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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Krieg in der Ukraine Putin hält den Atem an
Auch zwei Jahre nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine hat Wladimir Putin seine Kriegsziele nicht erreicht. Doch die Lage für die ukrainischen Verteidiger wird immer schlechter. Gewinnt Russland den Krieg?
Das Sterben in der Ukraine geht auch zwei Jahre nach Beginn des russischen Angriffskrieges weiter. Auch in diesem Winter terrorisiert Russland erneut ukrainische Städte mit Drohnen- und Raketenangriffen. Sie sind wieder trauriger Alltag, die Bilder von brennenden Gebäuden, von der ukrainischen Feuerwehr und von Zivilisten, die Angehörige bei den Angriffen verloren haben. Ein Ende dieses Krieges ist jedoch noch lange nicht in Sicht.
An den Fronten hat die russische Armee in diesem Winter die Initiative zurückgewonnen, ist wieder in der Offensive. Das bedeutet jedoch nicht, dass Russland aktuell auf einem Siegeszug ist. Im Gegenteil: Es gibt an der Front keine Durchbrüche, um jeden Kilometer Land wird erbittert gekämpft. Zwar musste die Ukraine die Kleinstadt Awdijiwka im Südosten des Landes aufgeben und dieser symbolischer Erfolg wird vor allem in der russischen Propaganda gefeiert; aber für die Eroberung einer strategisch eher unwichtigen Stadt musste Russland über Monate viele Soldaten und viel Material opfern – um ein Vielfaches mehr als die Ukraine.
Dieser Krieg hat bislang vor allem eines gezeigt: Wladimir Putin schaut nicht auf Menschenleben. Er hat zu Beginn der Auseinandersetzung tief Luft geholt und wettet nun darauf, dass er einen längeren Atem als die Ukraine und ihre westlichen Unterstützer hat. Der Kreml hat sich mittlerweile auf einen auf Abnutzung ausgerichteten Stellungskrieg eingestellt. Und der Westen?
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Es wird ein schwieriges Jahr für die Ukraine
Dieses Abnutzungsszenario, das viele Militärexperten schon seit über einem Jahr befürchtet haben, ist an den Fronten in der Ukraine Realität geworden. Keine Seite ist momentan in der Lage, große Geländegewinne zu erzielen. Auch, weil die ukrainische und die russische Armee jeweils Verteidigungslinien errichtet haben. Bei einer Offensive müssen sich Angreifer also zunächst einmal durch Todeszonen mit Bunkern, Stacheldraht und Minenfeldern schlagen. Das gelingt momentan weder Russland noch der Ukraine.
Trotzdem ist der Ukraine-Krieg nicht festgefahren. Es wird am Ende wahrscheinlich die Seite triumphieren, die längerfristig mehr Soldaten und mehr Material bereitstellen kann. Und eben an der Materialfront sieht es für die ukrainische Armee aktuell düster aus.
Ukrainische Soldaten berichten in westlichen Medien, dass sie in Schützengräben kauern und das russische Feuer nicht mehr erwidern können. Große Engpässe gibt es vor allem bei der Artilleriemunition. Die Ukraine ist dabei auf westliche Unterstützung angewiesen, denn in dem Land ist es – unter russischem Beschuss – unheimlich schwierig, eigene Rüstungsgüter zu produzieren. In dem Bereich gibt es vor allem zwei Probleme: Einerseits konnte die Europäische Union ihr Versprechen, der Ukraine eine Million Geschosse zu liefern, nicht einhalten. Andererseits blockieren die Republikaner US-Hilfspakete.
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Beides hat fatale Folgen für den Krieg. Europäische Länder wie Deutschland haben erst spät begonnen, ihre Produktionskapazitäten zu erweitern. Andere Länder wie Frankreich tun – gemessen an ihrer wirtschaftlichen und militärischen Stärke – immer noch viel zu wenig. Auch deswegen wird 2024 ein hartes Jahr für die Ukraine. Experten rechnen erst für den nächsten Winter damit, dass die Ukraine mehr Artilleriemunition erhalten kann. Das ist natürlich eine Chance für Putin, weitere Geländegewinne zu erzielen.
Putin hat sich verrechnet
Der ehemalige Oberkommandierende der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, warnte in einem Essay für das britische Magazin "Economist" vor einer "Pattsituation". Laut dem General muss sich in diesem Jahr die Ukraine darauf einstellen, strategisch in der Defensive zu sein und ihre Stellungen zu verteidigen. Diese Analyse deckt sich mit der vieler Militäranalysten, die davon ausgehen, dass ukrainische Offensiven erst wieder im Jahr 2025 möglich sind.
Doch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj verfolgt die Strategie, mit der Aussicht auf weitere militärische Erfolge die Widerstandskraft im Land aufrechtzuerhalten und im Ausland für mehr Unterstützung zu werben. Seine Botschaft: Wir zeigen euch, dass die Ukraine gewinnen kann.
Diese Strategie ist jedoch dann risikoreich, wenn sie nicht aufgeht. Im Jahr 2023 brachte die ukrainische Gegenoffensive nicht den erhofften Erfolg, nun ist Russland in der Offensive und Putins Propaganda hat Oberwasser, obwohl er eigentlich bisher nicht wirklich etwas gewonnen hat.
Putin rechnete mit einem kurzen Krieg. Seine Soldaten fuhren am 24. Februar 2022 teilweise mit wenig gepanzerten Fahrzeugen in die Ukraine und hatten bereits ihre Paradeuniformen für die Siegesfeier im Gepäck. Eine Fehlkalkulation des Kremls, in dem Krieg starben bereits Hunderttausende russische Soldaten. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) erinnerte auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar: "Putin hat keines seiner Kriegsziele erreicht."
"Natürlich kann die Ukraine gewinnen"
In westlichen Gesellschaften machen sich dennoch zunehmend Pessimismus und Hoffnungslosigkeit breit, für den Verteidigungskampf der Ukraine ist das ein Problem. Seit der erfolglosen ukrainischen Gegenoffensive im vergangenen Jahr ist es vor allem der Propagandakrieg, den Kiew im Westen zunehmend verliert. Russland profitiert dabei von einem Narrativ: Das Land könne durch seine Bevölkerungszahl und seine rüstungsindustrieellen Möglichkeiten ohnehin nicht verlieren.
Aber das stimmt nicht. Der Militärexperte Carlo Masala sagte im Interview mit t-online: "Natürlich kann die Ukraine diesen Abnutzungskrieg gewinnen." Laut dem Professor für internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München braucht sie dafür vor allem mehr westliche Waffenlieferungen. "Die Ukraine braucht Munition, Ersatzteile und Artilleriesysteme. Das können und sollten wir liefern", sagte Masala. "Natürlich lässt sich nicht ausschließen, dass die Ukraine taktische Fehler macht – selbst wenn sie alles an Material haben sollte, was sie braucht. Wir im Westen können aber die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass die Ukraine militärisch erfolgreich ist."
Putin setzt auf Kriegsmüdigkeit im Westen und letztlich auch darauf, dass die USA durch die Wahl von Donald Trump zum nächsten Präsidenten im kommenden November das Interesse an die Ukraine verlieren. Bisher scheint dieser Plan aufzugehen, denn schon jetzt ist die Angst vor der Niederlage groß. Ohne Grund: Denn eigentlich verfügt der kollektive Westen über vielmehr wirtschaftliche Möglichkeiten als Russland, das lediglich vom Iran oder von Nordkorea mit Rüstungsgütern unterstützt wird. Der Westen schwächt sich also selbst mit seiner Zögerlichkeit.
Neben der Ausrüstungsfrage müsste aber auch die Ukraine innenpolitische Probleme lösen. Neben dem Mangel an Ausrüstung und Munition könnten der ukrainischen Armee auch irgendwann die Soldaten ausgehen. "Die Ukraine muss vor allem ihre Mobilisierungsfrage klären", meinte Masala. Saluschnyj habe 500.000 Mann gefordert, als er noch im Amt war. "Selenskyj scheut sich aber davor, die nötige Mobilisierungswelle einzuberufen. Woran das liegt, ist nicht ganz klar. Vermutlich hat das mit der Stimmung innerhalb der Ukraine zu tun."
Die Möglichkeit eines Sieges ist also noch immer da, die Ukraine hat noch nicht verloren. Im dritten Kriegsjahr wird es Kiew vor allem darum gehen, an der politischen Front im Ausland wieder in die Offensive zu kommen. Für Selenskyj wird es ein Kampf gegen westlichen Pessimismus und gegen Putin, der in diesem Jahr vermehrt auf die internationale Bühne zurückkehren und sich dabei siegessicher geben wird – etwa beim G20-Gipfel in Brasilien im November. Das wird wahrscheinlich erneut die Unterstützung der Ukraine auf die Probe stellen.