Experte warnt vor Russland "Das wäre ein katastrophaler Fehler"
Der Militärexperte Carlo Masala sieht gute Chancen für einen entscheidenden Erfolg der Ukraine. Eine Sache bereitet ihm allerdings große Sorgen.
In den vergangenen Tagen sind die ukrainischen Truppen nach Angaben unabhängiger Beobachter offenbar weiter bei ihren Bemühungen vorangekommen, die von Russland völkerrechtswidrig besetzten Gebiete im Süden des Landes zu befreien. Laut der US-Denkfabrik "Institute for the Study of War" (ISW) konnten die Soldaten Kiews vor allem in der Oblast Saporischschja und im Süden der Stadt Bachmut Geländegewinne erzielen. Auch um die Stadt Robotyne rückten die Ukrainer offenbar weiter vor.
Die Anfang Juni gestartete Gegenoffensive zeitigt für die Ukraine allmählich positive Ergebnisse, wenngleich die ukrainische Armee nicht so schnell vorankommt, wie sie sich das vorgestellt hatte. Immer noch stößt sie auf erbitterten Widerstand der russischen Besatzer, weshalb sich viele westliche Beobachter inzwischen fragen, ob dieser Krieg nicht in einen lange anhaltenden Stellungskrieg übergehen könnte.
"Dann haben die Russen die Möglichkeit, sich wieder einzugraben"
Militärexperte Carlo Masala teilt diesen Pessimismus nicht unbedingt. Laut seiner Einschätzung habe die Ukraine eine gute Chance, die russischen Verteidigungslinien bis zum Ende des Jahres entscheidend zu durchbrechen. "Ja, das ist realistisch", sagte Masala den Zeitungen der Funke-Mediengruppe auf die Frage, ob er die Einschätzung des US-Militärgeheimdienstes Defense Intelligence Agency teile, wonach die Ukraine eine Chance von 40 bis 50 Prozent habe, die verbliebenen russischen Abwehrlinien zu überwinden.
Der Münchner Professor macht den Erfolg der Gegenoffensive allerdings von mehreren Faktoren abhängig: "Wie reagieren die Russen? Haben sie noch genug Reserven? Werden die Ukrainer die relativ kluge Operationsführung beim Durchbruch durch die ersten beiden Verteidigungslinien fortsetzen? Und: Können sie ihre Verluste minimieren?" Entscheidend sei, dass die ukrainischen Streitkräfte die russischen Verbände in Bewegung halten können. "Wenn ihnen das nicht gelingt, haben die Russen die Möglichkeit, sich wieder einzugraben."
Kritik wird jedoch immer wieder vonseiten der ukrainischen Regierung an den ihrer Meinung nach zögerlichen Waffenlieferungen der westlichen Verbündeten laut. So fehle es dem Land vor allem an Munition, Ersatzteilen und Artilleriesystemen, das hatte jüngst auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wieder bemängelt.
Masala stimmt der Kritik nur bedingt zu: "Dahinter würde ich ein Fragezeichen setzen. Bestimmte Waffen kann die Ukraine nicht ausreichend aus dem Westen bekommen, weil sie nicht vorhanden sind." So wünsche sich die Ukraine 500 bis 600 Kampfpanzer. "Die kann der Westen in modernen Systemen nicht liefern, weil er sie nicht zur Verfügung hat. Das gilt zum Beispiel für die Leopard-Panzer vom Typ 2A4 der Bundeswehr."
"Das ist viel zu spät erfolgt"
Bei der Verschickung von Munition habe Selenskyj jedoch recht. "Der Westen fängt erst jetzt an, die Munitionsproduktion richtig hochzufahren. Das ist viel zu spät erfolgt. Und das trifft auch auf die Luftverteidigung im Nahbereich zu. Eines der großen Probleme der ukrainischen Gegenoffensive bestand in der punktuellen Luftüberlegenheit der Russen mit Blick auf die eigenen mechanisierten Verbände."
Dass die Verbündeten nun westliche Kampfflugzeuge des Typs F16 lieferten, könnte dazu beitragen, die Verluste der Ukrainer zu minimieren, so Masala. "Darüber hinaus könnten die Ukrainer dann noch stärker mit mechanisierten Verbänden vorgehen, weil diese aus der Luft geschützt werden könnten."
Masala warnt davor, Putins Forderungen nachzugeben
Bislang mussten die Ukrainer bei ihrer Gegenoffensive ohne diese für eine Gegenoffensive eigentlich unerlässliche Luftunterstützung auskommen, weshalb ihre Truppen immer wieder von heftigem russischem Artilleriefeuer und Kampfhubschraubern aufgerieben wurden. Zahlreiche westliche Waffensysteme, darunter wertvolle Panzer, wurden dabei zerstört. Aber auch viele Soldaten ließen ihr Leben.
Masala kritisierte zudem angebliche Pläne der Vereinten Nationen (UN), die Regierung in Moskau durch eine Lockerung der westlichen Sanktionen zur Rückkehr zum Getreideabkommen zu bewegen. UN-Generalsekretär António Guterres hatte kürzlich einen Brief an den russischen Außenminister Sergej Lawrow gesandt und darin weitreichende Konzessionen angekündigt. Demnach wolle man eine Tochter der russischen Bank für Landwirtschaft wieder in das Swift-Abkommen aufnehmen. Die Bank befindet sich in Staatshand und wäre damit wieder an das internationale Finanzsystem angeschlossen.
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"Das wäre ein katastrophaler Fehler", erklärte Masala. "Damit würde sich Russland mit einer seiner zentralen Forderungen durchsetzen." Weiter warnte er: "Das käme einem Dammbruch gleich mit Blick auf die Bemühungen, afrikanische Staaten davon zu überzeugen, dass Russland der Aggressor ist. Die Hungersnot in diesen Ländern wird nur durch Moskau verursacht. Ginge der UN-Vorschlag durch, stünde Russland als Retter da."
Bislang weigert Russland sich, das Getreideabkommen mit der Ukraine wieder aufzunehmen. Auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte dem Kreml bereits weitreichendes Entgegenkommen bei seinen Forderungen angeboten. Doch Putin lehnte bei einem Treffen mit Erdoğan in Sotschi die Wiederaufnahme ab, weil der Diktator offenbar darauf hofft, vom Westen noch mehr Zugeständnisse erpressen zu können.
- understandingwar.org. "RUSSIAN OFFENSIVE CAMPAIGN ASSESSMENT, SEPTEMBER 9, 2023" (englisch)
- theguardian.com: "Putin says no grain deal until west meets obligations; Kyiv reports advances in east and south – as it happened" (englisch)
- abc.net.au: "Russia destroys 13,000 tonnes of Ukrainian grain destined for Egypt and Romania" (englisch)
- Mit Material der Nachrichtenagentur Reuters