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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Frieden in der Ukraine? Putin zeigt sein wahres Gesicht
Die Ukraine veröffentlicht erstmals die eigenen Opferzahlen des Krieges und öffnet so die Tür für Verhandlungen mit Russland. Ist das ein politisches Manöver oder eine Chance auf Frieden?
Dieses Spiel mit der Angst beherrscht Wladimir Putin ausgesprochen gut: Der Kreml zeichnet ein Bild vom Ukraine-Krieg, in dem für Russland alles nach Plan läuft. Putin zeigt sich unter bestimmten Bedingungen verhandlungsbereit, wenn jedoch westliche Staaten über mehr Unterstützung für die Ukraine debattieren, drohen seine Getreuen wie Dmitri Medwedew mit dem Einsatz von Atomwaffen. So schafft es Putin immer wieder, westliche Gesellschaften zu verunsichern und ihre Regierungen zu destabilisieren. Putin sei eben ein ehemaliger KGB-Offizier, meinen Experten.
Auch in Deutschland sind die russischen Narrative erfolgreich. Politiker etwa aus der AfD oder aus Sahra Wagenknechts neuer Partei BSW streuen gern die Thesen, die Ukraine sei nicht verhandlungsbereit und Russland könne diesen Krieg nicht verlieren. Das spielt Putin in die Karten. Die unwahren Behauptungen fallen nicht nur bei dem Teil der Gesellschaft auf fruchtbaren Boden, der dem Kreml nahesteht oder allgemein die Nato kritisch sieht. Sondern auch bei Menschen, die sich wünschen, dass das Sterben in der Ukraine endlich endet.
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Umso wichtiger ist es für die Ukraine, dass ihre Führung nun eine Gegenoffensive startet – und zwar eine politische. Ein aktueller Vorstoß des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zeigt, dass Kiew erkannt hat, dass die westliche Unterstützung bröckelt. Denn wie am Sonntag bekannt wurde, erwägt die Ukraine direkte Friedensverhandlungen mit Russland. Der Kreml wird sich nun zu möglichen Verhandlungen positionieren müssen. Oder anders: Das zwingt Putin, sein wahres Gesicht zu zeigen.
Ukraine öffnet Tür für Verhandlungen
Den ukrainischen Plänen zufolge soll in einem ersten Schritt bei einer in der Schweiz geplanten Friedenskonferenz ein Konzept von Selenskyj mit internationalen Partnern beraten werden. Dieses Konzept könnte bei einer zweiten Konferenz offiziell Russland übergeben werden. "Es könnte eine Situation entstehen, in der wir gemeinsam Vertreter der Russischen Föderation einladen. Dort wird ihnen der Plan vorgelegt", sagte der Leiter des Präsidialamtes, Andrij Jermak, im ukrainischen Fernsehen. Selenskyj bestätigte diesen Plan auf einer Pressekonferenz am Sonntag.
Dieses Vorgehen ist umso bemerkenswerter, als Selenskyj im Oktober 2022 per Dekret Verhandlungen mit Russland verbieten ließ. Der Vorstoß der ukrainischen Führung ist vor allem eine Reaktion auf die Kritik von Teilen der internationalen Gemeinschaft, dass sich die Ukraine einer friedlichen Lösung versperre. Doch das stimmte so nie.
Putin wäre zwar bereit, den Krieg zu beenden, jedoch zu seinen Bedingungen: einem Diktatfrieden, der Russland weitgehende politische Kontrolle über das Nachbarland sichert. Zwar gab es das Istanbuler Kommuniqué, die Verhandlungen zwischen russischen und ukrainischen Unterhändlern im März 2022. Doch diese Gespräche brachten in zwei essenziellen Punkten keine Einigung: bei den Sicherheitsgarantien für die Ukraine und beim Status der von Russland besetzten Gebiete. Auch heute ist keine Lösung in Sicht.
Seither behauptet die russische Führung aber, die Ukraine habe die Gespräche abgebrochen. Auch in Deutschland wird diese Erzählung, unter anderem von Sahra Wagenknecht, immer wieder aufgegriffen. In der Tat gab es auf ukrainischer Seite nach Bekanntwerden der russischen Kriegsverbrechen in Irpin und Butscha weniger Verhandlungsbereitschaft. Doch auch Putin erklärte einen Tag nach dem Istanbuler Treffen in einem Telefonat dem damaligen italienischen Regierungschef Mario Draghi, dass für ihn nicht die Zeit für eine Waffenruhe oder für ein Treffen mit Selenskyj gekommen sei. Mehr dazu lesen Sie in dieser Analyse der "Stiftung Wissenschaft und Politik".
Möchte Putin Frieden?
Es ist also fraglich, ob Putin jemals dazu bereit gewesen ist, ernsthafte Verhandlungen zu führen. Die Gespräche erreichten 2022 niemals die oberste Regierungsebene, wurden von Unterhändlern oder den beiden Außenministern geführt. Bisher deutet nichts darauf hin, dass der Kremlchef jemals von seinen Kriegszielen abgelassen hat.
Selenskyjs aktueller Vorstoß dient nun dazu, seine westlichen Unterstützer daran zu erinnern. Die Botschaft: Eine weitere Unterstützung der ukrainischen Verteidiger ist alternativlos, wenn die Ukraine den Krieg nicht verlieren soll. Denn die militärische Lage für Kiew ist derzeit äußerst ernst. Mehr dazu lesen Sie hier.
Selenskyj leitet daraus vor allem eine Kampfansage ab: Am Ende des Krieges gegen Russland kann für ihn nur ein Sieg stehen. "Wir haben keine Alternative, nicht zu gewinnen", sagte er auf der Pressekonferenz. "Denn wenn die Ukraine verliert, dann wird es uns nicht mehr geben."
Putin gerät nun unter politischen Druck. Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass er sich Verhandlungen öffnet. Warum sollte er auch? Er wähnt Russland aktuell auf der Gewinnerstraße und hofft wohl darauf, dass Donald Trump im November zum nächsten US-Präsidenten gewählt wird und die Vereinigten Staaten dann das Interesse an der Ukraine verlieren. Das würde die russische Verhandlungsposition stärken.
Lediglich Russland kann Waffenruhe anstoßen
Der Kreml reagierte bereits auf den Vorstoß aus Kiew und erklärte, dass es derzeit keine Grundlage für Friedensgespräche gebe. Russland wird auch aller Voraussicht nach nicht an der internationalen Friedenskonferenz in der Schweiz teilnehmen. "Im Moment sieht es so aus, als würde Russland nicht an einer ersten Runde der Konferenz teilnehmen", sagte die Schweizer Präsidentin Viola Amherd der "Neuen Zürcher Zeitung". Derzeit organisiert die Schweiz die Konferenz, die spätestens im Sommer stattfinden soll.
Selenskyj sieht direkte Gespräche mit Putin ohnehin kritisch. "Kann man mit einem Tauben reden?", fragte er. "Kann man mit jemandem reden, der seine Gegner tötet?" Das Misstrauen ist verständlich. Noch wenige Tage vor Beginn des russischen Angriffskrieges am 24. Februar 2022 hatte der russische Präsident erklärt, die Ukraine nicht angreifen zu wollen. Russland könnte zudem jederzeit als vertrauensbildende Maßnahme eine Waffenruhe ausrufen, um so Verhandlungen auf den Weg zu bringen. Wenn westliche Länder hingegen Waffenlieferungen einstellen – so wie einige Politiker das auch in Deutschland es fordern –, stünde die Existenz der Ukraine auf dem Spiel.
In Anbetracht dieser Lage geht es für Kiew also darum, die Kampfmoral hochzuhalten. Selenskyj gestand am Sonntag den Misserfolg der Herbstoffensive seiner Streitkräfte ein. Diese war unter anderem an einer tief gestaffelten russischen Abwehr und Minenfeldern zerschellt. Und Selenskyj nennt noch einen anderen Grund: "Ich kann es offen zugeben – unsere Gegenoffensive lag schon auf dem Tisch im Kreml, noch ehe sie begann." Daher wolle er auch nicht weiter über die nächsten Pläne reden. "Je weniger Leute davon wissen, desto schneller kommen der Erfolg und unerwartete Ergebnisse für die Russen."
Die ukrainische Führung signalisiert so dem Westen, dass es einen Plan für weitere Gegenoffensiven gibt, dafür aber weitere Unterstützung aus dem Westen nötig ist. Allerdings halten Militärexperten Gegenoffensiven zumindest für das Jahr 2024 für unwahrscheinlich, der Munitionsmangel der ukrainischen Truppen ist derzeit gravierend. In diesem Jahr werde es für die Ukraine um die strategische Verteidigung gehen, bestätigte auch der ehemalige Armeechef Walerij Saluschnyi, bevor Selenskyj ihn entließ.
Offenlegung der Opferzahlen als Strategie
Trotzdem hat die Ukraine noch immer die Möglichkeit, den Krieg zu gewinnen – wenn ihre westlichen Unterstützer einen längeren Atem haben als Russland. In diesem Jahr wird es für Kiew aber eher darum gehen, politische Angriffsflächen auszunutzen. Und es gibt diese Angriffsfläche, zum Beispiel bei den Opferzahlen dieses Krieges.
So gibt der Kreml in sowjetischer Tradition keine eigenen Opferzahlen an. Der ukrainische Präsident erklärte am Sonntag recht überraschend, dass bisher 31.000 ukrainische Soldaten gefallen seien. Die Verluste des russischen Militärs bezifferte er dagegen mit 180.000 Toten und 500.000 Verwundeten. Ob die Zahlen stimmen, ist zweifelhaft. Beide Seiten haben die Opferzahlen bislang streng geheim gehalten, um die eigene Kriegsmoral nicht zu schwächen.
Trotzdem zeigte der ukrainische Vorstoß bereits Wirkung. In einer ersten Reaktion aus Moskau wurde Selenskyj der Lüge bezichtigt. "Dass Selenskyj lügt, erkennt jeder Ukrainer, allen voran die Soldaten", zitierte die Staatsagentur Tass die Sprecherin des russischen Außenamtes, Maria Sacharowa. Die ukrainischen Behörden blieben bemüht, die wahren Verlustzahlen zu verbergen. Zu den genannten russischen Verlusten äußerte sie sich nicht.
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In jedem Fall ist es aber nicht in Putins innenpolitischem Interesse, angebliche russische Opferzahlen zu kommentieren – besonders weniger als drei Wochen vor der Präsidentschaftswahl in Russland.
- foreignaffairs.com: "A War Putin Still Can’t Win" (englisch)
- Nachrichtenagenturen dpa und rtr