Zerstörte Fabrik bei Moskau Der Bomber, der unbemerkt in Nato-Gebiet fliegen sollte
Nach einem mutmaßlichen Drohnenangriff der Ukraine auf eine Fabrik bei Moskau werden nun weitere Informationen bekannt: Der Kreml ließ dort wohl einen hochmodernen Bomber entwickeln.
Während russische Behörden und Medien von menschlichem Versagen berichten, verdichten sich die Hinweise auf einen gezielten Anschlag auf die Fabrik nahe Moskau: Die Industrieanlage, die am Mittwoch in der Stadt Sergijew Possad explodiert ist, sollte wohl wichtiges russisches Militärgerät herstellen – einen Langstreckenbomber mit Tarnkappenfunktion, der "unbemerkt" in Nato-Luftraum eindringen sollte.
Nach offiziellen Angaben Russlands ereignete sich die Explosion in einem Lager des Pyrotechnikherstellers Piro-Ross, das sich auf dem Gelände des Rüstungsbetriebs Sagorsker Optisch-Mechanische Werk befunden habe. Dies hatte auch der Gouverneur des Moskauer Gebiets, Andrej Worobjew, betont und den Vorfall als geringfügig abgetan. Tatsächlich könnte der Vorfall jedoch weitreichende Folgen für den Kreml haben.
Bomber statt Pyrotechnik
Statt an Pyrotechnik für militärische Zwecke könnte in der Fabrik an einer neuen Angriffswaffe gearbeitet worden sein. Bereits seit 2019 soll das Werk an der Entwicklung des russischen Tarnkappenbombers "Envoy" des Flugzeugherstellers Tupolew beteiligt sein. Das berichtet das unabhängige und international ausgezeichnete Investigativmedium "Proekt", zu Deutsch "Projekt". Die Plattform beruft sich auf Angaben, die auf der Webseite des staatlichen Beschaffungswesens frei zugänglich sind.
Zwar seien staatliche Verträge des Rüstungswerks nicht mehr einsehbar, wenn sie nach Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine geschlossen wurden – für ältere Verträge gelte das jedoch nicht. So fanden die Journalisten online wohl eine Vereinbarung aus dem Jahr 2019 zur "Erfüllung eines Teils der Entwicklungsarbeiten zum Thema Code: 'Envoy-1OEP/L'".
Der Auftrag habe eine Laufzeit bis 2027 und belaufe sich auf einen Gesamtwert von umgerechnet rund 6,5 Millionen Euro. Hinter dem Codewort verbirgt sich laut "Proekt" die neueste Generation russischer Tarnkappenflugzeuge.
Gebaut, um Nato-Abwehr zu überwinden
Flugzeuge von diesem Typ nutzen die sogenannte Tarnkappentechnik: Eine besondere, dreieckige Form und Oberflächenstruktur erschwert gegnerischen Radarsystemen die Lokalisierung. Tauchen die Bomber auf, ist die Distanz zu ihrem Ziel in der Regel so kurz, dass es für eine Flugabwehr gegebenenfalls bereits zu spät sein kann.
Russlands staatliche russische Nachrichtenagentur RIA Novosti zitierte in der Vergangenheit bereits einen Insider aus der Verteidigungsindustrie zum möglichen Einsatz des "Envoy": Demzufolge werde der neue Tarnkappenbomber in der Lage sein, auch die ausgeklügelte Luftverteidigung der NATO-Staaten unentdeckt zu überwinden.
Schon 2019, als das Rüstungswerk in Sergijew Possad den entsprechenden Auftrag erhalten haben soll, versprach der damalige Vize-Verteidigungsminister Alexej Kriworutschko die zügige Fertigstellung der Flieger. Bis 2027 solle der "Envoy" in Dienst gestellt werden und wegen seines großen Arsenals an Präzisionswaffen dann alle anderen militärischen Langstreckenflugzeuge wie die Tu-22, die Tu-95 und die Tu-160 ersetzen.
Zu den Waffen, die der "Envoy" – zu Deutsch "Botschafter" – transportieren soll, gehören unter anderem Marschflugkörper, Hochpräzisionsbomben und Hyperschallraketen. Diese erreichen eine Geschwindigkeit von mehr als 24.000 Kilometern pro Stunde.
Die schweren Schäden, die die Fabrikgebäude wohl von der Explosion am Mittwoch getragen haben, könnten die mutmaßlichen Entwicklungsarbeiten an dem Bombermodell empfindlich beeinträchtigen. Der Auswertung von "Proekt" zufolge hätte der Vertrag noch bis 2027 laufen sollen – dem vorgesehenen Einführungsdatum des Modells.
Offenbar auch Entwicklung Militärgerät
Die Investigativjournalisten entdeckten online außerdem zwei weitere Verträge zwischen dem Verteidigungsministerium und dem getroffenen Rüstungswerk. Diese erstreckten sich auf die Lieferung von Ferngläsern und Strahlenmessgeräten an die russische Nationalgarde Rosguardia. Zudem habe das Unternehmen 2019 mehrere Strahlenwarnstationen an ein staatliches Forschungsinstitut geliefert, die zum Einbau in Militärhubschraubern und -flugzeugen dienen.
Auch diese Informationen der offiziellen Beschaffungswebseite Russlands widerlegen, was Gouverneur Andrej Worobjow nach der Explosion des Fabrikgebäudes unterstrichen hatte. Ihm zufolge sei das Werksgelände fast ausschließlich zur Produktion von Pyrotechnik genutzt worden. "Das Werk hat schon seit Langem nichts mehr mit Optik und Mechanik zu tun", so Worobjow.
Mögliche ukrainische Beteiligung?
Kiew hat sich bislang nicht zu dem Vorfall geäußert. Dass sensible militärische Informationen Russlands, wie der Produktionsstandort von neuestem Militärgerät, jedoch anscheinend frei im Internet zugänglich sind, könnte auf eine ukrainische Beteiligung an der Explosion hinweisen. Zuletzt waren zunehmend häufig Drohnen in den Luftraum von Moskau und der umliegenden Region gelangt. Dort hatten sie teils mittlere Schäden an Gebäuden angerichtet.
Ob die Fabrikexplosion in Sergijew Possad die Einführung des "Envoy" im Jahr 2027 beeinträchtigen könnte, ist unklar. Auf Fotos und Videos war zu erkennen, wie am Mittwochvormittag eine große Rauchsäule über der Stadt aufgestiegen war. Am Abend hatte die Stadtverwaltung den Katastrophenfall ausgerufen.
Bei der Explosion in der beliebten Pilger- und Touristenstadt im Moskauer Speckgürtel waren nach offiziellen Angaben 56 Menschen teils schwer verletzt worden, acht Personen wurden demnach zuletzt noch vermisst. Staatliche Medien räumen bislang den Tod einer Angestellten ein, doch regimekritische Berichte sprechen von mehreren Toten.
- agents.media: "Взорванный в Подмосковье завод участвовал в разработке "стелс"-бомбардировщика нового поколения"
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa