Sechs Monate Krieg Vor Staatsjubiläum: Selenskyj erwartet "besonders Bösartiges"
Wie feiert eine Nation ihre Unabhängigkeit, die sich seit sechs Monaten im Krieg befindet? Die ukrainische Antwort: vorsichtig, aber entschlossen.
Am Mittwoch feiert die Ukraine zum 31. Mal ihre Unabhängigkeit von Moskau – während das Land unter Beschuss steht wie nie zuvor. Das Jubiläum fällt in diesem Jahr mit einem anderen bedeutenden Tag zusammen: Denn es ist auch der 182. Tag des russischen Angriffskrieges, ein halbes Jahr dauert dieser nun an.
Die ukrainische Seite befürchtet deswegen massivere Angriffe. Etwas "besonders Hässliches, besonders Bösartiges", wie es Präsident Wolodymr Selenskyj formulierte. Doch einschüchtern wollen sich die Ukrainer nicht lassen.
Ukrainischer Militärdienst warnt zur Vorsicht
Man dürfe nicht zulassen, dass Moskau rund um den Unabhängigkeitstag Mutlosigkeit und Angst verbreite, sagte Selenskyj bereits am Samstagabend. "Für den Sieg der Ukraine müssen wir kämpfen, es gibt noch viel zu tun, wir müssen standhalten und noch viel ertragen, leider auch viel Schmerz."
Der ukrainische Militärgeheimdienst mahnte die Bürger dennoch zu erhöhter Vorsicht: "Luftalarm ist ein ernsthaftes Signal, und alle sollten ihn beachten."
Ausgangssperren und Aufrufe zu Vorsicht
Man will vorbereitet sein: In Charkiw, der zweitgrößten Stadt des Landes, wird am Mittwoch eine ganztägige Ausgangssperre herrschen. "Bleiben Sie zu Hause und beachten Sie die Warnungen", schrieb der Gouverneur Oleg Sinegubow auf dem Messengerdienst Telegram.
Die Stadt im Nordosten des Landes ist regelmäßig Ziel russischen Beschusses. Normalerweise gilt eine nächtliche Ausgangssperre, von Dienstag bis Donnerstag wurde diese auf 16.00 bis 7.00 Uhr ausgeweitet. Die Anwohner sollten "so wachsam wie möglich" sein, so der Gouverneur.
Öffentliche Versammlungen in Kiew untersagt
In Mykolajiw im Süden der Ukraine, das nahe russisch besetztem Territorium liegt, ordnete Gouverneur Witaly Kim an, dass die Menschen am Dienstag und Mittwoch möglichst von zu Hause aus arbeiten sollten. Größere Menschenansammlungen sollen zudem vermieden werden.
In Kiew sind bereits seit Montag vorsorglich alle öffentlichen Versammlungen untersagt. Das Verbot gilt bis Donnerstag und betreffe öffentliche Großveranstaltungen, Kundgebungen und andere Zusammenkünfte, erklärten die Behörden.
"So ist unser Feind"
Die Regierung rechnet mit verstärkten Angriffen, nicht nur auf Charkiw, sondern auch auf Kiew und andere Städte, wie Selenskyjs Berater Mychailo Podoljak laut der Nachrichtenagentur Interfax sagte. "So ist unser Feind. Schon in jeder anderen Woche dieses halben Jahres hat Russland so etwas Ekelhaftes und Grausames ständig getan", sagte Selenskyj.
Auch die USA befürchten heftige Angriffe: "Das Außenministerium hat Informationen, dass Russland seine Anstrengungen verstärkt, in den nächsten Tagen in der Ukraine zivile Ziele und Regierungseinrichtungen anzugreifen", heißt es auf der Seite der US-Botschaft in Kiew am Dienstag. US-Bürger wurden erneut aufgerufen, das Land zu verlassen.
"Seit dem 24. Februar hat sich nichts grundlegend geändert"
Für den Fall, dass Russland die Angriffe tatsächlich verstärke, kündigte Selenskyj entschlossene Reaktionen an. Es werde eine mächtige Antwort geben, sagte er am Dienstag vor Journalisten. "Ich möchte das jeden Tag sagen ... diese Antwort wird zunehmen, sie wird stärker und stärker werden." Jeden Tag bestehe die Gefahr neuer russischer Angriffe auf Kiew. "Wir wissen, dass sie in erster Linie auf Infrastruktur oder Regierungsgebäude abzielen, aber seit dem 24. Februar hat sich nichts grundlegend geändert."
Bei der Frage, wie die Ukraine auf einen möglichen russischen Raketenangriff auf Kiew reagieren werde, verwies der Präsident auf die Gleichberechtigung aller Städte und Regionen. Bei einem Angriff auf die Hauptstadt werde genauso reagiert wie bei aktuellen Angriffen andernorts. "Für mich als Präsident und für jeden Ukrainer sind Kiew, Tschernihiw, der Donbass alles dasselbe." Dort lebten überall Ukrainer, sagte Selenskyj und nannte darüber hinaus auch die zuletzt stark umkämpften Städte Charkiw und Saporischschja.
Selenskyj betont die Bedeutung der Krim
Neben den Warnungen an Russland verbreitete der ukrainische Präsident auch Hoffnungen, die Krim wieder in ukrainische Hände bringen zu können. Russland hatte die Halbinsel 2014 annektiert. "Man kann förmlich spüren, dass die Krim dieses Jahr in der Luft liegt, dass die Besetzung dort nur vorübergehend ist und dass die Ukraine zurückkommt", sagte er am Samstag.
Am Dienstag kamen mehr als 50 Teilnehmer aus Europa, Asien, Afrika und Amerika zu einem Online-Gipfel der sogenannten Krim-Plattform zusammen. Dort bekräftige der ukrainische Präsident sein Ziel: "Um den Terror zu überwinden, ist es notwendig, einen Sieg im Kampf gegen die russische Aggression zu erringen. Es ist notwendig, die Krim zu befreien." Dadurch würden Recht und Ordnung in der Welt wiederhergestellt.
Bundeskanzler Olaf Scholz sicherte der Ukraine in einer kurzen Ansprache per Videoschalte bei der Konferenz erneut Unterstützung zu. "Die internationale Gemeinschaft wird Russlands illegale, imperialistische Annexion ukrainischen Territoriums niemals akzeptieren", sagte der SPD-Politiker. Die Partner der Ukraine seien vereint wie nie. "Ich kann Ihnen versichern: Deutschland steht fest an der Seite der Ukraine, solange die Ukraine unsere Unterstützung braucht."
Deutschland werde mit seinen Partnern die Sanktionen gegen Russland aufrechterhalten, finanziell helfen, Waffen liefern und sich auch am Wiederaufbau beteiligen. Scholz wünschte den Ukrainern ein "sicheres" Feiern an ihrem Unabhängigkeitstag.
Es war die zweite derartige Tagung, eine erste hatte 2021 stattgefunden. Kaum ein Staat weltweit hat die russische Annexion als rechtmäßig anerkannt. Zuletzt wurde die Halbinsel, auf der die russische Schwarzmeerflotte stationiert ist, von mehreren Explosionen erschüttert. Dabei sollen unter anderem russische Kampfjets zerstört worden sein. Die Ukraine hat offiziell keine Verantwortung übernommen, es gab allerdings Andeutungen in diese Richtung.
"Grenze, ab der keine Verhandlungen mehr möglich sind"
Selenskyj treibt vor dem Staatsjubiläum noch eine weitere Sorge um: Er warnte Russland davor, Soldaten seines Landes anlässlich des ukrainischen Unabhängigkeitstages vor Gericht zu stellen. "Das wird die Grenze sein, ab der keine Verhandlungen mehr möglich sind", sagte er am Sonntag in seiner abendlichen Videoansprache.
Er verwies auf Medienberichte, wonach es zeitgleich mit dem Unabhängigkeitstag am Mittwoch eine öffentliche russische Gerichtsverhandlung für Kämpfer geben könnte, die während der Belagerung der ukrainischen Hafenstadt Mariupol gefangengenommen worden waren. Es gebe Berichte über entsprechende Vorbereitungen Russlands.
"Wenn dieses verabscheuungswürdige Gericht stattfindet, wenn unsere Leute unter Verletzung aller Vereinbarungen, aller internationalen Regeln in diese Lage gebracht werden, wird es Missbrauch geben", warnte Selenskyj.
- Nachrichtenagenturen dpa, Reuters, AFP