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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Um die Gegenoffensive der Ukraine ranken sich weiterhin viele Gerüchte. Wo die Truppen zuschlagen könnten, erklärt Militärexperte Wolfgang Richter im Video.
Mit einer Gegenoffensive will sich die Ukraine gegen die russischen Besatzer zur Wehr setzen. Zuletzt konnten die Truppen laut der ukrainischen Verteidigungsministerin Geländegewinne bei Bachmut verzeichnen – und somit einen Halbkreis um die Stadt bilden.
Zuvor hatte es gegensätzliche Aussagen bezüglich der Frage gegeben, ob Bachmut von Russen erobert wurde oder nicht. Am Samstag hatte zunächst Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin die Einnahme verkündet, auch das reguläre Militär gab anschließend die Eroberung bekannt. Die Führung in Kiew bestreitet den militärischen Erfolg Moskaus jedoch.
Die Stadt ist seit Langem schwer umkämpft. Parallel zu den Gefechten in Bachmut hat es immer wieder Ankündigungen einer Gegenoffensive aus Kiew gegeben. Bislang waren allerdings keine großen Angriffe zu beobachten.
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Mit einer Gegenoffensive will sich die Ukraine gegen die russische Invasion zur Wehr setzen. Doch wie die konkret aussehen wird, ist weiter unklar. Der Militärexperte Frank Richter erklärt im Gespräch mit t-online vier mögliche Szenarien.
“Ich beginne mal im Südwesten, das ist die Region Cherson. Hier wird es besonders schwer, weil der Dnepr ist ein großer Fluss mit einer sehr großen Breite, im Raum Cherson von etwa einem Kilometer. Da gibt es keine intakten Brücken mehr, die sind alle kaputtgegangen und gesprengt.”
“Das heißt, wer da über den Fluss will, muss das mit Pontonbrücken machen und vielleicht auch mit Voraustruppen, die man per Hubschrauber oder theoretisch sogar mit Fallschirmen absetzt.Das sind aber dann nur leichte Truppen, die sich nicht alleine halten können. Das heißt, man muss mit schwerem Gerät über diesen Fluss gehen, weil das bedeutet, dass man sich auf wenige Übergangspunkte konzentriert, dass man sehr, sehr viel Artilleriefeuer und Luftangriffe braucht.“
“Und das muss überraschend geschehen, das muss schlagartig geschehen und durchschlagend. Insofern ist das eine gewagte Operation. Ich würde sie nicht ausschließen, zumal die Ukrainer offenbar so etwas auch trainieren derzeit.”
“Die andere Richtung wäre die, über die wir seit Monaten diskutieren. Das ist der Stoß nach Süden, der natürlich politisch, strategisch viel Sinn machen würde - von Saporischschja aus in Richtung Asowsches Meer. Das würde den Korridor zwischen dem Donbass und der Krim durchschneiden und damit auch sehr viele logistische Verbindungslinien der Russen durchschneiden und hätte von der Zielsetzung her natürlich einen gewissen Effekt. Aber es wären dann auch, je nachdem, von wo aus man diesen Angriff ansetzt, zwischen 1820 Kilometer im Angriff zu überwinden. Das ist schon eine große operative Strecke.”
“Insofern ist auch das ein riskantes Unternehmen, zumal sich die Russen in diesem Gebiet ja nun lange Zeit vorbereitet haben und tief gestaffelt mit mehreren Verteidigungslinien sich auf diesen Angriff einstellen.”
“Das dritte ist das, worüber wir gerade geredet haben, nämlich der Donbass selbst - mit Bachmut im Moment als Schwerpunkt. Aber nicht nur. Das ist ja im Grunde genommen das gesamte Gebiet zwischen Donezk und Lugansk, um das es hier geht. Das ist der alte Schwerpunkt. Das war sowohl der Schwerpunkt der ukrainischen Verteidigungslinien, eigentlich schon seit 2015, aber es ist eben auch der Schwerpunkt der Russen, auch der politische Schwerpunkt, genau diese Gebiete zu halten.”
“Da würden sich beide Seiten verbeißen, sozusagen in Frontalangriffen. Und das ist natürlich das Ungünstigste, was man tun kann.”
“Und das Vierte, worüber eigentlich offen nicht diskutiert worden ist, ist die vierte operative Richtung im Bereich Charkiw. Da, wo die Ukrainer fast direkt an der russischen Grenze stehen. Wo sich im Moment nicht viel tut, wo aber auf beiden Seiten Truppen natürlich stehen. Theoretisch wäre auch ein solches Szenario denkbar, indem man es vielleicht so macht, wie Israel das gemacht hat 1973. Nämlich durch einen Gegenangriff, der ein territoriales Faustpfand nimmt. Dann in eine Position zu kommen, wo man verhandeln kann und Gebietsaustausche vornehmen kann.”
Sollten die Ukrainer einen der bisherigen Kampfschwerpunkte wählen, könnte das für beide Seiten große Verluste bedeuten, warnt der Experte. Der Überraschungseffekt müsse deshalb mitgedacht werden. Für welches Szenario sich die Ukrainer letztendlich entscheiden, wissen nur sie selbst.
- Eigenes Interview mit dem Militärexperten Wolfgang Richter
- Mit Informationen der Nachrichtenagentur dpa