Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Streit in der Ukraine? Plötzlich geht es um Selenskyjs Macht
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj soll Gerüchten zufolge erfolglos versucht haben, seinen beliebten Befehlshaber Walerij Saluschnyj zu entlassen. Tobt in der Ukraine ein Machtkampf im Schatten des Krieges?
Die Lage für die Ukraine ist ernst. Die russische Armee erhöht die Intensität ihrer Angriffe, immer wieder schlagen Raketen und Kamikaze-Drohnen in ukrainischen Städten ein. Bislang kommt Russland aber auch in diesem Kriegswinter eher langsam voran, während die ukrainischen Verteidiger meist erfolgreich ihre Stellungen halten. Doch wie lange noch? Fakt ist: Für die Abwehr der russischen Invasion braucht die Ukraine mehr militärische Unterstützung aus dem Westen.
In dieser Situation kommt interner Streit innerhalb der ukrainischen Führung zur Unzeit für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und seine Regierung. Trotzdem scheint sich ein Konflikt immer weiter zuzuspitzen: Selenskyj soll versucht haben, den in der ukrainischen Bevölkerung äußerst beliebten Generalstabschef Walerij Saluschnyj zu entlassen. Auf Druck der USA und Großbritanniens sowie hochrangiger Militärs habe Selenskyj diese Entscheidung rückgängig machen müssen, berichtete die "Times". Mehr dazu lesen Sie hier.
Andere Medien berichten noch genauer: Der "Guardian" meldete unter Berufung auf Oppositionsabgeordnete, der Präsident habe Saluschnyj am Montag zum Rücktritt aufgefordert, was dieser jedoch abgelehnt habe. Auch die "New York Times" berichtete über Selenskyjs Plan, Saluschnyj zu feuern. Seither brodelt die Gerüchteküche.
Nun geht es plötzlich um Selenskyjs Macht, denn Saluschnyj wurden in der jüngeren Vergangenheit Ambitionen auf das Präsidentenamt nachgesagt. Der aufkochende innenpolitische Konflikt im Land zeigt, dass der ukrainische Präsident nicht unumstritten ist. Es tobt ein Machtkampf und dieser ist zum jetzigen Zeitpunkt eine schlechte Nachricht für die Ukraine – und eine gute für Wladimir Putin.
Saluschnyj ist beliebter als der Präsident
Lange Zeit präsentierten sich Selenskyj und Generalstabschef Saluschnyj als Einheit. Die Botschaft: In Kriegszeiten stehen Politik und Militär Seite an Seite.
Doch seit einiger Zeit kriselt es im Verhältnis der beiden. Ein Grund dafür war zunächst die gescheiterte ukrainische Gegenoffensive im Jahr 2023. Der 50-jährige Saluschnyj wurde wenige Monate vor dem russischen Einmarsch im Februar 2022 Oberbefehlshaber der Armee. Unter seinem Kommando hielten die ukrainischen Truppen der Invasion stand und eroberten sogar besetzte Gebiete zurück. Auch deshalb gilt der General als beliebt bei seinen Soldaten und in der Bevölkerung. Bisher dementierte er politische Ambitionen aber immer.
Selenskyj, der nach Beginn des russischen Angriffskrieges im Februar 2022 national und international zum Symbol des Freiheitskampfes wurde, ist mittlerweile auch in der Ukraine nicht mehr unumstritten. Obwohl er keiner Partei angehört und sich nur selten in den Medien zeigt, gewinnt Saluschnyj dagegen immer mehr an Zuspruch. Käme es zu einer Stichwahl zwischen ihm und Selenskyj, so das Ergebnis einer Umfrage aus dem Dezember 2023, läge er vorne.
Ein weiterer zentraler Grund für den aktuellen Streit ist die Kommunikationsstrategie des Generals. Saluschnyj schrieb im Dezember in der britischen Zeitung "The Economist", dass sich der Krieg in einer Pattsituation befindet. Daraufhin rügte ihn Selenskyj öffentlich. Zuvor hatte der ukrainische Präsident erklärt, dass sein Land täglich neue Erfolge brauche. Ein Widerspruch zu den Ausführungen seines Generals.
Streit zwischen der militärischen und politischen Führung
"Selenskyj scheint Saluschnyj politisch als Konkurrenten wahrzunehmen. Zumindest kommuniziert der Generalstabschef für den ukrainischen Präsidenten zu öffentlich", sagt Andreas Umland, Analyst am Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien, t-online. "In der Tat ist Saluschnyjs Kommunikationsstrategie ungewöhnlich für einen Generalstabschef, der eigentlich eine ausführende Funktion hat."
Doch überraschend ist der Konflikt für Umland, der seit 20 Jahren in der Ukraine ist, dennoch nicht. "Seit Beginn des russischen Angriffskrieges im Jahr 2022 kommt es immer wieder zum Streit zwischen der politischen und militärischen Führung. Aber das wird gewöhnlich nicht in der Öffentlichkeit diskutiert", erklärt der Ukraine-Experte. "Es ist fraglos, dass es Spannungen zwischen Selenskyj und seinem Generalstab gibt. Doch auch innerhalb des Generalstabs gibt es Konflikte und nicht alle sind mit Saluschnyj zufrieden."
Das sei allerdings keine Überraschung. "Die Ukraine hat in diesem Krieg begrenzte finanzielle und militärische Ressourcen und es gibt Streit darüber, wie man diese am effektivsten einsetzt. Außerdem hatte die ukrainische Gegenoffensive im vergangenen Jahr nicht den erhofften Erfolg."
Harte Entscheidungen im Ukraine-Krieg
Klar: Die ukrainische Führung muss in diesem Krieg harte Entscheidungen treffen. Frontabschnitte müssen auf Kosten anderer gestärkt werden. Manchmal geht es darum, Städte aufzugeben, oder Entscheidungen zu treffen, wohin finanzielle Mittel fließen. Dass es in einer Kriegssituation dabei unterschiedliche Meinungen – auch zwischen der politischen und militärischen Führung – gibt, überrascht wenig. Trotzdem ist es für das Land kontraproduktiv, dass diese Konflikte Schlagzeilen machen.
Mit seinem Gastbeitrag wollte Saluschnyj eine realistische Einschätzung über die Kriegssituation wiedergeben, auch um für weitere und andere Unterstützung des Westens zu werben. Problem nur: "Das war offenbar nicht mit Selenskyj abgesprochen", sagt Umland. Derlei Konflikte seien im Land auch in Friedenszeiten "häufig". "Es steht aber aktuell nicht fest, ob Selenskyj wirklich Saluschnyj absetzen wollte. Ich wäre da auch sehr vorsichtig. Die Informationen könnten auch vom Oppositionslager gestreut und aufgebauscht worden sein."
Der Verdacht des Experten kommt nicht von ungefähr. Während Selenskyj eher in der Mitte des ukrainischen Parteienspektrums steht, kommt die Kritik zunehmend vor allem aus dem Lager der rechts-konservativen Partei Europäische Solidarität um den früheren Präsidenten Petro Poroschenko. Der Block um Poroschenko steht für eine kompromisslose Haltung gegenüber Russland, für eine stärkere Bindung an die Europäische Union und er unterstützt General Saluschnyj.
Ärger mit Klitschko stärkt Putins Narrative
Vor diesem Hintergrund sind auch die Äußerungen von Kiews Bürgermeister in deutschen Medien zu sehen. Der frühere Boxweltmeister hatte in einem Interview mit der ARD am Mittwoch Selenskyj erneut scharf kritisiert und vor einer "gefährlichen Tendenz" zum Autoritarismus gewarnt. "Wir verlieren unsere demokratischen Werte", warnte Klitschko. Hintergrund: Die Regierung hat in Städten wie Kiew oder Riwne eine Militäradministration eingesetzt – trotz großer Entfernung zur Front. Klitschko weiter: "Wir müssen demokratisch bleiben." Sonst sei der Unterschied zwischen der Ukraine und Russland "nicht mehr groß".
Die Attacken haben eine ungewöhnliche Schärfe. Und dazu hielt Klitschko ein Bild von Saluschnyj in die Kamera, welches in seinem Büro hängt. Experte Umland sieht dahinter eine politische Motivation Klitschkos, die ukrainische Demokratie sieht er nicht in Gefahr. "Klitschko steht politisch dem Lager der Oppositionspartei Europäische Solidarität nah", meint Umland. "Was Klitschko in deutschen Medien treibt, halte ich für ungerechtfertigt. Das ist für das Image der Ukraine im Ausland nicht gut.“
Vor allem dürfte ausgerechnet Wladimir Putin von den innenpolitischen Grabenkämpfen in der Ukraine profitieren, da die ukrainische Führung eigentlich mit vereinten Kräften darum ringen müsste, mehr westliche Unterstützung zu bekommen.
Nun ist Selenskyjs Machtbasis in der Ukraine durch die Gerüchte um einen Konflikt mit Saluschnyj geschwächt. Außerdem stärken Klitschkos Äußerungen das russische Narrativ, dass die Ukraine autoritär regiert wird. Der Streit ist für die Ukraine auch deswegen ärgerlich, weil Selenskyj und Saluschnyj das gleiche politische Ziel haben, so wie ein Großteil der ukrainischen Bevölkerung. Umland dazu: "Es gibt laut Umfragen innerhalb der ukrainischen Bevölkerung noch immer eine große Mehrheit, jegliche Zugeständnisse gegenüber Russland abzulehnen."
- tagesschau.de: "Wir müssen demokratisch bleiben"