Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Wer hätte das gedacht?
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
wir ahnten nichts, damals im September 2019. Von Peking flogen wir im Regierungsjet der Luftwaffe nach Wuhan, eine dieser Megastädte in Zentralchina. Vom Flughafen ging es eine gefühlte Ewigkeit über Autobahnen, Hochstraßen, Brücken. Irgendwann tauchte am Horizont ein graues Band auf; man musste den Kopf nach links und rechts wenden, um es vollständig zu erfassen. Ein Wald? Eine Fata Morgana?
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Beim Näherkommen bekam das Grau Strukturen: Es waren Türme. Hunderte Türme. Wie gesichtslose Riesen ragten die Wolkenkratzer in den stahlblauen Herbsthimmel. Mehr als 12 Millionen Menschen lebten damals in Wuhan; heute sind es schon mehr als 13 Millionen. Der Jangtse fläzt sich breit wie ein Binnenmeer durch die Stadt und teilt sie in zwei Hälften.
Auf der Brücke über den Fluss stoppte die Kolonne plötzlich: Die Kanzlerin sprang aus ihrer Limousine und postierte sich an der Brüstung. Die Pressefotografen knipsten um die Wette. Es kam nicht oft vor, dass Angela Merkel sich so geduldig an einem exotischen Ort ablichten ließ, aber hier gefiel es ihr. Sie wollte dieses Bild in den Medien sehen: Die in aller Welt geachtete Bundeskanzlerin auf dem Höhepunkt ihrer Wirkungskraft, auf der Brücke über dem Strom, in dem einst Mao schwamm. Merkels Neugier auf China war augenfällig, in kleiner Runde erzählte sie staunend, fast ehrfürchtig von der jahrtausendealten Geschichte des Riesenreichs, berichtete von ihren Gesprächen mit Parteibossen und versuchte sie zu charakterisieren. Kein Land faszinierte sie so wie dieses, sie reiste jedes Jahr dorthin, nahm deutsche Wirtschaftsbosse mit, sah über Chinas aggressiven Expansionsdrang geflissentlich hinweg.
Nach dem Brückenstopp besuchten wir eine Universität, in der mehrere chinesische Studenten die Kanzlerin in fließendem Deutsch befragten. Wir staunten. Weiter ging es in ein riesiges Krankenhaus: von der Patientenaufnahme bis zur Therapie alles durchdigitalisiert. Wir staunten wieder. Schließlich in ein Luxushotel in der Innenstadt und in eine Fabrik für Autozubehör, nicht weit von einem großen Tiermarkt entfernt. Schwüle Luft, fremde Gerüche, faszinierend das alles. So viele Menschen auf so engem Raum, so andere Sitten.
Heute wissen wir: Damals, im September 2019, war nicht nur Angela Merkel auf dem Zenit ihres Ansehens und Deutschland noch ein unbeschwertes Land, das nahezu Vollbeschäftigung, wachsenden Wohlstand und weitgehende Sorglosigkeit genoss. Die Welt schien ebenfalls halbwegs im Lot zu sein. China sowieso. Schöner Schein.
Zwei Monate später mussten die chinesischen Behörden den Ausbruch einer neuartigen Lungenkrankheit in Wuhan bestätigen. Erste Meldungen in den Nachrichten, dann immer mehr Schlagzeilen, Infektionsfälle in Italien – und schließlich auch hierzulande der Alarm: Heute vor fünf Jahren, am 28. Januar 2020, wurde der erste Fall mit dem neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 in Deutschland von einem Labor bestätigt. Zwei Tage später rief die Weltgesundheitsorganisation eine internationale Gesundheitsnotlage aus.
Dann ging alles sehr schnell: Immer mehr Infizierte, immer mehr Todesfälle, panische Politiker, aufgeregte Medien, verunsicherte Bürger. Am 9. März stürzten die Börsenkurse ins Bodenlose, Staaten gerieten ins Taumeln, die Welt stand am Abgrund. Am 22. März trat in Deutschland der erste Lockdown in Kraft. Anfangs machte die Mehrheit der Menschen solidarisch, fast gut gelaunt mit. Aber je länger der Ausnahmezustand dauerte, je krasser der Digitalisierungsrückstand zutage trat, je erratischer die Politiker entschieden, je mehr Lügen durch die sozialen Medien waberten, je schriller manche Medien kommentierten und je mehr Leute von den Folgen der Lockdowns beeinträchtigt wurden, desto stärker wuchs der Unmut. Irgendjemand musste ja schuld sein an dem Schlamassel! Also suchte man sich Schuldige: die Chinesen. Merkel. Bill Gates. Die Lügenpresse. Den Nachbarn, der immer so komisch guckt. Wen auch immer.
Was hat das Land gelernt aus der größten Krise seit 80 Jahren? Ich fürchte: leider zu wenig. Noch immer reagieren wir zu träge auf gefährliche Erreger, siehe Vogelgrippe. Noch immer gibt es kein umfassendes Register für Gesundheitsdaten und noch immer arbeiten viele Behörden in den Bundesländern aneinander vorbei. Die Chefs von X, Facebook, TikTok und Telegram dürfen die Öffentlichkeit mit noch mehr Gerüchten verunsichern und mit noch mehr Lügen aufstacheln. Noch immer gibt es keinen schlüssigen Plan, wie man aus der fiesen Zwickmühle einer Pandemie herauskommt: Wie schützt man Risikopatienten und Senioren, ohne Schulkinder, Studenten und Angestellte in Branchen mit Publikumsverkehr hart zu benachteiligen? Wie führt man gesellschaftliche Debatten über kontroverse Themen wie das Impfen, ohne dass sie in verbale Schlachten ausarten? Wie lassen sich immer häufigere Großkrisen bewältigen, ohne dass die Gesellschaft sich weiter polarisiert?
Manche Antworten hätten längst gegeben werden können. Doch die Bundespolitik war bisher nicht in der Lage, die Corona-Zeit angemessen aufzuarbeiten: Weder eine Enquete-Kommission noch einen Untersuchungsausschuss noch einen Bürgerrat brachte sie zustande, ein weiteres Versagen der Ampelkoalition. Nun will Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Aufarbeitung nach der Bundestagswahl notfalls selbst in die Wege leiten: "Wenn eine neue Regierung und ein neuer Bundestag sich dieser Aufgabe tatsächlich nicht widmen sollten, werde ich das tun", hat er angekündigt. Gut so. Auch wenn viele Menschen wohl nicht mehr aus ihrem Wutlabyrinth herausfinden werden.
Der Corona-Zorn hat bei manchen Zeitgenossen pathologische Züge angenommen. Das hat individuelle Gründe, aber sicher auch administrative und kommunikative. Journalisten haben über kaum ein Thema so umfangreich berichtet wie über Corona. Oft schnell, präzise und hintergründig. Manchmal jedoch verkürzt, polemisch, einseitig. Auch wir bei t-online haben wohl nicht alles richtig gemacht, gelegentlich übertrieben, manchmal unausgewogen berichtet. Aber rechtfertigt das Beschimpfungen, Hetze, Morddrohungen? Schon übel, was da alles im Mail-Postfach landete.
In den vergangenen Tagen macht wieder einmal die Labor-Theorie die Runde: Das Virus sei nicht auf dem Tiermarkt von Wuhan ausgebrochen, sondern aus einem Forschungszentrum entwichen. Seit Herr Trump wieder im Weißen Haus sitzt, verbreitet die CIA entsprechende Vermutungen – und die Chinesen weisen sie barsch zurück. Vermutlich wird man nie erfahren, was wirklich stimmt; die Pekinger Diktatoren haben jede unabhängige Aufklärung erschwert. Auch das heizt die Gerüchteküche an.
Andere Schäden sind noch größer. Jugendliche, die monatelang auf Freunde, Sport und geregelten Schulunterricht verzichten mussten, haben heute noch mit den Folgen zu kämpfen. Viele meiden Sozialkontakte, verkriechen sich zu Hause, vergeuden ihre Zeit auf TikTok, leiden unter Belastungsstörungen. Als Gesellschaft haben wir die Alten geschützt, aber eine Generation von Einzelgängern herangezogen.
Und das Virus, wie gefährlich ist es heute noch? "Covid ist immer noch keine normale Erkältung", sagt der Virologe Christian Drosten. "Viele Patienten fühlen sich sehr krank, wenn sie infiziert sind." Die Sterblichkeit sei allerdings dank der Immunität durch Impfungen und überstandene Infektionen stark gesunken und heute vergleichbar mit der Grippe. "Ich kann mir gut vorstellen, dass auch dieser Erreger sich nach einigen weiteren Jahren beruhigt", sagt Drosten. "Aber vielleicht sind es auch Jahrzehnte."
Nun wissen wir also, wie sich das anfühlt, eine Pandemie. Bleibt die Hoffnung, dass wir bei der nächsten Seuche wenigstens ein paar der vielen Fehler nicht wiederholen. Wappnen sollten wir uns schon jetzt. Dringend. "Unsere Realität ist nicht mehr so, dass Pandemien seltene Schockereignisse darstellen, sondern eine ständige, reale Gefahr", hieß es kürzlich in einem Bericht internationaler Krisenforscher. "Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass Pandemien seltene Ereignisse sind, die einmal in einem Jahrhundert auftreten. Wir müssen uns eingestehen, dass wir immer gefährdet sind." Wer hätte das gedacht, damals im September 2019 unter dem stahlblauen Himmel von Wuhan?
Ohrenschmaus
Wenn ich abends den Tagesanbruch schrieb, hörte ich in der Corona-Zeit oft diesen Klassiker. Hat vielleicht abgefärbt.
Fico unter Druck
In der Slowakei gerät Ministerpräsident Robert Fico immer stärker unter Druck. Zum einen erreichen die Proteste gegen den russlandfreundlichen Regierungschef rekordverdächtige Ausmaße – allein in der Hauptstadt Bratislava gingen am vergangenen Wochenende 60.000 Menschen auf die Straße, insgesamt demonstrierten in dem 5,5-Millionen-Einwohner-Land rund 100.000 Menschen gegen "Orbánisierung" und die Abkehr von westlichen Werten.
Zum anderen steckt das Drei-Parteien-Bündnis des linksnationalen Populisten, der die Slowakei seit 2023 in seiner vierten Amtszeit regiert, in der Dauerkrise: Schon vor Monaten brach die Fraktion eines Koalitionspartners auseinander – nun haben sich auch noch beim zweiten Koalitionspartner vier Rebellen abgespalten. Enthalten sie sich im Parlament der Stimme, verfügt die Regierungskoalition über keine eigene Mehrheit mehr.
Einen Rücktritt lehnt der 60-jährige Premier, der im Mai vergangenen Jahres ein Attentat überlebte, bislang jedoch genauso ab wie Neuwahlen. Stattdessen wittert er ausländische Einmischung hinter den Demonstrationen und droht mit Ausweisung seiner Kritiker. Die nächsten Protestaktionen sind für den 7. Februar geplant.
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Vielleicht hören wir sie zum letzten Mal: Holocaust-Überlebende haben beim Gedenken in Auschwitz der Welt ins Gewissen geredet. Mein Kollege Marc von Lüpke war dabei.
Die AfD soll verboten werden, fordern 124 Bundestagsabgeordnete. Geht es ihnen um den Schutz der Demokratie oder um den Schutz vor der politischen Konkurrenz? Unser Kolumnist Uwe Vorkötter schaut genauer hin.
Immer wieder greift die russische Schattenflotte wichtige Unterseekabel an. US-Behörden warnen vor einem katastrophalen Schlag, schreibt mein Kollege Jakob Hartung.
ChatGPT ist in aller Munde, wenn es um künstliche Intelligenz geht. Nun kommt plötzlich eine ganz neue Software aus China – und die amerikanischen Börsenhelden stürzen ab. Unser Finanzredakteur Leon Bensch hat die Details.
Zum Schluss
Erinnern Sie sich noch an diesen Corona-Ulk? Zum Schreien komisch!
Ich wünsche Ihnen einen fröhlichen Tag.
Herzliche Grüße und bis morgen
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
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Mit Material von dpa.