonach Russland am Wochenende Kateryniwka, Jelysawetiwka, Illinka und wahrscheinlich auch Romaniwka eingenommen hat. Alle Orte befinden sich nordöstlich von Wuhledar. Auch in der nördlich gelegenen Stadt Trudowe sollen russische Truppen vorgerückt sein.
Die russischen Streitkräfte haben seit dem 1. September 2024 das Tempo ihrer Vorstöße in den Richtungen Pokrowsk, Kurachowo, Wuhledar und Welyka Nowosilka erheblich gesteigert und in diesen Gebieten seit dem 1. September 2024 mindestens 1.103 Quadratkilometer gewonnen. Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2023 waren es aufgrund der ukrainischen Gegenoffensive 387 Quadratkilometer. Offenbar ist es Russland gelungen, die Einnahme von Wuhledar für weitere Operationen zu nutzen.
Drei Szenarien für den weiteren Kriegsverlauf
Das ISW hat drei Möglichkeiten skizziert, wie Russland weiter vorgehen könnte. Das erste Szenario geht davon aus, dass die russischen Streitkräfte zunächst südwestlich, östlich und nordöstlich von Welyka Nowosilka vorrücken, um so das Gebiet einzukesseln. Es wurde bereits bestätigt, dass sich russische Streitkräfte innerhalb von fünf Kilometern nordöstlich und 2,5 Kilometern südöstlich von Welyka Nowosilka befinden. Die Stadt selbst könnte die russische Armee dabei aussparen, um den dort besser vorbereiteten ukrainischen Truppen auszuweichen. Stattdessen könnte die Militärführung beabsichtigen, den Druck auf die südwestliche und östliche Flanke der Stadt zu erhöhen und so die ukrainischen Soldaten zum Rückzug zu drängen, ohne selbst frontal angreifen zu müssen.
Eine zweite Möglichkeit sieht das ISW im Vorrücken der russischen Armee vom Süden aus entlang der Autobahn H15 nach Andrijiwka. Dafür sprechen Beobachtungen von russischen Militärbloggern und dem ukrainischen Militärbeobachter Konstantin Mashovets. Die ostukrainische Siedlung könnte weitere Möglichkeiten dafür schaffen, ukrainische Einheiten in der Nähe einzukesseln. Es würde zudem zu den russischen Bemühungen beitragen, den Frontverlauf zwischen Selydowe und Rozdolne zu ebnen.
Als drittes Szenario skizziert das ISW ein Vorrücken der russischen Armee von Selydowe aus nach Westen und Südwesten in Richtung Andrijiwka, um die ukrainischen Truppen nördlich von Kurachowe zum Rückzug zu bringen. Für diese Theorie spricht, dass Russland seit der Einnahme von Selydowe versucht, von dort aus weiter nach Westen und Südwesten vorzudringen.
Region Donezk im Visier
Es ist bisher allerdings unklar, wie Russland weiter vorgeht. Keine der genannten Szenarien passt zu den ursprünglichen Plänen der russischen Armee für den Herbst und Winter. Das selbsterklärte russische Ziel war demnach die Einnahme von Pokrowsk. Doch entsprechende Offensiven hat die Ukraine mehrfach abgewehrt.
Darüber hinaus hat es der Kreml aber wohl auf die gesamte Region Donezk abgesehen. Die ukrainische Nachrichtenagentur Interfax Ukraine berichtete am 20. November unter Berufung auf ukrainische Geheimdienstquellen, ein Dokument des russischen Verteidigungsministeriums eingesehen zu haben. Darin hieß es, dass Russland die vollständige Annexion der Oblaste Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson plane.
Auf dem Weg zu diesem Ziel würde es passen, zunächst die Besetzung von Teilen der Region Dnipropetrowsk zu sichern. Denn noch ist die Region nicht von Russland illegal annektiert. Hinzu kommt, dass trotz aller komplexen Pläne der Militärführung die russischen Truppen derzeit dazu nicht in der Lage sind. Die Geländegewinne der vergangenen Wochen wurden in zermürbenden Offensiven errungen und haben Russland viele Soldaten und Material gekostet.
Russland holt sich ausländische Unterstützung
Der britische Verteidigungsminister John Healey erklärte am 9. November, dass die russischen Streitkräfte im Oktober 2024 durchschnittlich 1.345 Soldaten pro Tag verloren hätten. Jakub Janovsky, Gründer von Oryx, einer Webseite zu Verteidigungsthemen, hat Daten zu Materialverlusten zusammengetragen. Demnach haben die russischen Streitkräfte im September und Oktober 197 Panzer, 661 gepanzerte Mannschaftstransportwagen (APCs) und 65 Artilleriesysteme mit einem Durchmesser von mehr als 100 mm an der gesamten Front verloren. Unabhängig überprüfen lassen sich all diese Angaben kaum.
Eine solche Kriegsführung kann Russland nicht lange aufrechterhalten. Ein Mittel dagegen ist der Einsatz ausländischer Soldaten auf russischer Seite. Bereits vorher war bekannt geworden, dass Nordkorea Tausende Soldaten nach Russland geschickt hat. Mehr dazu lesen Sie hier. Nun berichtet die "Financial Times", dass auch Huthi-Rebellen aus dem Jemen eingesetzt werden sollen. Die Miliz werbe in ihrem Land Rekruten für einen Einsatz im russischen Militär an und habe durch "zwielichtigen Menschenhandel" schon Hunderte jemenitische Söldner an Russland vermittelt, schreibt die Zeitung.
Auch im eigenen Land wirbt Russland für den Dienst an der Front – und nutzt die Zwangslage junger Menschen aus, die häufig verschuldet sind. So will der Kreml Freiwilligen für den Einsatz im Krieg, egal ob als Rekruten, Wehrpflichtige oder Vertragssoldaten, mit einem neuen Gesetz Kreditschulden von bis zu zehn Millionen Rubel (rund 91.000 Euro) erlassen. Präsident Wladimir Putin unterzeichnete das entsprechende Gesetz am Samstag, wie russische Medien tags darauf berichteten. Berichte über Zwangsrekrutierungen von jungen Männern gibt es allerdings auch aus der Ukraine. Inwiefern eine höhere Anzahl an Rekruten den Ausschlag geben kann, wird sich zeigen müssen.
- ISW: Russian Offensive Campaign Assessment, November 24, 2024
- Nachrichtenagentur dpa