t-online - Nachrichten für Deutschland
t-online - Nachrichten für Deutschland
Such IconE-Mail IconMenü Icon



HomePolitikUkraine

Ukraine-Krieg: Russland setzte bei verheerendem Luftangriff auf neue Taktik


Setzt Putin auf eine neue Taktik?
Darum war Russlands Luftangriff so verheerend


09.07.2024Lesedauer: 5 Min.
Nachrichten
Wir sind t-online

Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.

Zum journalistischen Leitbild von t-online.
Player wird geladen
Bei dem Angriff soll unter anderem das wichtigste Kinderkrankenhaus der Hauptstadt Kiew schwer beschädigt worden sein. (Quelle: reuters)

Erneut hat Russland die Ukraine am Montag mit massiven Luftangriffen überzogen. Dabei setzte die Kremlarmee offenbar auf eine neue Taktik. Die Verteidigung könnte für die Ukraine komplizierter werden.

Der massive russische Raketenangriff auf die Ukraine am Montag und der Einschlag eines Geschosses in einer Kinderklinik haben international Entsetzen ausgelöst. Mindestens 38 Menschen sind dabei in Kiew und anderen Städten ums Leben gekommen, rund 170 weitere wurden verletzt. Doch nicht nur die bloßen Opferzahlen sind erschreckend, auch die Auswahl der Ziele macht Russlands Absichten in seinem Angriffskrieg deutlich. Und nun schlägt die Ukraine Alarm: Russland habe die Taktik seiner Luftangriffe geändert, um Schäden zu maximieren.

Der frühere Sprecher der ukrainischen Luftwaffe, Jurij Ignat, erklärte am Montag auf Facebook, dass Russland fortwährend die Fähigkeiten seiner Aufklärungs- und Angriffsdrohnen sowie weiterer Waffensysteme verbessere. Dazu zählen etwa Marschflugkörper und ballistische Raketen, mit denen Russland am Montag die Ukraine angriff.

Besonders die Marschflugkörper seien in "extrem niedriger" Höhe geflogen, nur bis zu 50 Meter über dem Boden. "Dadurch wird es immer schwieriger, sie zu entdecken und zu zerstören", so Ignat. Zudem habe Russland seine Raketen und Marschflugkörper mit Radar- und Wärmefallen ausgestattet – auch das erschwert das Aufspüren der Waffensysteme erheblich. Von 44 russischen Raketen haben laut Ignat 33 ihre Ziele getroffen. Bei vorangegangenen Angriffen lag die Abschussrate der ukrainischen Flugabwehr meist deutlich höher.

"Praktisch keine Zeit zum Reagieren"

Laut den Militärexperten der US-Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) deuten Ignats Aussagen darauf hin, dass Russland entweder die Taktik seiner Luftangriffe verändert oder seine Waffentechnologie insgesamt verbessert habe – womöglich sei auch beides zutreffend. Das Ziel: "der ukrainischen Infrastruktur maximalen Schaden zuzufügen, indem sie der ukrainischen Flugabwehr praktisch keine Zeit zum Reagieren lassen, bis sich die Rakete bereits in Bodennähe befindet." Für die Ukraine wäre das verheerend.

Denn die russische Armee macht bei ihren Angriffen nicht einmal vor zivilen Einrichtungen halt. In der Hauptstadt trafen Raketen die Okhmatdyt-Kinderklinik, die größte derartige Einrichtung des Landes. Mindestens zwei Menschen starben, es gab zudem 16 Verletzte. Herabfallende Trümmer eines abgefangenen Geschosses töteten darüber hinaus drei Menschen bei einer Klinik für Geburtsmedizin, drei weitere Personen wurden verletzt. In der Industriestadt Krywyj Rih starben insgesamt zehn Menschen, unter anderem bei einem Angriff auf ein Verwaltungsgebäude des Stahlkonzerns Metinvest.

Video | Tote bei Luftangriffen – Russland beschießt Kinderkrankenhaus
Player wird geladen
Quelle: t-online

Laut dem Kommandeur der ukrainischen Luftwaffe, Mykola Oleschtschuk, setzte Russland für seinen Angriff sowohl eine Kinschal-Hyperschallrakete als auch ballistische Iskander-Raketen und Marschflugkörper der Typen Kh-101, Kh-22 und Kalibr sowie Lenkflugkörper des Typs Kh-59/69 ein. Seine Angaben über die Anzahl der Geschosse weichen leicht von denen Ignats ab: 30 von insgesamt 38 Raketen seien abgefangen worden. "Die Welt muss auf dieses Verbrechen entschlossen reagieren", schrieb Oleschtschuk auf Telegram. "Und es sollte keine Diskussionen darüber geben, ob es möglich ist, militärische Ziele auf dem Territorium Russlands anzugreifen."

"Wir brauchen mehr Flugabwehrsysteme"

Auch der ukrainische Verteidigungsminister Rustem Umerow drängte die Verbündeten seines Landes, rasch über die Lieferung weiterer Luftabwehrsysteme zu entscheiden. "Unsere Verteidigungsfähigkeiten sind immer noch unzureichend", schrieb Umerow am Montag auf Telegram. "Wir brauchen mehr Flugabwehrsysteme." Dabei hat die Ukraine vor allem das Patriot-Flugabwehrsystem aus US-Produktion im Blick.

Aus Deutschland und den USA hat die Ukraine bisher bereits vier solcher Systeme erhalten – drei davon aus Berlin. Mehr dazu lesen Sie hier. Aus Rumänien wurde zudem bereits die Lieferung eines weiteren Systems in Aussicht gestellt. Nun soll es aber schneller gehen: Die Ukraine erhofft sich vom am Dienstag beginnenden Nato-Gipfel in Washington weitere Unterstützung in ihrem Abwehrkampf gegen das russische Militär. Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist dazu eingeladen.

Sein US-Amtskollege hat unter dem Eindruck der russischen Luftangriffe sogleich "neue Maßnahmen" zur Stärkung der ukrainischen Luftabwehr angekündigt. Die USA und ihre Verbündeten würden diese neue Unterstützung auf dem Nato-Gipfel bekannt geben, erklärte Biden. Unter anderem war zuletzt die Lieferung von bis zu sechs Patriot-Flugabwehrsystemen aus Israel im Gespräch, die vor der Übergabe noch in den USA überholt werden sollten.


  • Hören Sie hier im Podcast, welche Erwartungen die ehemalige stellvertretende Nato-Generalsekretärin Stefanie Babst an den Gipfel hat:
Loading...
Symbolbild für eingebettete Inhalte

Embed


Ist Patriot gegen Russlands neue Taktik gewappnet?

Doch ist das Flugabwehrsystem überhaupt dazu geeignet, die eingesetzten russischen Waffen effektiv abzufangen? Davon ist zumindest anhand früherer Erfahrungen auszugehen. Die Ukraine hat laut eigenen Angaben bereits mehrere der russischen Kinschal-Hyperschallraketen abgefangen – eine der wirkmächtigsten Waffen im russischen Arsenal. Auch die ballistischen Iskander-Raketen der Russen scheitern regelmäßig am ukrainischen Schutzschirm. Gleiches gilt für die am Montag eingesetzten Marschflugkörper.

Ferner verfügt die Ukraine bereits über weitere Möglichkeiten zur Abwehr solcher Waffensysteme: das Raketenabwehrsystem Iris-T sowie den Flugabwehrkanonenpanzer Gepard. Beide Systeme hat die Ukraine aus Deutschland erhalten. Mehr zu Iris-T lesen Sie hier. Doch sie sind wohl nur mit Einschränkungen gegen die russischen Geschosse wirksam, wie der Raketenexperte Markus Schiller im vergangenen Jahr dem MDR sagte: "Dafür müsste ein solches System sehr nahe an dem Angriffsziel stehen und noch sehr viel Glück haben – und das ist ziemlich unwahrscheinlich." Vor allem der Marschflugkörper Kh-22 sei im Anflug zu schnell.

Video | So funktioniert das Luftabwehrsystem Patriot
Quelle: Glomex

Vor allem die Nähe von Flugabwehrsystemen zu möglichen Angriffszielen ist für die Ukraine ein erhebliches Problem. Es ist wohl die größte Schwachstelle der ukrainischen Verteidigung: Das Land verfügt schlicht über zu wenige solcher Systeme, um die Städte und noch dazu die Soldaten an der Front vor russischen Luftangriffen zu schützen. Sollten tatsächlich sechs Patriot-Systeme aus Israel an die Ukraine geliefert werden, würden sich die Kapazitäten der Ukraine auf einen Schlag mehr als verdoppeln – für die Zivilbevölkerung und die Soldaten in den Schützengräben wäre das ein überlebenswichtiges Zeichen.

Loading...
Loading...

Marschflugkörper mit zwei Sprengköpfen schlägt in Kinderklinik ein

Inwieweit sich die von Ex-Luftwaffensprecher Jurij Ignat angesprochen möglichen technischen Veränderungen an russischen Raketen und Marschflugkörpern auf die Abfangrate auswirkt, lässt sich derzeit kaum beurteilen. Radarfallen und Täuschkörper können Flugabwehrsysteme wie Patriot, das mit Radarsuchköpfen ausgestattet ist, ebenso überlisten wie ein besonders tiefer Zielanflug. Wie effektiv die russischen Fähigkeiten dabei sind, bleibt jedoch abzuwarten.

Davon abgesehen arbeitet Russland jedoch auch daran, die Sprengkraft seiner Geschosse zu erhöhen. Der russische Hersteller MKB Raduga rüstet den in der Ukraine häufig eingesetzten Marschflugkörper Kh-101 laut einem Bericht von "The War Zone" nun auch mit einem zweiten Sprengkopf aus. Dieser soll Stahlsplitter enthalten, die zu noch mehr Zerstörungskraft und -radius führen sollen. Der erste Sprengkopf soll bei einem Angriff etwa einen Bunker brechen, während der zweite später zündet und innerhalb eines Bunkers explodiert. Ein solcher Marschflugkörper hat wohl am Montag die Okhmatdyt-Kinderklinik in Kiew getroffen.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und Reuters
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...

ShoppingAnzeigen

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...



TelekomCo2 Neutrale Website