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Schlag gegen Putins Truppen: So stimmt die Ukraine-Erzählung nicht


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Experten über ukrainische Offensive
Eine unangenehme Wahrheit


Aktualisiert am 28.07.2023Lesedauer: 5 Min.
Ukrainische Soldaten bei einem Mörserangriff auf feindliche Stellungen in der Nähe der Stadt Bachmut.Vergrößern des Bildes
Ukrainische Soldaten bei einem Mörserangriff auf feindliche Stellungen in der Nähe der Stadt Bachmut. (Quelle: REUTERS/Sofiia Gatilova)

Die laufende Gegenoffensive zeigt die Schwächen der ukrainischen Armee. Wie gravierend diese wirklich sein könnten, deckt nun der Bericht einer Expertengruppe auf.

Die ukrainische Gegenoffensive ist jetzt seit mehr als einem Monat in Gang. Bislang sind die Erfolge bescheiden, zumindest, wenn man die Offensivbemühungen nach Gebietsgewinnen bemisst. So konnten die Soldaten Kiews in den Wochen seit dem 4. Juni rund 253 Quadratkilometer ukrainischen Bodens zurückerobern. Das ist zwar in etwa so viel, wie die Armee Wladimir Putins in den vergangenen sechs Monaten im Nachbarland einnehmen konnte. Was nach viel klingt, erscheint aber im Vergleich zu den schnellen Rückeroberungen, die der Ukraine bei ihrer Überraschungsoffensive im September 2022 gelangen (rund 3.000 Quadratkilometer in nur sechs Tagen), dennoch enttäuschend.

Zumal sie einen hohen Blutzoll fordern. Jeden Tag sterben bei den Versuchen der Ukraine, die russischen Verteidigungslinien zu durchbrechen, etliche Soldaten.

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Manche westliche Militärexperten sprechen schon von einem Scheitern der Offensive. Auch die Ukraine selbst hat mehrfach zu verstehen gegeben, dass der Kampf gegen die russischen Besatzer zäh und schleppend verläuft. Ist die Kampagne deshalb ein Fehlschlag? Nein, sagt Mark Milley. Der Generalstabschef der US-Streitkräfte betonte am Dienstag im Pentagon, dass die ukrainische Gegenoffensive alles andere als ein Misserfolg sei.

"Ich denke, es gibt noch viel zu kämpfen, und ich bleibe bei dem, was wir zuvor gesagt haben: Es wird lang, es wird hart, es wird blutig", sagte Milley. Als größtes Hindernis bei den Durchbruchsversuchen der Ukrainer nannte Milley die schwer befestigten Verteidigungslinien der Russen in den besetzten Gebieten. "Die Verluste, die die Ukrainer bei dieser Offensive erleiden, gehen nicht so sehr auf die Stärke der russischen Luftwaffe zurück, sondern auf Minenfelder", sagte er.

Das Problem der Minenfelder ist inzwischen von Militärexperten hinreichend beschrieben worden. So hatte Russland in den ersten Monaten des Jahres viel Zeit, die Wehranlagen in den besetzten Gebieten auszubauen. An vielen Abschnitten der rund 1.000 Kilometer langen Front treffen die ukrainischen Truppen nun auf dreireihige Festungsbauten aus Panzerabwehrgräben, Schützengräben und Betonanlagen. Diesen vorgelagert sind oft weitläufige Minenfelder. Schon dort kommen viele ukrainische Angriffe zum Erliegen.

Ukrainisches Oberkommando steht unter enormem Druck

Die russischen Truppen haben im Gelände Dutzende unterschiedliche Minentypen verteilt. Selbst für Minenräumexperten sind diese schwer zu erkennen und zu beseitigen. Das verzögert das ukrainische Vorrücken erheblich. Der Erfolg wird teilweise nur in Metern, nicht mehr in Kilometern gemessen.

Inzwischen hat die Armeespitze in Kiew ihre Taktik umgestellt: Statt die russischen Stellungen mit mechanisierten Verbänden mit Panzern – ohne entsprechenden Feuerschutz durch Artillerie und Luftabwehr – zu attackieren und dabei herbe Verluste an Mensch und Material zu erleiden, arbeiten sich nun kleinere Infanteriestoßtrupps Schritt für Schritt, Baumreihe für Baumreihe durch die Minenfelder vor. Genau das hatte US-General Milley prophezeit: eine lange, blutige Schlacht.

Und diese Schlacht droht noch blutiger zu werden, denn Kiew muss früher oder später Erfolge vorweisen, auch deswegen, weil der Westen Fortschritte im Befreiungskampf der Ukrainer erwartet, allen bedingungslosen Solidaritätsbekundungen zum Trotz. Zudem wäre ein jahrelanger Abnutzungskrieg weder der ukrainischen Bevölkerung selbst zuzumuten, noch gegenüber den Waffen liefernden Partnern im Westen vermittelbar. Das ukrainische Oberkommando steht also unter immensem Druck.

US-Verteidigungsminister Lloyd Austin versicherte nun zwar erneut, dass die Verbündeten der Ukraine in ihrer Unterstützung nicht nachlassen würden: "Unsere Arbeit geht weiter, und wir werden alles tun, was wir können, um sicherzustellen, dass die Ukrainer erfolgreich sein können." Aber alles, was kein Erfolg ist, droht zum Problem zu werden. Denn Russlands Herrscher Wladimir Putin spielt auf Zeit. Er setzt genau darauf: auf die Abnutzung der ukrainischen Offensivkräfte und die nachlassende Geduld des Westens.

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"Ihre Vorstöße sind nicht wirklich abgestimmt"

Umso mehr dürfte die Analyse mehrerer renommierter Sicherheitsexperten beunruhigen, die sich in den vergangenen Wochen vor Ort einen Eindruck von der ukrainischen Militärstrategie gemacht haben. Demnach mangelt es der Ukraine nicht nur an ausreichender Munition oder an schwerem westlichem Gerät, wie Fachleute und die ukrainische Regierung nicht müde werden zu betonen. Es gibt offenbar auch zahlreiche militärtaktische Defizite.

"Die ukrainischen Streitkräfte beherrschen immer noch nicht voll umfassend das Gefecht der verbundenen Waffen in größerem Umfang", schreibt etwa Franz-Stefan Gady. "Ihre Vorstöße ähneln eher Einzelaktionen und sind nicht wirklich abgestimmt. Das führt zu einer Reihe an Problemen für die Offensive und ist meines Erachtens einer der Hauptfaktoren für deren schleppenden Verlauf."

Schützenpanzer "Marder" bei Übung.
Schützenpanzer "Marder" bei Übung. (Quelle: IMAGO/Thomas Imo)

Gefecht der verbundenen Waffen

Dabei handelt es sich um ein taktisch-operatives Einsatzkonzept, das in den Armeen der Nato angewandt wird. Grob vereinfacht bedeutet es, dass die unterschiedlichen Teile der Streitkräfte mit ihren jeweiligen Truppen und Fahrzeuggattungen (etwa Panzertruppen und Infanterie) im Gefecht koordiniert zusammenwirken. Kern der Doktrin ist das Zusammenspiel von Beschuss und Bewegung, also insbesondere die Abstimmung von Bodentruppen und Luftwaffe, die den Landstreitkräften Feuerschutz garantieren soll.

Gady ist Politikberater und Analyst am Institute for International Strategic Studies (IISS) in London. Er war mit Rob Lee, einem ehemaligen Marineoffizier und politischen Analysten der US-Denkfabrik Foreign Policy Research Institute (FPRI), dem US-Militäranalysten und Russlandkenner Michael Kofman sowie Konrad Muzyka, einem unabhängigen Verteidigungsexperten, in der Ukraine. Im Kriegsgebiet und in Kiew sprachen sie mit Brigadekommandeuren, Offizieren, Geheimdienstmitarbeitern und Verteidigungspolitikern. Bei Twitter schildert die Expertengruppe als vorläufige Analyse ihre Eindrücke.

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Demnach könne die von den USA gelieferte Streumunition der ukrainischen Gegenoffensive zwar durchaus einen Vorteil verschaffen, allerdings blieben die militärtaktischen Probleme das größte Hindernis für entscheidende Durchbrüche der russischen Linien.

So könne sich am gegenwärtigen Stand der Offensive wohl nur dann etwas ändern, wenn das ukrainische Kommando "systematischere Ansätze" im Bereich des militärtaktischen Vorgehens unternimmt. Oder die Moral auf der russischen Seite entscheidend nachlässt, schreibt Gady.

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Die Quintessenz der Expertengruppe: "Das Narrativ, dass die Gegenoffensive deswegen so langsam vorankommt, weil zu wenige Waffen geliefert werden, ist monokausal und wird von denen, die an der Front kämpfen, nicht gestützt." Mit anderen Worten: Eben jene Erzählung, die häufig von ukrainischen Stellen gestreut wird, stimmt so nicht.

Trübe Aussichten für die Offensivbemühungen der Ukraine

Einen plötzlichen Kollaps der russischen Truppen halten auch die Experten um Gady nicht für wahrscheinlich. "Ich vermute, es wird ein blutiger Abnutzungskrieg bleiben, in den in den kommenden Wochen und Monaten nach und nach auch die Reserveeinheiten geschmissen werden", schreibt Gady. Es sind trübe Aussichten für die Bemühungen der Ukraine.

Zumal viele Analysten die gestiegene Adaptionsfähigkeit der russischen Armee beobachten. Demnach haben sich Putins Truppen im Laufe der vergangenen Monate viel besser auf die Präzisionsschläge ukrainischer Himars eingestellt und ihre elektronische Kriegsführung erheblich verbessert.

So können sie die enorm wichtigen Schläge in die Tiefe, also Angriffe auf die Gebiete hinter der Front, besser abwehren. Auch Gady spricht in dem Zusammenhang von "effektiven Gegenmaßnahmen" der Russen, obwohl sich auch deren Artilleriearsenale zunehmend leerten.

Mentalitätswandel in der ukrainischen Armee eingeleitet

Auf der anderen Seite hat die ukrainische Armee unter dem Oberkommando von General Waleri Saluschnyj in den vergangenen Monaten ebenfalls eindrucksvoll ihre Adaptionsfähigkeit bewiesen. Sie hat es geschafft, gegen eine militärische Übermacht zu bestehen, bis dato inkompatible und zum Großteil ihr unbekannte Waffensysteme zu integrieren und sich Nato-Taktiken im Schnelldurchlauf anzueignen. Auch ihre Moral und Kampfbereitschaft ist nach wie vor hoch.

Von Bedeutung könnte aber auch noch etwas anderes sein: wie schnell der Mentalitätswandel in der ukrainischen Armee voranschreitet. "Das Allerwichtigste, das ich zu verändern versuche, ist die Kultur", sagte Saluschnyj in einem vom ukrainischen Verteidigungsministerium veröffentlichten Video. Er wolle weg vom blinden Befehlsgehorsam, sondern den einzelnen Soldaten und seine Meinung hören.

"Ich halte nichts davon, die Leute fertigzumachen, ich unterdrücke sie nicht, ich demütige sie nicht", sagte er kürzlich in einem Interview mit der "Washington Post". Dadurch unterscheide sich die ukrainische inzwischen fundamental von der russischen Armee, die im Kern immer noch eine sowjetische Armee sei, so Saluschnyj.

Gady und seine Kollegen haben bei ihren Frontbesuchen in der Ukraine durchaus kritische Soldaten getroffen. "Die Soldaten, die wir sprachen, waren sich der Tatsache allzu bewusst, dass unzureichende Taktik, ein Mangel an Koordinierung, bürokratische Hürden und sowjetische Denkmuster den Fortschritt der Offensive lähmen."

Ob die Gegenoffensive der Ukraine Erfolg hat, wird demnach wohl nicht nur davon abhängen, welche und wie viele Waffen der Westen liefert, sondern wie schnell der Kulturwandel innerhalb der Armee vollzogen wird, auch und gerade im militärstrategischen Bereich.

Verwendete Quellen
  • ft.com: "Ukraine’s counteroffensive against Russia in maps — latest updates" (englisch)
  • bbc.com. "Ukraine in maps: Tracking the war with Russia" (englisch)
  • washingtonpost.com. "To defeat Russia, Ukraine’s top commander pushes to fight on his terms" (englisch, kostenpflichtig)
  • nytimes.com: "After Suffering Heavy Losses, Ukrainians Paused to Rethink Strategy" (englisch)
  • abc.net.auc: "The battle to adapt to Russia's evolving war tactics is essential if Ukraine is to emerge victorious" (englisch)
  • washingtonpost.com: "Ukraine’s top general, Valery Zaluzhny, wants shells, planes and patience" (englisch, kostenpflichtig)
  • economist.com. "An interview with General Valery Zaluzhny, head of Ukraine’s armed forces" (englisch, kostenpflichtig)
  • economist.com: "Sappers risk their lives to win Ukraine back, inch by inch" (englisch, kostenpflichtig)
  • Mit Material der Nachrichtenagentur dpa
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