Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Krieg in der Ukraine Putin wurde in die Falle gelockt
Lange wurde sie angekündigt, die ukrainische Großoffensive im Süden des Landes. Doch war das nur eine Kriegsfinte der Ukraine? Ein Überblick über die Lage.
Luftalarm. In der Stadt Kertsch auf der Krim sind am Donnerstagabend Flugabwehrfeuer und Explosionen zu hören. Über der von Russland annektierten Halbinsel wurden offenbar ukrainische Drohnen gesichtet, die russische Armee will nach eigenen Angaben drei Objekte abgeschossen haben. Vor allem der russische Nachschub wird weiterhin immer wieder zum Ziel von ukrainischen Angriffen, Kertsch liegt an der Eisenbahn- und Straßenbrücke – die Lebensader für die Krim, die die Halbinsel mit dem russischen Festland verbindet. Eben diese Brücke macht die Versorgung der russischen Armee an der südlichen Front verwundbar.
Die erneuten Explosionen zeigen: Russische Militäranlagen auf der Krim sind nicht mehr sicher. Der Kreml reagiert auf dieses Sicherheitsproblem und zieht nach Angaben westlicher Geheimdienste einen Teil der Kampfflugzeuge und Hubschrauber von der Halbinsel ab. Das ist ein erneuter Rückschlag für Wladimir Putin im Ukraine-Krieg.
Die Ukraine hat durch moderne Waffensysteme aus dem Westen mit hoher Reichweite nun andere strategische Möglichkeiten. Trotzdem bleibt der Großangriff aus, den die ukrainische Führung schon vor Monaten in der Region Cherson angekündigt hat. Das könnte aber die Strategie der ukrainischen Führung gewesen sein, denn Putins Truppen sitzen im Süden zunehmend in der Falle.
Wichtigste Schlacht in diesem Krieg
Beide Seiten verlegten in den vergangenen Wochen viele Truppen und militärisches Gerät in die Region Cherson. Im Süden sei es ukrainischen Soldaten gelungen, einen Vorstoß russischer Truppen nordöstlich von Cherson zu verhindern, sagte ein ukrainischer Militärexperte am Donnerstag. Präsident Selenskyjs Berater Olexij Arestowytsch erklärte in einer Videobotschaft, derzeit herrsche eine strategische Pattsituation. Seit dem vergangenen Monat seien russische Truppen nur "minimal vorangekommen", und in einigen Fällen hätten die ukrainischen Streitkräfte Boden gutgemacht.
Trotzdem verzeichnete auch die ukrainische Armee kaum Geländegewinne um Cherson. Die Region ist strategisch besonders wichtig und im Süden des Landes könnte sich womöglich das Schicksal der Ukraine im Angesicht des russischen Angriffskrieges entscheiden.
Das hat folgende Gründe:
- Russland braucht die Region für die Versorgung der Krim, zum Beispiel mit Strom und Süßwasser.
- Cherson gilt als Tor zur westlichen Schwarzmeerküste. Zu Kriegsbeginn war es für die Ukraine besonders wichtig, den Vormarsch der russischen Armee im Süden zu stoppen, um unter anderem auch die wichtige Hafenstadt Odessa zu schützen. Sollte die Ukraine vom Schwarzen Meer abgeschnitten werden, wäre das Land mutmaßlich wirtschaftlich nur schwer überlebensfähig.
- Strategisch ist die Kontrolle der Übergänge über den Fluss Dnipro von Bedeutung.
- Die Region ist bedeutend für die Landwirtschaft und damit für die Versorgung des Landes.
- Für beide Seiten hat Cherson auch einen großen symbolischen Wert. Für Russland war es die erste größere ukrainische Stadt, die beim Angriff auf das Nachbarland eingenommen wurde. Dagegen protestierten viele Ukrainer in Cherson gegen die russischen Invasoren und die ukrainische Führung möchte zeigen, dass diese Menschen nicht aufgegeben werden.
Militärisches Schachspiel um Cherson
Das Gelände im Süden der Ukraine ist relativ weitflächig und begünstigt militärisch somit die angreifende Seite. Deswegen gab es in der Region Cherson anfangs ein andauerndes Hin und Her: Wenn beispielsweise die russische Armee einige Dörfer erobern konnte, gelang es der Ukraine oft, sie mit einem Gegenangriff wieder zurückzuerobern.
An einigen Stellen der Front ist dieses militärische Schachspiel noch immer zu beobachten, aber die Lage hat sich grundlegend verändert:
- Die ukrainische Armee hat es in Cherson geschafft, Brücken über den Dnipro zu zerstören. Für die russische Armee ist es gegenwärtig schwierig, Nachschub und Versorgungsgüter auf die westliche Seite des Dnipro zu bringen. Russland ist auf Pontonbrücken angewiesen und das wird zunehmend zum Problem.
- Es ist deutlich mehr Artillerie auf beiden Seiten in Stellung gebracht worden. Durch den Dauerbeschuss wird die Mobilität der Verbände eingeschränkt, Angriffe werden schwieriger.
- Die russischen Soldaten haben sich zur Sicherung der eroberten Region eingegraben und Stellungen befestigt. Bislang konnten ukrainische Vorstöße auf die Stadt Cherson schon in den Vororten gestoppt und zurückgeschlagen werden.
Besonders der Kampf um die genannten Brücken ist erbittert. So haben ukrainische Streitkräfte zuletzt drei Brücken über den Dnipro attackiert, dabei wurde auch die Antonovsky-Brücke getroffen – die letzte und größte Verkehrsader, die den südlichen Teil der Region mit dem nördlichen verbindet. "Diese Schläge erlauben Russland derzeit nicht, die Brücken für den Transport von schwerem Gerät zu nutzen", sagte Nataliya Humenyuk, eine Sprecherin des südlichen Operationskommandos der Ukraine. In den sozialen Netzwerken wurden Videos geteilt, die zeigen sollen, wie eine Brücke von der Ukraine mit Raketen des US-Raketenwerfers HIMARS attackiert wurde.
Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen X-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren X-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.
"Das macht absolut keinen Sinn"
Die Zerstörungen der Brücken werden in der Ukraine zwar als Erfolg gefeiert, aber sie stehen natürlich nicht für eine erfolgreiche Gegenoffensive, denn ukrainische Kräfte müssten natürlich auch den Dnipro überqueren, wenn sie die Region Cherson zurückerobern wollen würden.
Dazu scheint die Ukraine derzeit nicht in der Lage zu sein. Wenn tatsächlich ein Großangriff geplant ist, läuft dem ukrainischen Militär die Zeit davon. Im Herbst erhalten die russischen Truppen mutmaßlich Nachschub an Soldaten, weil Wehrdienstleistende Verträge als Berufssoldaten bekommen können. Außerdem beginnt dann die Regenzeit, im weitläufigen Gelände der Südukraine bleiben die Panzer dann im Matsch stecken. Während Putin damit droht, die Region Cherson mit einem Referendum im September zu annektieren, werden Angriffe mit Beginn der kälteren Jahreszeit kaum noch möglich sein.
War die Ankündigung der ukrainischen Großoffensive also nur eine Finte oder hat sich die Ukraine überschätzt? "Ich bin ehrlich zu Ihnen: Ich weiß es nicht, aber das ist etwas, das mich verrückt macht“, erklärte Konrad Muzyka, ein Militäranalyst und Direktor von "Rochan Consulting" der US-Zeitung "Politico". Experten wie Muzyka wissen nicht, warum die Ukraine diesen vermeintlichen Angriff so offen kommunizierte, weil Russland deshalb natürlich Truppen in den Süden verlegte. "Aus militärischer Sicht macht das absolut keinen Sinn."
Embed
Strategischer Erfolg für die Ukraine
Ob nun die ukrainische Armee aus fehlender Kraft oder aufgrund einer Kriegslist auf den Großangriff verzichtete, lässt sich aktuell noch nicht sagen. Sie verfügt zwar über viele Soldaten und Freiwillige, die in kurzer Zeit an der Waffe ausgebildet wurden, aber der Ukraine fehlt es noch immer an Waffen und schwerem Gerät. Das macht einen Angriffsplan unwahrscheinlicher.
Das ist auch eine bittere Lektion, die beide Seiten in diesem Krieg bisher lernen mussten: Im Kampf gegen moderne Waffen und Artillerie bringt es nichts, Tausende Soldaten auf einen Punkt in der Front zu schicken. Sie werden zu Kanonenfutter, die Verluste sind immens. Auch das erklärt die gegenwärtige Pattsituation im Süden.
Mit Blick auf den Ukraine-Krieg und das beeindruckende Durchhaltevermögen der ukrainischen Armee vergessen Beobachter gelegentlich, dass trotz westlicher Waffenlieferung dort noch immer ein großes militärisches Ungleichgewicht herrscht – zugunsten Putins.
Deshalb kann der aktuelle Kriegsverlauf und der ausgebliebene Großangriff auf den Süden als Erfolg gewertet werden:
- Im Osten stand die ukrainische Armee extrem unter Druck, Russland konnte seine Truppen dort logistisch deutlich besser versorgen. Mit der Ankündigung des Angriffs hat die Ukraine den Kreml dazu gezwungen, Truppen in den Süden zu verlegen. Das entlastete die östliche Front und im Süden hat die russische Armee größere Logistikprobleme.
- Es war das erste Mal in diesem Krieg, dass Russland auf eine Aktion der Ukraine reagieren musste. Vorher bestimmte immer die russische Militärführung, wo gekämpft wird.
- Die jetzige militärische Lage bindet einen großen Teil der russischen Truppen im Süden und verhindert gleichzeitig, dass Russland selbst dort Geländegewinne erzielen kann, weil Versorgungslinien mit Raketenwerfern und Drohnen besser angreifbar sind.
"Langsame Zerschlagung" der russischen Streitkräfte
Selbst wenn die angekündigte Großoffensive der Ukraine nur eine Kriegslist war, es war trotzdem eine strategische Meisterleistung. Moskau zu zwingen, seine Schwerpunkte und seine Soldaten zu verlagern, sollte als "ein ziemlicher Erfolg" betrachtet werden, meinte auch Mykola Bielieskov, wissenschaftlicher Mitarbeiter am ukrainischen "Nationalen Institut für strategische Studien", im Gespräch mit "Politico". "Es ist das erste Mal in dem Krieg, dass Russland seine Pläne aufgrund des Vorgehens der Ukraine korrigiert", sagte er. "Vorher lag die Initiative ausschließlich in russischen Händen."
Der Experte ist sich sicher, dass ein Großangriff auf Cherson ein Fehler gewesen wäre, weil der Ukraine dafür die Waffen fehlen würden. Trotzdem wären Putins Angriffspläne "zunichte gemacht worden".
Natürlich kann die Ukraine wahrscheinlich nicht bis Herbst die Befreiung von Cherson feiern und eventuell muss Präsident Wolodymyr Selenskyj dabei zuschauen, wie dort von Russland mutmaßlich gefälschte Referenden durchgeführt werden. Militärstrategisch hat die Ukraine aber die russische Armee in eine Falle gelockt.
Russische Angriffe werden über den Dnipro sehr verlustreich, wogegen der Nachschub der russischen Truppen mit modernen westlichen Waffen aus der Entfernung angegriffen werden kann und Partisanen auf der von Russland besetzten Seite der Region Cherson Anschläge und Sabotageakte verüben können. Das macht die Situation im Süden der Ukraine für Putin prekär und die Besetzung der Region zur Belastung für die Kampfmoral seiner Soldaten.
Es geht für die Ukraine demnach weniger um einen Großangriff auf breiter Front, sondern laut Analyst Bielieskov um die "langsame und methodische" Zerschlagung der russischen Streitkräfte. Im Rahmen der Möglichkeiten der ukrainischen Verteidiger erscheint das auch als einzig denkbares Szenario.
- politico.com: "Ukraine has telegraphed its big counteroffensive for months. So where is it?" (englisch)
- washingtonpost.com: "On the Kherson front lines, little sign of a Ukrainian offensive" (englisch)
- forreignaffairs.com: "Playing With Fire in Ukraine" (englisch)
- nytimes.com: "Ukraine Claims Strike on Russian Mercenary Base" (englisch)
- handelsblatt.com: "Krieg mit Russland geht in die dritte Phase: Die Ukraine schlägt zurück"
- spiegel.de: "Warum eine Offensive im Süden riskant ist – aber nicht chancenlos"
- nzz.ch: "Für eine Offensive im Süden brauchen die Ukrainer andere Fähigkeiten als im Verteidigungskampf"
- tagesspiegel.de: "Das Rätsel der ausbleibenden ukrainischen Offensive im Süden"
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und afp